Archivbild von der Präsentation der türkis-blauen Koalition am 16. Dezember 2017
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Nun aufgetaucht

Die Geheimpapiere der Koalitionen

Ein bisher geheimes Zusatzpapier zum Koalitionsabkommen 2017, ein Sideletter, zeigt, wie sich ÖVP und FPÖ Posten aufgeteilt und politische Projekte abgestimmt haben. Gemeinsame Recherchen des ORF mit dem Nachrichtenmagazin „profil“ zeichnen nach, wie das Dokument nun seinen Weg an die Öffentlichkeit fand. Auch in der türkis-grünen Koalition existiert ein solcher Sideletter. Teile davon liegen dem ORF vor.

Mit 182 Seiten war das offizielle Regierungsprogramm zwischen der ÖVP und den Freiheitlichen, präsentiert im Dezember 2017, eines der längsten überhaupt. Doch verborgen von der Öffentlichkeit schlossen die damaligen Parteichefs, Sebastian Kurz (ÖVP) und Heinz-Christian Strache (FPÖ), eine weitere – wohl mindestens ebenso wichtige Vereinbarung.

Der Sideletter regelt auf fünf Seiten wesentliche politische Vereinbarungen und Postenvergaben, dazu kommen noch Beilagen zu unterschiedlichen Themenbereichen wie Kammern, dem Budgetvollzug und ORF. Am Ende jeder Seite trägt das Dokument die Unterschriften von Kurz und Strache. Die Existenz dieses Sideletters war bekannt, der Inhalt bisher nicht.

Geheimpapier der ÖVP-FPÖ-Koalition

Neben dem offiziellen Koalitionsabkommen teilten ÖVP und FPÖ in einem geheimen Zusatzpapier Posten auf und stimmten Projekte ab. Auch in der türkis-grünen Koalition existiert ein solcher Sideletter. Dem ORF und dem Nachrichtenmagazin „profil“ liegen die Vereinbarungen vor.

„Üblich“ und bisher in Tresor

ORF und „profil“ zeigen, wie das Dokument seinen Weg an die Öffentlichkeit fand. Der Klubdirektor der FPÖ, Norbert Nemeth, wurde von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) diese Woche zur Aussage geladen. Mit im Gepäck hatte er jenes Dokument, das bisher gut verschlossen im Tresor des freiheitlichen Parlamentsklubs gelegen hatte, darin werden Posten verteilt und Einflusssphären gesichert. Ein Stück Zeitgeschichte, das nun öffentlich wird.

Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache
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Am 16. Dezember 2017 präsentieren Kurz und Strache auf dem Wiener Kahlenberg das zuvor ausverhandelte Regierungsprogramm – wie sich nun zeigt, blieb damals vieles im Verborgenen

Ein Sprecher von Kurz teilte dem ORF mit: „Es ist bekannt, dass solche Abkommen zwischen Regierungspartnern üblich sind. Es gab diese Vereinbarungen zwischen ÖVP und FPÖ genauso, wie zwischen ÖVP und den Grünen. Zuvor wohl auch mit der Sozialdemokratie. Ohne klare Vereinbarungen zu Inhalten und Personalia wäre eine reibungslose Zusammenarbeit schwer möglich.“

„Bis 31.12.2019 Bierlein, ab 1.1.2020 Grabenwarter“

Erster und wohl wichtigster Punkt des Sideletters sind genaue Regelungen zu Postenvergaben in der Republik. Bereits Ende 2017 war klar, dass die neue Bundesregierung beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) nachbesetzen kann. Und so wurde ein genaues Procedere festgelegt, parteipolitische Punzierungen der Höchstrichter inklusive.

Für die Funktion der Präsidentin des VfGH legen die ÖVP-FPÖ-Verhandler fest: „Bis zum 31.12.2019 Brigitte Bierlein (FPÖ), ab 1.1.2020 Christoph Grabenwarter (ÖVP).“ Am 23. Februar 2018 wurde Brigitte Bierlein erste Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes und blieb es bis zum Juni 2019, als „Ibiza“ die türkis-blaue Regierung aus dem Amt spülte. Ihr folgte dann Christoph Grabenwarter.

