Das Holocaust Mahnmal in Berlin
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Historikerstreit 2.0

Kolonialismus mit Holocaust vergleichbar?

Ein „Zweiter Historikerstreit“ erhitzt seit zwei Jahren in Deutschland die Gemüter. Vor der anstehenden Documenta durchläuft er gerade seine nächste Erregungsphase. Hinter der Debatte, die in unterschiedliche Themenstränge ausstrahlt, steht die Frage einer Neuordnung der Erinnerung: Dürfen Holocaust und Kolonialismus in Zusammenhang gebracht und miteinander verglichen werden? Kurz: Ist der Holocaust der Nationalsozialisten so einzigartig, wie es über Jahrzehnte hin gerade in Deutschland und auch Österreich hochgehalten wurde? ORF.at hat beim israelischen Soziologen Natan Sznaider und dem deutschen Historiker Dirk Rupnow nachgefragt.

„Die Antisemitismusdebatte ist eine fehlgeleitete, hysterische Pein“, unter diesem Titel machte Eva Menasse letzte Woche in der „Zeit“ ihrem Ärger Luft. Die österreichische Autorin („Dunkelblum“), die seit zwanzig Jahren in Berlin lebt und das Thema Antisemitismus in ihren Texten immer wieder aufgreift, spricht von einem „völlig irregegangenen Moralismus“, der „von einer kleinen Gruppe von rigorosen Einpeitschern“ aufgeblasen werde.

Der Hintergrund: Wieder mal sind, wie zu Beginn des als „Historikerstreit 2.0“ betitelten Feuilletonstreits, nicht die realen Tatbestände Thema der Debatte, also der, wie Menasse sagt, „krude, brutale, lebensgefährliche Antisemitismus“ – dessen Anstieg etwa auch kürzlich alarmierend im Umsetzungsbericht der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus im österreichischen Kontext festgestellt wurde. Stattdessen geht es einmal mehr um „Symbolpolitik“ im Kulturfeld.

Schriftzug der documenta fifteen auf dem sogenannten „ruruHaus“ in Kassel im Dezember 2020
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Nichtwestliches Kuratieren im Fokus der neuen Debatte: Hat die Documenta ein Antisemitismus-Problem? Das diskutieren derzeit die deutschen Feuilletons.

BDS zwischen Problematik und Irrelevanz

Ist der vielfach und hochkarätig prämierte postkoloniale Theoretiker Achille Mbeme durch antisemitische Äußerungen nicht mehr als Redner der Ruhrtriennale tragbar? So fing die Debatte 2020 an. Der jetzige Anlassfall ist die am 18. Juni startende documenta fifteen in Kassel, kuratiert vom politisch engagierten und postkolonial informierten indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa, deren veröffentlichte Künstlerliste seit Wochen vom deutschen Feuilleton diskutiert wird.

Konkret geht es um ein palästinensisches Kollektiv, dem Sympathien zur BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) nachgesagt werden. BDS ruft dazu auf, den Staat Israel wegen seiner Besatzungspolitik zu boykottieren, der Deutsche Bundestag – aber auch das österreichische Parlament – stuft sie als antisemitisch ein. Die Bedeutung von BDS sei zumindest in den ihm bekannten Kontexten zu vernachlässigen, kalmierte Rupnow im ORF.at-Gespräch. „Wir diskutieren in einer Aufgeregtheit über BDS, ich sehe das nicht reflektiert in meinem Alltag“, so der an der Uni Innsbruck lehrende Historiker.

