Atomkraftwerk Gundremmingen in Deutschland
APA/AFP/Lennart Preiss
Taxonomie

EU macht Atomkraft offiziell „grün“

Die EU-Kommission hat am Mittwoch Atomkraft und Gas offiziell in ihre Taxonomie aufgenommen, die festlegt, welche Finanzinvestitionen als klimafreundlich gelten. Bei der Präsentation in Brüssel sagte Finanzkommissarin Mairead McGuinness, dass es sich um ein Instrument für den Finanzsektor, „nicht für die Energiepolitik“ handle. Österreich sieht damit die Klimaschutzagenda der EU konterkariert und will in den nächsten Wochen „rechtliche Schritte vorbereiten“.

Trotz heftiger Kritik nahm die Kommission einen entsprechenden Rechtsakt an. Die Taxonomie sei ein „Wegweiser für private Investoren“, so McGuinness, und damit „kein EU-Energiepolitikinstrument“. Gas und Kernkraft würden einen Beitrag zum „schwierigen Übergang zur Klimaneutralität“ leisten, so die Kommissarin weiter. Man habe ein „gutes Gleichgewicht“ zwischen grundlegend unterschiedlichen Meinungen gefunden, so McGuinness. Beim Übergang müssten „wir auch nicht perfekte Lösungen akzeptieren“, sagte sie weiter.

Mit der Taxonomie legt die EU-Kommission fest, welche Finanzinvestitionen als klimafreundlich gelten, um mehr Geld in nachhaltige Technologien und Unternehmen zu lenken und so wesentlich zur Klimaneutralität Europas bis 2050 beizutragen. EU-Berechnungen zufolge braucht es dazu pro Jahr 350 Milliarden Euro aus privaten Investitionen.

Der nun angenommene Rechtsakt sieht vor, dass Investitionen in neue Gaskraftwerke bis 2030 als nachhaltig gelten, wenn sie unter anderem schmutzigere Kraftwerke ersetzen und bis 2035 komplett mit klimafreundlicheren Gasen wie Wasserstoff betrieben werden. Im ursprünglichen Entwurf war die Beimischung von klimafreundlichen Gasen schon ab 2026 vorgeschrieben. Das bedeutet, dass Gaskraftwerke nun unter Umständen länger höhere Anteile an verschmutzendem Erdgas nutzen können. Neue Atomkraftwerke sollen bis 2045 als nachhaltig klassifiziert werden, wenn ein konkreter Plan für die Endlagerung radioaktiver Abfälle ab spätestens 2050 vorliegt.

Gewessler: Werden rechtliche Schritte vorbereiten

Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) will ihre Klagsdrohung gegen die EU-Kommission wahr machen. Österreich werde in den nächsten Wochen rechtliche Schritte vorbereiten und wolle mit einer Nichtigkeitsklage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgehen, sagte Gewessler bei einer Pressekonferenz am Mittwoch. Luxemburg schließe sich der österreichischen Initiative an.

Die Kommission erfülle mit der Taxonomie „vor allem die Wünsche der Atomlobby“, so Gewessler. Man müsse „jetzt“ auf erneuerbare Energien umsteigen. Im Hinblick auf eine Klage sagte Gewessler: „Rein formal muss der Akt in Kraft treten, damit man ihn rechtlich bekämpfen kann.“ Gewessler sieht die Voraussetzungen der Taxonomieverordnung nicht erfüllt, da diese beinhalte, dass grüne Technologien „keine signifikanten Umweltschäden“ anrichten dürfen.

Nehammer kann EU-Entscheidung „nicht nachvollziehen“

Unterstützung bekam sie von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP): Gewessler „hat meine volle Unterstützung bei der Prüfung rechtlicher Schritte.“ Er zeigte sich von der EU-Ankündigung enttäuscht: „Atomkraft ist weder ‚grün‘ noch nachhaltig. Ich kann die Entscheidung der EU nicht nachvollziehen“, schrieb Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) auf Twitter.

Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen kritisierte Brüssel: „Die EU-Kommission setzt mit ihrer heutigen Entscheidung das falsche Signal, auch auf den Kapitalmärkten“, so Van der Bellen am Mittwoch in einer Aussendung. „Atomkraft ist weder nachhaltig noch sicher“, so der Präsident. Auch Erdgas sei klimaschädlich und müsse Schritt für Schritt durch Alternativen ersetzt werden.

Scharfe Kritik von Brunner

Zuvor kritisierte bereits Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) das Vorgehen: „Die EU konterkariert die Agenda des eigenen Green Deals. Wir bedauern die Entscheidung zur Taxonomieverordnung der EU-Kommission. Österreichs Position war von Anfang an klar: Für uns ist die Entscheidung, Atomkraft als ‚grün‘ einzustufen, weder ökologisch noch ökonomisch nachhaltig“, so Brunner.

„Die Entscheidung der EU ist die eine Sache, das andere ist, wie der Markt darauf reagiert. Sogar die Europäische Investitionsbank, bei der die Mitgliedsstaaten Kapitaleigner sind, hat bereits klargestellt, dass sie nicht in Atomkraft investieren wird. Obendrein haben nahezu alle EU-Staaten, darunter auch Frankreich, Deutschland und Italien, in ihren nationalen grünen Anleihen Atomkraft dezidiert ausgeschlossen – obwohl in diesen Ländern AKWs stehen. Auch im österreichischen Green Bond, der heuer noch aufgelegt wird, wird Atomkraft selbstverständlich ausgeschlossen sein.“

Frankreich plädiert stark für Atomenergie

Frankreich führt die Atomlobby unter den EU-Staaten an. Rund 70 Prozent des Stroms stammen in Frankreich aus nuklearer Energie – der EU-Schnitt liegt deutlich darunter. Die französische Spitzenpolitik betonte stets, nur mit Atomstrom könnten auch die ehrgeizigen Klimaziele eingehalten werden. Kritikerinnen und Kritiker führen primär einen anderen Grund ins Feld: Die Einstufung von nuklearer Energie als „grünes“ Investment nutze vor allem dem staatlichen Energiekonzern und weltweit größten Anbieter von Atomstrom, EDF, der derzeit in einer tiefen Krise stecke.

Grafik zeigt die Atomkraftwerke in der EU
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: BMK

Hinter Frankreich steht jedoch die Mehrheit der Mitgliedsländer. Vertreter aus Bulgarien, Kroatien, Polen, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und eben Frankreich unterzeichneten im Oktober einen Text, in dem Kernenergie als Teil der Lösung für die Klimaneutralität bezeichnet wird. Auch die Niederlande und Schweden äußerten sich positiv zu dieser Technologie.

Experte: Verpasste Chance für EU

Simone Tagliapietra, Experte beim Brüsseler Thinktank Bruegel, sagte gegenüber ORF.at, dass Gas und Atomkraft nicht „grün sind“: „Gas und Kernkraft werden beim Übergang eine Rolle spielen, aber sie sind nicht grün.“ Durch die Einbeziehung von Atomkraft und Gas werde „die Taxonomie nun wahrscheinlich nicht zu einem globalen ‚Goldstandard‘, wie institutionelle Anleger bereits gewarnt haben“.

Er sieht eine verpasste Chance der EU: „Die Auswirkung der Taxonomie auf die Finanzwelt könnte also letztlich begrenzt sein, da die Anleger es vorziehen könnten, andere Klassifizierungen zur Bewertung ihrer grünen Investitionen zu verwenden. Damit hat die EU eine große Chance verpasst, denn sie hätte eine Referenz in diesem Bereich werden können“, so Tagliapietra.

