Ukrainischer Soldat
AP/Andriy Dubchak
Ukraine-Krise

Zwischen Krieg und Deeskalation

Die Ukraine-Krise ist zu einem Kräftemessen mehrerer Weltanschauungen geworden. Moskau findet, der Westen habe die russische Einflusssphäre in Mittel- und Osteuropa zu respektieren. Doch auch innerhalb der NATO-Staaten gibt es unterschiedliche Stoßrichtungen, was einen potenziellen Einmarsch Russlands in der Ukraine anlangt. Während sich die USA auf Krieg vorbereiten, bemüht sich die EU um Deeskalation.

In den Gesprächen zwischen den EU-Ländern und ihren US-Verbündeten gab es eine zentrale Botschaft: Es geht um „europäische und transatlantische Einigkeit“, wie Spaniens Außenminister Jose Manuel Albares etwa gegenüber dem Brüssel-Magazin „Politico“ erklärte. „Es gab eine große Demonstration der Einigkeit unter den Europäern, aber auch zusammen mit den Amerikanern“, so sein niederländischer Amtskollege Wopke Hoekstra.

Dieselbe Botschaft wurde verbreitet, nachdem US-Präsident Joe Biden in den letzten Tagen diverse Telefonate mit den Staats- und Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Polens und Italiens sowie mit den Präsidenten des Europäischen Rates und der Kommission geführt hatte.

Einschätzung der Lage unterschiedlich

Weniger aus den Worten, wohl aber aus den verschiedenen Handlungen Brüssels und Washingtons wird jedoch deutlich, dass beide Seiten die Gefahr eines russischen Angriffs auf die Ukraine anders einschätzen. Das Pentagon versetzte von einem Tag auf den anderen 8.500 Soldatinnen und Soldaten, die im Falle eines russischen Angriffs nach Osteuropa entsandt werden sollen, in „erhöhte Alarmbereitschaft“, nachdem die Außer-Landes-Bringung der Familien von US-Botschaftsangehörigen in der Ukraine angeordnet wurde.

Ukrainischer Soldat
AP/Andriy Dubchak
Die Zeichen in der Ukraine stehen auf Verteidigung

Im Gegensatz dazu beschlossen die EU-Länder, ihre Botschaften vorerst nicht zu evakuieren. Die Minister und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell betonten, sie sähen keine unmittelbare Gefahr. „Wir werden nicht dasselbe tun (wie die USA, Anm.), weil wir keine konkreten Gründe kennen“, so Borrell.

Nach Gesprächen mit US-Außenminister Antony Blinken wurde Borrell gefragt, ob die USA irgendwelche Informationen weitergegeben hätten, die auf ein erhöhtes Risiko einer russischen Aggression im Vergleich zu davor hinwiesen: „Ich glaube nicht, dass es irgendetwas Neues gibt oder dass das Gefühl der Angst vor einem unmittelbaren Angriff verstärkt werden kann“, so der EU-Außenbeauftragte.

„Nicht schon das Ende der Geschichte schreiben“

Die EU-Ministerinnen und -Minister sowie diverse Beraterinnen und -Berater betonten stattdessen, sie hielten eine diplomatische Lösung weiterhin für möglich. „In einer Krisensituation kann sich alles sehr schnell entwickeln, sodass wir vorsichtig sein müssen, nicht schon das Ende der Geschichte zu schreiben“, so ein Insider aus dem Elysee-Palast zu „Politico“.

Stationierte Einsatzkräfte der russischen Armee in Woronesch.
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Russland hat schon länger seine Truppen an der Grenze zur Ukraine stationiert

Die europäischen Außenminister wiesen bei ihrem Treffen auch auf das Risiko hin, dass die hohen Energiepreise, die Inflation und die schwierige Wirtschaftslage in der Ukraine eher zu einer Revolte als zu einem Militärputsch führen könnten – allerdings mit dem gleichen Ergebnis, dass eine prorussische Regierung in Kiew die Macht übernimmt. Die EU-Ministerinnen und -Minister betonten, das Hilfspaket der EU-Kommission in der Höhe von 1,2 Milliarden Euro in Form einer finanziellen Soforthilfe plus 120 Millionen Euro zusätzlicher Zuschüsse sei daher von entscheidender Bedeutung.

Krim und Donbass bereits erreicht

Wie auch immer die Einschätzungen des Westens ausfallen, der russische Präsident Wladimir Putin hat es jedenfalls geschafft, Diplomatinnen und Diplomaten aller Seiten auf Trab zu halten. Alles begann mit der Verlegung größerer Truppenkontingente in die Nähe der russischen Grenze zur Ukraine – mittlerweile sollen es rund 100.000 Soldatinnen und Soldaten sein. Militärübungen sind angekündigt. Über Truppenbewegungen lässt der Kreml den Westen allerdings im Dunkeln – nur Berichte von dort sowie Luft- und Satellitenbilder sowie private Social-Media-Postings lassen auf eine große Militärpräsenz schließen.

