Alana Haim und Hooper Hoffman in „Licorice Pizza“
Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc.
„Licorice Pizza“

Im Laufschritt durch die 70er Jahre

In Paul Thomas Andersons neuem Film geben eine Musikerin und der Sohn eines Oscar-Preisträgers ihr grandioses Schauspieldebüt und sorgen für jene magischen Kinomomente, auf die das pandemiegebeutelte Publikum sehnsüchtig gewartet hat. „Licorice Pizza“ ist eine romantisch-schräge Tragikomödie über das Erwachsenwerden in den 70ern zwischen Vinylplatten, Liebeskummer und Ölkrise.

Als verlässlicher Garant für hochwertige Kinounterhaltung bringt Regisseur Anderson („Boogie Nights“, „Magnolia“, „The Master“) alle paar Jahre einen neuen, herausragenden Film auf die große Leinwand. Mit „Licorice Pizza“ ist ihm diesmal eine charmante Reise zurück in die 70er Jahre gelungen, wo sich zwischen dem Teenager Gary Valentine (gespielt von Cooper Hoffman, Sohn des verstorbenen Oscar-Preisträgers Philip Seymour Hoffman) und der Mittzwanzigerin Alana Kane (gespielt von der Musikerin Alana Haim aus der Schwesternband Haim) eine ungewöhnliche Freundschaft entwickelt.

Passend zu den Klängen von David Bowies „Life on Mars“ erscheint Gary der zehn Jahre älteren Alana tatsächlich wie ein Wesen von einem anderen Stern, als die beiden einander kennenlernen. Wer ist dieser selbstbewusste, nicht besonders gut aussehende, aber umso witzigere 15-Jährige, der ihr hartnäckig den Hof macht? Beim ersten Date, das – worauf Alana besteht – kein Date ist, kann Gary immerhin die Rechnung übernehmen, verdient er sein Geld doch bereits als Schauspieler und PR-Agent.

Inspiriert von seinem eigenen Aufwachsen im kalifornischen San Fernando Valley, nordwestlich von Los Angeles, erzählt Paul Thomas Anderson in losen, aneinandergereihten Anekdoten von einer Zeit, als es – wie der Regisseur in einem Interview sagte – genügte, Ehrgeiz und eine Vision zu haben, um im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine Karriere zu starten.

Amerikanischer Traum auf zwei Beinen

So strotzt auch der umtriebige Gary nur so vor Unternehmergeist, gründet – als sich seine Karriere als TV-Kinderstar dem Ende zuneigt – ein Wasserbetten-Franchise, eröffnet eine Spielhalle mit Flipperautomaten und coacht Alana, die ebenfalls ihr Glück als Schauspielerin versuchen will: Gary ist der amerikanische Traum auf zwei Beinen und in einem schlecht sitzenden Anzug. Unerschrocken und unbeirrt verfolgt er seine Träume, egal ob im Beruf oder in der Liebe.

Cooper Hoffman in „Licorice Pizza“
Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc.
Bereit, die Welt aus den Angeln zu heben: Gary Valentine (Cooper Hoffman)

Denn dass Alana die Frau ist, die er einmal heiraten wird, steht für ihn außer Frage. Bis dahin liegt allerdings noch ein weiter Weg des Scheiterns und Wiederaufstehens vor den beiden, die sich nicht nur mit ihrem komplizierten Beziehungsstatus, sondern auch mit der aufkommenden Ölpreiskrise, abgehalfterten Filmstars, gewissenlosen Politikern und ihren chaotischen Familien herumschlagen müssen.

It’s a Family Affair

Apropos Familien: Die Kinder des Regisseurs spielen genauso im Film mit wie die Familie von Alana Haim, deren Eltern und Schwestern sich selbst verkörpern, jene beiden Schwestern übrigens, mit denen die Schauspieldebütantin 2012 die erfolgreiche Rock-Pop-Band Haim gegründet hat. In kleinen Rollen sind außerdem Andersons Lebensgefährtin Maya Rudolph und der Vater von Leonardo DiCaprio zu sehen. Nicht zu vergessen die Hollywood-Stars Bradley Cooper und Sean Penn sowie Sänger Tom Waits, die mit ihren durchgeknallten Gastauftritten für Gelächter im Kinosaal sorgen werden.

Der Mut, zwei absolute Newcomer in den Hauptrollen zu casten, hat sich für Anderson jedenfalls bezahlt gemacht. Die US-Kritik überschlug sich mit Lobeshymnen für die Leistungen von Haim und Hoffman, die sich bereits über Golden-Globe-Nominierungen freuen durften und auch für die Oscarverleihung im März im Gespräch sind. Mit welcher Leichtigkeit die beiden ihre Beziehung – eine Mischung aus Freundschaft, Verliebtsein, Genervtheit und Komplizenschaft – auf die Leinwand bringen, ist faszinierend.

Alana Haim und Sean Penn in „Licorice Pizza“
Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc.
Hollywood-Haudegen Sean Penn hat einen Gastauftritt als exzentrischer Filmstar

Mit seinen bisher acht Spielfilmen war Anderson als Regisseur und Drehbuchautor insgesamt achtmal für einen Oscar nominiert. Sein Neo-Western „There Will Be Blood“ brachte Hauptdarsteller Daniel Day-Lewis 2008 einen Academy Award ein. 2018 waren Day-Lewis und Anderson mit dem Drama „Der seidene Faden“ wieder im Oscar-Rennen. Jetzt kann Anderson im neunten Anlauf vielleicht mit seinem bisher lustigsten Film überzeugen. Ein gutes Vorzeichen: Das American Film Institute wählte „Licorice Pizza“ im Dezember schon mal zu den zehn besten Filmen des Jahres 2021. Die Nominierungen für die diesjährige Oscar-Verleihung (27. März) werden am 8. Februar bekanntgegeben.

Nostalgisch, nicht sentimental

Gedreht wurde der Film auf 35 mm, wohl eine Verneigung des Regisseurs vor der Kunstform Kino. Mit langen Sequenzen, in denen man teilweise nur zwei Menschen aufeinander zu oder nebeneinander laufen sieht, schafft der Regisseur eine Grundstimmung, die man schlicht als „Flow“ bezeichnen kann. Begegnungen, Geschichten, Dialoge fließen ineinander und transportieren das Lebensgefühl der 70er Jahre authentisch und mit Witz. Ja, es ist ein Blick zurück voller Nostalgie, aber ohne Sentimentalität oder Kitsch.

Anderson zeichnet seine Figuren mit Wärme und Optimismus und lässt sie – trotz teilweise erbarmungslos-unvorteilhafter Großaufnahmen – in ihrer ganzen Persönlichkeit erstrahlen. Der Titel des Films bezieht sich einerseits auf eine damals populäre Plattenladenkette in Südkalifornien, andererseits spielt Anderson mit den Worten „Lakritze“ und „Pizza“, in Anlehnung an seine Kindheit in den 70ern. „Licorice Pizza“ ist der erste Lichtblick in diesem vielversprechenden Kinojahr, ein entspanntes Meisterwerk, das man sich ruhig auch ein zweites Mal anschauen kann.