Kritik von österreichischen EU-Parlamentariern

Der österreichische EU-Budgetkommissar Johannes Hahn votierte in der Kommissionssitzung gegen die Taxonomieverordnung, hieß es aus dem Büro Hahns. Wie er bereits darlegte, wird unter anderem Atomkraft seiner Ansicht nach in der Taxonomie nicht ausreichend als Übergangstechnologie eingestuft. Auch fürchtet Hahn um Verwirrungen auf dem Kapitalmarkt.

Kritik an der Kommissionsentscheidung gab es auch von der Opposition. „Wir sind dagegen, dass Gas und Atomstrom da hineingenommen werden“, sagte NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger in einer Pressekonferenz. Gas als nachhaltige, umweltschonende Energiequelle zu bezeichnen „ist einfach nicht in Ordnung“. NEOS-Europaabgeordnete Claudia Gamon sagte, dass das Taxonomieregelwerk nun „völlig unbrauchbar“ sei. „In der Sekunde, in der der Vorschlag der Kommission das Parlament erreicht, werde ich gemeinsam mit anderen Abgeordneten Widerspruch einlegen“, so Gamon.

ÖVP-Europaabgeordneter Othmar Karas schrieb auf Twitter, dass „alle zuständigen österreichischen Europaabgeordneten Einspruch gegen die Pläne der EU-Kommission“ einlegen werden. „Die Ablehnung der Atomkraft ist keine parteipolitische Frage, sondern war stets ein gemeinsames österreichisches Anliegen“, so der Vizepräsident des Europaparlaments.

SPÖ sieht „schweren Fehler“

Kritik kam auch von der SPÖ. Die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Evelyn Regner, bezeichnete den Kommissionsvorschlag als „schweren Fehler“. Schließlich sollte die Taxonomie dem „Greenwashing in der Finanzindustrie“ eigentlich einen Riegel vorschieben. „Die Einstufung von Atomkraft und Gas als nachhaltig ist genau ein solcher Labelschwindel“, so Regner in einer gemeinsamen Aussendung mit ihrem Fraktionskollegen Günther Sidl.

Im Vorfeld der Kommissionsentscheidung hatte sich bereits der grüne EU-Abgeordnete Thomas Waitz kritisch geäußert, der von einer „dreisten Kompetenzüberschreitung“ der Brüsseler Behörde sprach. Die Umweltorganisation Global 2000 sprach von einer „politischen Bankrotterklärung der EU-Kommission gegenüber einer nachhaltigen und umweltgerechten Energiepolitik“.

Großteil der EU-Staaten müsste gegen Beschluss stimmen

Bereits Anfang Dezember wurde ein Rechtsakt mit dem weniger umstrittenen Teil der Taxonomie für „grüne“ Bioenergie, Wasserkraft und Forstwirtschaft angenommen. Darin werden Aktivitäten wie die Stromproduktion mit Solarpaneelen und der Transport per Bahn als klimafreundlich aufgelistet. Auch Kriterien für umweltfreundliche Wasserkraftwerke wurden festgelegt.

Grafik zum Energiemix in der EU
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Eurostat

Nach dem Beschluss lässt sich das geplante Inkrafttreten der neuen Regeln am 1. Jänner 2023 nur noch verhindern, wenn 20 der 27 EU-Staaten mit mindestens 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung oder eine absolute Mehrheit im Europaparlament dagegen stimmen. Beides gilt aber als nahezu ausgeschlossen. Neben Österreich sprechen sich zu wenige Länder gegen die Atomkraft als Teil der Taxonomie aus – unter anderem Deutschland, Luxemburg, Dänemark, Spanien und Portugal unter Vorbehalt.

Die deutsche Regierung äußerte sich vorerst zurückhaltend: „Wir haben jetzt vier Monate Zeit, das zu prüfen, was die Kommission jetzt tatsächlich vorlegt“, so Regierungssprecher Steffen Hebestreit in Berlin. Nun werde sich die Koalition erst einmal „darüber beugen, was jetzt tatsächlich von Brüssel vorgelegt worden ist“, so Hebestreit.