Hauer „(FPÖ)“, Wallentin „(unabhängig)“

Ebenso werden die anderen frei werdenden Mitglieder des VfGH festgelegt, auch wenn deren Nominierungsrecht nicht der Bundesregierung, sondern dem Nationalrat zusteht, wie im Fall des VfGH-Richters Andreas Hauer, für den der Sideletter „(FPÖ)“ neben dem Namen vermerkt.

Im Dezember 2017, als Kurz und Strache die Koalition verhandelten, war Wolfgang Brandstetter ÖVP-Justizminister und – nach dem Rücktritt von Reinhold Mitterlehner (ÖVP) – auch Vizekanzler. Der Sideletter sieht für Brandstetter bereits zu diesem Zeitpunkt den Posten als Mitglied des Gerichtshofes vor. Auch „Krone“-Kolumnist und Anwalt Tassilo Wallentin wird als Richter vorgesehen. Als einziger wird bei ihm „(unabhängig)“ vermerkt. Wallentin rückte später nicht auf, statt ihm wurde der Wiener Rechtsanwalt Michael Rami Höchstrichter.

Von EuGH über VwGH bis zur OeNB

Auch andere Posten in der Justiz werden aufgeteilt: vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, „Nominierung durch ÖVP“) über den Verwaltungsgerichtshof (VwGH), wo die ÖVP den Präsidenten stellen sollte und die FPÖ einen Vizepräsidentenposten, wenn eine Funktion frei werden sollte, bis zum Europäischen Rechnungshof, den die FPÖ hätte beschicken sollen.

Bei der Nationalbank (OeNB) durfte sich die ÖVP schließlich aussuchen, ob sie Gouverneur oder Präsident besetzt, die FPÖ bekam den anderen Posten. Am 1. September 2018 wurde dann Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer von der ÖVP Präsident der Nationalbank. Als Gouverneur wurde von der FPÖ Robert Holzmann nominiert.

Überschrift „Vereinbarungen“ und Text auf einem Dokument.
ORF
Das Papier legt nahe: Abseits vom offiziellen Regierungsprogramm gab es zwischen ÖVP und FPÖ tiefgreifende Vereinbarungen

„Abstimmung zur allfällig gemeinsamen Vorgangsweise“

Die gesamte Legislaturperiode von 2017 bis 2022 hatte man durchgeplant. Sogar für die Bundespräsidentschaftswahl 2022 hätte bis Dezember 2021 eine „Abstimmung zur allfällig gemeinsamen Vorgangsweise“ stattfinden sollen.

Bereits seit November ist ein Ausschnitt des Sideletters bekannt, der am Handy des früheren Finanzministers Hartwig Löger (ÖVP) gefunden wurde. In ihm wird geregelt, dass die ÖVP Aufsichtsrat und Vorstand der Österreichischen Beteiligungsgesellschaft, heute ÖBAG, nominieren sollte. Dieser Punkt ist bemerkenswert, da Vorstände eigentlich vom Aufsichtsrat nominiert werden.

„Einvernehmen“ auch beim Thema ORF

Der Sideletter enthält auch umfangreiche Vereinbarungen zur Zukunft des ORF. Während das offizielle Regierungsprogramm nur von einer „Erarbeitung von Leitlinien für ein ORF-Gesetz NEU“ spricht, sieht das Zusatzpapier ein klares Bekenntnis zur Abschaffung der GIS-Gebühren und eine Budgetfinanzierung des ORF vor. „Es gibt Einvernehmen darüber, dass die ORF-Gebühren unter Voraussetzung budgetärer Machbarkeit in das Budget des Bundeshaushaltes übergeführt werden. Den Zeitpunkt vereinbaren die beiden Koalitionspartner gemeinsam.“

Auch für künftige Leitungsfunktionen im ORF werden Personen vorgesehen, die Nominierungsrechte in einer künftigen ORF-Struktur bereits verteilt. Sollte die Geschäftsführung nach geltender Rechtslage bestellt werden: „Geschäftsführung bei gesamter Neubestellung: 3:2 (GD (Generaldirektor, Anm.) +2 VP, 2FP)“; nach einem neuen ORF-Gesetz, das sich türkis-blau vorgenommen hat: „VP:GD (mit Dirimierungsrecht) + 1, FP: 2“.