Anders schätzt das der Tel Aviver Soziologe Sznaider ein, der mit seinem soeben erschienenen Buch „Fluchtpunkte“ einen Beitrag zu dieser Debatte liefert. Das „Outsourcen der Documenta“ hält er für „zeitgeistig“ und „intellektuell faul“, so seine spitze Antwort in Richtung eines postkolonialen Trends im Kunstbetrieb. Weil man sich genau solche Probleme einhandle: „Wenn man ein Kollektiv aus Indonesien kuratieren lässt, das ein Kollektiv aus Ramallah einlädt, dann soll man sich nicht wundern, wenn die BDS im Gepäck mitnehmen.“

Links: Ernst Nolte, deutscher Historiker und Philosoph; rechts: Jürgen Habermas, deutscher Philosoph und Soziologe
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Links: der Historiker Nolte, rechts: der Philosoph Jürgen Habermas, die Protagonisten im ersten Historikerstreit rund um die Singularität des Holocausts

Kolonialgeschichte stellt Schuldfrage neu

Dass die Wogen derart hochgehen, hat damit zu tun, dass hier weit mehr auf der Waagschale liegt als der geopolitische Hintergrund eines ausstellenden Künstlerkollektivs. Es geht – ganz grundsätzlich gesprochen – um den Erfahrungshorizont des Kolonialismus, der durch die migrationsbedingte gesellschaftliche Diversifizierung und die Transnationalisierung von Wissen hierzulande immer stärker ins Bewusstsein rückt.

Während man sich in Frankreich und England schon länger mit der Kolonialgeschichte beschäftigt, hat die Frage historischer Schuld im westlichen Kolonialismus inzwischen auch Deutschland (und in geringerem Maß Österreich) erreicht. Erst letztes Jahr erkannte Deutschland erstmals die Verbrechen an den Herero und Nama im heutigen Namibia als Völkermord an, in vollem Gange ist die Debatte rund um die Restitution kolonialer Raubgüter. Diese Beschäftigung bringt mit sich, dass die Erinnerungspolitik wieder im Brennpunkt steht – im spezifischen Kontext eines NS-Täterlands, wie zuletzt vor 35 Jahren.

Autor Natan Sznaider
Peter-Andreas Hassiepen
Natan Sznaider, 1954 in Mannheim geboren, lehrt seit 1994 als Professor für Soziologie in Tel Aviv. In seinem neuen Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung“ beschäftigt er sich mit der historischen Beschäftigung und den Zusammenhängen von Holocaust und Kolonialismus, von Hannah Arendt über Claude Lanzmann bis hin zu Albert Memmi und Edward Said.

Historikerstreit 1986

Zur Erinnerung: Der Begriff „Zweiter Historikerstreit“, der nun für die neue Feuilletondebatte im Umlauf ist, leitet sich vom Historikerstreit von 1986 ab. Ausgelöst hatte diesen Ernst Nolte mit seiner These, Auschwitz sei nur eine Reaktion auf die Gräuel des Bolschewismus gewesen. Nolte wurde in dem Versuch, damit deutsche Schuld abzutun, der Geschichtsklitterung überführt. Seit damals gilt die Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit der Schoah als unumstößlich.

Dagegen rührt sich aber Widerspruch von postkolonialen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern: „Enttabuisiert den Vergleich!“, forderten der Afrikanist Jürgen Zimmerer und der Holocaust-Forscher Michael Rothberg letztes Jahr in der „Zeit“. Die beiden plädierten dafür, die Ähnlichkeiten zwischen Antisemitismus und Rassismus und die historischen Verbindungslinien von Kolonialverbrechen und dem Holocaust in den Blick zu nehmen – im Sinne einer „differenzierenden Solidarität“ zwischen den unterschiedlichen Opfergruppen.

„Klare antiisraelische Haltung“

„Man kann von jedem Vergleich profitieren“, meint nun auch Sznaider im ORF.at-Gespräch, gefolgt von einem großen „Aber“: Das Problem seien, so Sznaider, die politischen Implikationen, wie er auch in „Fluchtpunkte der Erinnerung“ ausführt: „Wenn der Kolonialismus als Wegbereiter der Shoah bezeichnet wird, stellt sich die Frage, was damit gesagt werden soll. Will man damit sagen, dass der Holocaust nicht einzigartig war? Dass er keine wirklich deutsche Angelegenheit war, sondern sich aus dem europäischen Kolonialismus heraus entwickelt hat? Will man damit sagen, dass er ein Verbrechen unter vielen ist?“

