Menschen in einem Lavendelfeld schauen auf ihre Smartphones.
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Weggescrollt

Kollektiver Krampf mit der Aufmerksamkeit

Viele Menschen haben das Gefühl, dass ihnen die Fähigkeit für tiefe Konzentration schleichend abhandenkommt. Als Hauptverdächtiger wird oft das Smartphone ausgemacht. Und dieses trägt zweifelsohne Schuld – aber nicht ausschließlich. Ein neues Buch widmet sich dem kollektiven Ringen um die Aufmerksamkeit, stellt die Frage nach deren Rückeroberung und trifft dabei den Nerv der Zeit.

Jeder kennt es, kaum einer findet es gut, und trotzdem sind permanente Unterbrechungen und Multitasking in Arbeit und Privatleben für viele Menschen zum Dauerzustand geworden. Konzentriertes Arbeiten oder Lesen fällt oft schwer, wenn das allgegenwärtige Smartphone lockt und eine Notifikation nach der anderen eintrudelt. Das bremst nicht nur das Vorankommen, sondern nagt auch an der Zufriedenheit. Denn wer ist schon gerne permanent unkonzentriert und nur mit halbem Herzen bei der Sache?

Der britische Journalist und Autor Johann Hari ist in seinem neuen, leider bisher nur auf Englisch erschienen Buch „Stolen Focus: Why You Can’t Pay Attention“ der Frage nachgegangen, welche Kräfte an der Aufmerksamkeit zerren und wie man sich dagegen wehren kann. Dafür stellte Hari nach Gesprächen mit Dutzenden Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Fachbereichen zwölf Thesen auf, die sich freilich der Problematik von Digitalisierung, Smartphone, sozialen Netzwerken und Notifikationslawinen widmet, aber auch weit darüber hinausgehen.

Von Schlaf bis Schule

Ohne erhobenen Zeigefinger rollt er etwa auf, wie moderne Ernährungsmuster mit ihrem Übermaß an Kohlenhydraten und Zucker oder dauerhafter Schlafmangel die Aufmerksamkeit beeinträchtigen. Er beschreibt stets kurzweilig, wie das menschliche Gehirn „Leerlaufphasen“ für Informationsverarbeitung braucht, diese aufgrund permanenter Bespaßung und einer nicht abreißenden Informationsflut aber einfach nicht mehr bekommt.

Mehrere Personen fotografieren ein Gemälde
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Ein Leben durch die Smartphone-Linse: Längst Gewohnheit

Eine große Rolle spielen auch Komponenten wie ökonomische und persönliche Unsicherheit und der dadurch verursachte Stress, der Menschen in einen Alarmzustand versetzen kann, in dem fokussiertes Denken einfach keinen Platz mehr hat. Mitreißend ist auch das Kapitel, in dem er sich der Frage widmet, mit wie wenig Freiraum viele Kinder mittlerweile aufwachsen und welche Konsequenzen das für ihre Aufmerksamkeit hat.

Jede Nachricht ein Dopaminschub

In seinem Ansatz sind es jedenfalls oft physiologische Faktoren, die unsere Fähigkeit zur Konzentration hemmen. Und hier kommt der große Auftritt der Tech-Konzerne, die vorprogrammierte Schwächen zielgerichtet ausnutzen, Verhaltensmuster manipulieren und die Aufmerksamkeit der User endgültig kapern. Denn das ist ihr Geschäftsmodell: Jede Minute, die auf den Plattformen verbracht wird, lässt die Kassen klingeln.

Besonders spannend wird das Buch also, wenn Hari mit Insidern aus dem Silicon Valley spricht, und die Tricks seziert, mit denen Produkte die Gewohnheiten ihrer Nutzerinnen und Nutzer formen und ans Smartphone fesseln. Dabei ist jedes Like ein kleiner Dopaminkick, jede Notification ein gut platzierter Impuls, um den User zum Handy greifen zu lassen. Dabei wirft „Big Tech“ dank jahrelangen Datensammelns jedem User seinen maßgeschneiderten Köder zu.

200.000 Menschenleben pro Tag „verscrollt“

Bemerkenswert ist etwa ein Interview mit dem Entwickler Aza Raskin, der den „Infinite Scroll“ etabliert hat – also jenes Feature, das einem auf Facebook, Instagram, Twitter und Co. wieder und wieder neue Inhalte in den Feed spült. Das sorgt dafür, dass man einerseits vor einer digitalen Slotmaschine sitzt (vielleicht sind die Postings nach dem nächsten Reload ja besonders interessant?), andererseits die Nutzungsdauer signifikant erhöht.

Buchcover: Stolen Focus von Johann Hari
Bloomsbury

Buchhinweis

Johann Hari: Stolen Focus. Why You Can’t Pay Attention. Bloomsbury, 352 Seiten, ab 14,99 Euro. Derzeit nur auf Englisch verfügbar.

Raskin schätzt, dass die Funktion User 50 Prozent länger an ihre Geräte fesselt, und hat berechnet, dass das die Menschheit täglich das Äquivalent von 200.000 Menschenleben von der Geburt bis zum Tod kostet. Für Raskin ist seine eigene Schöpfung zum Monster geworden, er hat sich mittlerweile der Aufklärung über die Manipulationstechniken in der Technologie verschrieben.

Mit dem Regenschirm gegen den Tsunami

Nun könnte gesagt werden, die naheliegendste Lösung sei es, das Smartphone doch einfach wegzulegen und sich zusammenzureißen. Doch genau diesen auf Selbsthilfe und -kontrolle fokussierten Ansatz stellt Hari entschieden infrage, das hebt das Buch von anderen Werken aus dem Genre ab. Launig berichtet er dabei von seinem eigenen, dreimonatigen „Digital Detox“ ohne jedes internetfähige Gerät, das ihm zwar Erleichterung verschafft und endlich die Lektüre von „Krieg und Frieden“ ermöglicht hat, nach der Rückkehr in die Normalität aber in einem Rückfall endete.

Und wie soll es auch anders sein? Der Mann lebt in und von der digitalisierten Informationsgesellschaft – und er ist nicht alleine. Sich in der modernen, westlichen Welt durch reine Willenskraft vor jedem digitalen Verlockungsmechanismus schützen zu wollen ist, als würde man sich mit einem Regenschirm in einen Tsunami stellen. Stattdessen müsse ernsthaft die Frage gestellt werden, wie die Technologie nach Jahren gebändigt werden kann.

Hari argumentiert, dass die Gesellschaft ihre Krise mit der Aufmerksamkeit erst einmal anerkennen und schließlich auf politischer und gesellschaftlicher Ebene anpacken müsse, ansonsten drohe ein Jahrhundertproblem. Denn wenn sich niemand mehr ordentlich konzentrieren kann, wer soll dann die Probleme der Zukunft lösen? Auf individueller Ebene stärkt die Lektüre. Trotzdem bleibt die Frage zurück, ob die Büchse der Pandora nicht längst geöffnet ist.