Aber selbst wenn Russland nicht (weiter) in ukrainisches Gebiet einmarschiert, hat der Staat aus Sicht des Kremls militärisch in Europa bereits einiges erreicht. Einerseits ist da die Krim, die Russland 2014 annektiert hatte. Andererseits unterstützt Moskau prorussische ukrainische Separatisten, die in der Donbass-Region gegen die Kiewer Regierung kämpfen. In diesem stillen Krieg kamen bereits 14.000 Menschen ums Leben, mehr als 3.000 davon Zivilpersonen.

Russlands Gründe

In der aktuellen Situation fordert Putin von der NATO Sicherheitsgarantien und die Zusage, dass sich das Bündnis nicht weiter nach Osten ausdehnt, was aber dem Wunsch der Ukraine als potenzielles Mitgliedsland entsprechen würde. Solange diese Möglichkeit im Raum steht, gibt Moskau vor, sich nicht von den Grenzen wegbewegen zu wollen.

Hinzu kommen Entwicklungen, die aus russischer Sicht ein Handeln in der Ukraine dringlich erscheinen lassen: Kiew erhält bereits seit Jahren Panzerabwehrraketen aus den USA. Inzwischen sind aber auch türkische Drohnen im Einsatz und Großbritannien plant den Bau von Militärschiffen für die ukrainische Marine. Die ukrainische Armee könnte sich so theoretisch besser gegen Russland wehren. Gelegen kommt dem Kreml wohl auch, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in der eigenen Bevölkerung zunehmend an Vertrauen verliert.

Alles nur Show?

Es überrascht daher nicht, dass die USA und Europa zunächst in Form von Sanktionen reagieren wollen – beziehungsweise damit drohen. Die Staats- und Regierungschefs der EU vereinbarten eine Verlängerung der bereits bestehenden Sanktionen gegen Russland um sechs Monate bis Ende Juli. Uneinigkeit gibt es allerdings bei den Themen „Nord Stream 2“ und möglichen Lieferungen von Waffen zur Verteidigung an die Ukraine.

Der russische Präsident Vladimir Putin
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Putin versetzt Europa und die USA seit Wochen in Alarmbereitschaft

Auch US-Präsident Joe Biden schaltete sich ein und warnte seinen russischen Amtskollegen in öffentlichkeitswirksamen bilateralen Gesprächen vor einem Einmarsch in die Ukraine. „Was aber, wenn diese diplomatische Show genau das war, was Putin mit seinem Schritt erreichen wollte?“, fragte etwa das Newsportal „Foreign Policy“ („FP“). „Was, wenn der Westen ihm in die Hände spielte, indem er versuchte, ihn abzuschrecken? Was wäre, wenn der Westen tatsächlich in seine sorgfältig ausgelegte Falle tappt?“

Auch die ukrainische Führung spielt die Gefahr herunter. Einige Analystinnen und Analysten meinen, die Führung agiere so, um die ukrainischen Märkte stabil zu halten, Panik zu vermeiden und Moskau nicht zu provozieren. Andere führen die kalmierende Einstellung Kiews darauf zurück, dass das Land mit Unbehagen akzeptiert, dass der Konflikt mit Russland Teil der täglichen Existenz der Ukraine ist.

„Durch Propaganda kollektive Paranoia schüren“

Schließlich liegen die Fakten des Putin-Regimes auf dem Tisch: Die Wirtschaft, die überwiegend vom Rohstoffexport abhängt, ist weit davon entfernt zu florieren. Zudem scheint es keine wirklichen Bemühungen zu geben, das zu ändern. Obwohl sich Russland über eine riesengroße Fläche erstreckt, ist das Land weitgehend undicht bevölkert und karg. Russlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) ähnelt dem einer mittelgroßen Volkswirtschaft, vergleichbar etwa mit Spanien.

Das Bevölkerungswachstum geht zurück, der soziale Wohlstand ebenso. Der Kreml scheint es aufgegeben zu haben, eine Politik zu verfolgen, die den Erwartungen der Bevölkerung gerecht wird. Stattdessen scheint er sich auf die mittelfristige Selbsterhaltung des Putin-Regimes zu konzentrieren.

Vor diesem Hintergrund habe Moskau, so etwa die Theorie von „FP“, nur nach alternativen Mitteln gesucht, um seine Legitimität zu untermauern, etwa indem es sich als Nachfolger der Sowjetunion präsentiert: „Durch Propaganda eine kollektive Paranoia schüren, die sich auf die Perfidie des Westens konzentriert und den Glauben der Bevölkerung an Russlands Status als Supermacht stärkt.“ Putin hat schon jetzt zumindest eines erreicht: Die USA und Europa nehmen ihn sehr ernst – und das ist immer ein gutes Narrativ zu Hause.