Sznaider sieht in dem Ansatz postkolonialer Wissenschaftler nicht zuletzt eine politische Agenda durchscheinen: Mit im Gepäck sei oft „eine ganz klare antiisraelische Haltung“. Der Konflikt in Palästina würde oft ausschließlich aus der Warte der Menschen in den besetzten Gebieten und in Gaza gesehen werden. Die Existenzberechtigung des jüdischen Staates stehe indessen infrage, wenn die Schoah nicht mehr als beispiellos angesehen wird: „Der Holocaust hat gezeigt, dass nur der eigene Staat auch eine existenzielle, würdevolle Sicherheit gibt, und dass Israel deswegen wahnsinnig notwendig ist.“

Nicht „künstlich auseinanderhalten“

Den Versuch einer Verknüpfung verschiedener Opferperspektiven sieht der Soziologie Sznaider grundsätzlich scheitern: „Gewalterfahrung trennt Menschen und eint sie nicht. Politik ist keine Gruppendynamik, die das Verständnis der anderen Seite zu Frieden und Versöhnung führen kann.“

Buchcover
Verlag Hansa
Natan Sznaider. Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus. Hanser Verlag, 256 Seiten, 24,70 Euro.

„Als Historiker kann man erstaunt sein, was versucht wird, künstlich auseinanderzuhalten“, entgegnet da Rupnow gegenüber ORF.at. „Europäische Gesellschaften haben gewisse Gewalterfahrungen gemacht und Gewalt exekutiert außerhalb Europas. Wollen wir so tun, dass das völlig abgesprengt werden kann von dem, was sich an Gewalt im 20. Jahrhundert in Europa entlädt? Das schiene mir merkwürdig.“

Unbehagen der Erinnerungskultur

Auch die „feinsäuberliche Trennung von Antisemitismus und Rassismus“ halte er, bei allen Spezifika, für unangebracht: Es sei der „spezielle Dreh des Antisemitismus im 19. Jahrhundert, dass er rassistisch“ sei. „Für die Nazis war es völlig irrelevant, ob sich wer taufen lässt oder areligiös ist.“

Hinter der jetzigen Diskussion steht schon eine länger andauernde: Schon vor zirka zehn Jahren äußerten Historikerinnen und Historiker vermehrt ihr „Unbehagen an der Erinnerungskultur“, so der Titel, unter dem die Diskussion damals lief. Die staatliche Holocaust-Erinnerung sei routinisiert und entleert, sie erreiche bestimmte Teile der Gesellschaft nicht, so die immer noch virulente Kritik.

Der australische Holocaust-Forscher Dirk Moses setzte da letztes Jahr noch eins drauf und sprach polemisch in seinem Aufsatz „Der Katechismus der Deutschen“ gar von einem verblendeten, quasi religiösen Schuldkult der Deutschen. Wofür er prompt Zustimmung von den rechtsextremen Identitären erntete – obwohl es Moses doch um die Erweiterung der Erinnerungskultur um nicht jüdische Opfer ging.

Lehren aus der Vergangenheit ziehen

Im ORF.at-Gespräch plädiert nun auch Rupnow für „eine Erinnerungskultur, die migrantische Erfahrungshorizonte von Gewalt, Kolonialismus und Ausbeutung, Flucht, Vertreibung und Genozid“ miteinbezieht. „Das Mantra unserer Erinnerungskultur ist doch, wir wollen aus der Geschichte lernen. Dann stellt sich die Frage, wo sind die Momente in der Gegenwart, in denen wir glauben, dass es Lehren aus der Geschichte zu ziehen gilt. Ansonsten deklarieren wir die Rhetorik der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ für hinfällig.“

Ein grundsätzliches Problem sei, so der Historiker, dass wir „Doppelstandards“ serviert bekommen, also etwa Migranten und Autochthone mit zweierlei Maß gemessen werden, und eine Selektivität der Erinnerung grassiere: „Einerseits schmückt man sich damit, Fluchtrouten zu schließen, andererseits wird ein Hohekult des Holocaust-Gedenkens inszeniert.“ Angesichts der Vergangenheit müsste, so Rupnow, „die Lehre doch heißen: Fluchtrouten bitte offen lassen“.