Der Gray-Bericht war nach tagelanger Verzögerung schon mit Spannung erwartet worden. Er zeichnet kein gutes Bild der Vorgänge, die sich während der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen in der Downing Street abspielten. Dem Premier und etlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern war vorgeworfen worden, wiederholt Partys in Amtsräumen und Privatwohnungen veranstaltet zu haben. Auch Johnson soll öfter dabei gewesen sein. Inzwischen ermittelt sogar die Polizei. Die Untersuchungen Grays, die parallel dazu liefen, wurden am Montag teilweise veröffentlicht.
Darin werden den Verantwortlichen am britischen Regierungssitz schwere Versäumnisse bei der Einhaltung von Regeln vorgeworfen. Das Verhalten einiger Beteiligter sei „schwer zu rechtfertigen“. Es habe in verschiedenen Bereichen von Downing Street Nummer 10 und dem angegliederten Cabinet Office, der zentralen Regierungsbehörde, ein deutliches Führungsversagen gegeben. Außerdem sei offensichtlich zu wenig darüber nachgedacht worden, welches Gesundheitsrisiko einige Versammlungen bedeutet hätten und wie sie in der Öffentlichkeit vor dem Hintergrund der landesweiten Notlage erscheinen mochten.
„Zumindest einige der fraglichen Versammlungen stellen ein schwerwiegendes Versäumnis dar, nicht nur die hohen Standards einzuhalten, die von denjenigen erwartet werden, die im Herzen der Regierung arbeiten, sondern auch die Standards, die von der gesamten britischen Bevölkerung zu dieser Zeit erwartet wurden“, so die Spitzenbeamtin Gray in ihrem zwölfseitigen Bericht. Das Dokument wurde auf Bitte der Londoner Polizei nur abgeschwächt veröffentlicht. Die Behörde fürchtete, dass ihre eigenen Ermittlungen durch die Erkenntnisse beeinträchtigt werden könnten.
Johnson entschuldigt sich
Im Parlament reagierte Johnson auf den Gray-Bericht. Dieser hatte der Regierung in der „Partygate“-Affäre Führungsversagen konstatiert. Der Premier entschuldigte sich und gelobte Besserung.
Steife Brise im Unterhaus
Johnson reagierte kurz nach der Veröffentlichung im Parlament zerknirscht. „Ich möchte Entschuldigung sagen“, sagte er und kündigte weitreichende Umstrukturierungen und Reformen in seinem Amtssitz an. „Ich verstehe es und ich werde es in Ordnung bringen“, so Johnson. Einen Rücktritt schloss er erneut aus.

Die Abgeordneten – auch die eigenen Parteifreundinnen und -freunde – wollten Johnson freilich nicht so schnell aus der Verantwortung lassen. Das frühere Regierungsmitglied Andrew Mitchell entzog seinem Parteikollegen öffentlich das Vertrauen. Von seiner Vorgängerin Theresa May musste sich Johnson fragen lassen, ob er und seine Mitarbeiter die damals geltenden CoV-Regeln nicht verstanden hätten: „Entweder hat mein ehrenwerter Freund die Regeln nicht gelesen oder er und die Menschen um ihn herum haben nicht verstanden, was sie bedeuteten, oder sie dachten, die Regeln gälten nicht für (Downing Street) Nummer 10. Was davon war es?“, so May.
May kritisiert Johnson scharf
Von seiner Vorgängerin Theresa May musste sich Boris Johnson fragen lassen, ob er und seine Mitarbeiter die damals geltenden CoV-Regeln nicht verstanden hätten.
Von der Defensive in den Angriff
In der turbulenten Sitzung forderte die Opposition Johnson wiederholt zum Rücktritt auf. „Er ist ein Mann ohne Schamgefühl“, sagte Labour-Chef Keir Starmer im Parlament. Er forderte die konservativen Torys auf, ihren Regierungschef nicht mehr zu unterstützen. Der Premier habe mit seinem Verhalten alle in seiner Nähe beschädigt, das Vertrauen zerstört und die Demokratie untergraben. Der Chef der Schottischen Nationalpartei (SNP), Ian Blackford, nannte Johnson wiederholt einen Lügner – das ist nach den strengen Parlamentsregeln verboten. Blackford musste den Saal verlassen.
Johnson ging mit zunehmender Schärfe der Debatte stärker in die Offensive. „Ich weiß, was Sache ist“, rief der Premier. Die Regierung liefere und erfülle ihre Versprechen: Der Brexit sei umgesetzt, dank der schnellsten Impfkampagne in Europa sei die Pandemie unter Kontrolle, die Wirtschaft wachse stärker als in anderen Staaten. „Wir haben erreicht, was Menschen für unmöglich gehalten haben“, betonte er.
Zeit gewonnen
Ob ein Misstrauensvotum innerhalb der Torys noch ansteht, ist unklar. Dafür müssten sich mindestens 54 konservative Abgeordnete gegen Johnson aussprechen. Dieser überzeugte aber mittlerweile viele parteiinterne Kritiker, sich wieder hinter ihn zu stellen. Dazu trugen auch politische Entscheidungen bei, die einflussreiche Tory-Abgeordnete gefordert hatten. So hob Johnson bereits vergangene Woche alle CoV-Regeln auf. Zwar hält er trotz Widerstands an einer umstrittenen Steuererhöhung fest. Allerdings gab er Medienberichten zufolge dem Drängen nach, die beschlossene Impfpflicht für Beschäftigte des Nationalen Gesundheitsdiensts NHS doch wieder zu kippen.
Manche der konservativen Parlamentarier wollten vor einer Positionierung aber den Gray-Bericht abwarten. Da dieser nun aber nicht komplett ist und die polizeiliche Untersuchung vermutlich noch Monate dauert, könnte Johnson erst einmal wieder Zeit gewonnen haben. Die Downing Street sagte am Montag nach etlichen Forderungen zu, nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen eine aktualisierte Fassung des Gray-Berichts zu veröffentlichen.