Kopftuchverbot und CETA

Politische Maßnahmen, auf die sich die damaligen Koalitionsverhandler einigen, werden in dem Papier auch an Landtagswahltermine geknüpft. So einigt man sich auf ein Kopftuchverbot, das „im Einvernehmen zwischen den Regierungsparteien bis spätestens 2020 eingeführt oder in Abstimmung im Hinblick auf die Wiener Landtags- und Gemeinderatswahlen“ kommen sollte. Beschlossen wurde es im Mai 2019 – und eineinhalb Jahre später vom VfGH wieder aufgehoben.

Während das Kopftuchverbot also offenbar bewusst als Thema im Wiener Wahlkampf benutzt werden sollte, wollte man die Zustimmung zum umstrittenen Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-Kanada (CETA) aus einem Wahlkampf heraushalten. Man vereinbart, das Abkommen zwischen Landtagswahlen in Salzburg im April 2018 (im Dokument ist versehentlich das Jahr 2017 genannt) und dem österreichischen EU-Ratsvorsitz ab Juli 2018 zu ratifizieren. Genau so passierte es auch. Am 13. Juni 2018 stimmte der Nationalrat dem Abkommen zu.

Sideletter auch zwischen ÖVP und Grünen

Dem ORF liegen ebenso Teile des Sideletters zwischen ÖVP und Grünen vor. Auch in der neuen Koalition haben sich die beiden Regierungsparteien auf Nominierungsrechte für Höchstgerichte, den ORF-Stiftungsrat, die Nationalbank oder die beiden Vorstände der Finanzmarktaufsicht (FMA) „vorbehaltlich möglicher Änderungen aufgrund von Reformen“ geeinigt.

Die ÖVP erhält laut Sideletter „bis zu 1/3 der Aufsichtsratsmandate“ im Bereich der Infrastrukturbeteiligungen (ÖBB, ASFINAG, SCHIG), die Grünen wiederum würden „1/3 der Aufsichtsratsmandate in den Unternehmensbeteiligungen“ erhalten. Am Ende hält der Sideletter fest: „Grundsätzlich ist festzuhalten, dass alle Besetzungen auf Basis von Kompetenz und Qualifikation erfolgen.“ Diesen Zusatz gibt es im Abkommen zwischen ÖVP und FPÖ nicht.

Wöginger sieht kein Problem

Die ÖVP sieht in den Sidelettern kein Problem. Die gekünstelte Aufregung sei völlig realitätsfremd, so ÖVP-Klubobmann August Wöginger. Vertrauliche Vereinbarungen zwischen Koalitionspartnern zu schließen, sei "eine übliche und legitime Vorgangsweise und für die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Regierungsparteien absolut essenziell“, so Wöginger.

„Ich habe in meiner politischen Laufbahn an zwei Regierungsverhandlungen teilgenommen, bei beiden war die Erstellung koalitionsinterner Vereinbarungen in Form eines Sideletters eine Selbstverständlichkeit", so Wöginger weiter. Genauso hätten auch bereits frühere Bundesregierungen derartige Vereinbarungen getroffen.

NEOS: „Österreich leidet an der Krankheit Korruption“

Kritik kommt von NEOS: Die unter Verschluss gehaltenen Nebenabsprachen zwischen ÖVP und FPÖ und ÖVP und Grünen offenbarten „ganz altes, zutiefst ungustiöses Machtdenken statt eines neuen Stils und das genaue Gegenteil von sauberer und anständiger Politik“, so NEOS-Generalsekretär Douglas Hoyos.

„Die Papiere belegen schwarz auf weiß, dass sich die Regierungsparteien allerhöchste Ämter in wichtigen Institutionen wie dem Verfassungsgerichtshof, in den Staatsbetrieben, in der Nationalbank oder im ORF völlig ungeniert untereinander aufgeteilt haben", so Hoyos weiter. Es zeige sich, „dass auch die Grünen um nichts besser sind und bei erstbester Gelegenheit gierig zugelangt und ,die Ihren’ schön versorgt haben“. Das sei Postenschacher in Reinkultur. Österreich leide schwer an der Krankheit Korruption.