Frauen in Kabul
Reuters/Ali Khara
Afghanistans Frauen

„Sie wollen einfach nur überleben“

Während das Scheinwerferlicht, das auf die Frauen Afghanistans gerichtet ist, zunehmend schwächer wird, bleibt ihre Lage dramatisch. Frauenrechte sind dort nach wie vor de facto erloschen. Wer konnte, ist längst geflohen. So auch Ex-Frauenministerin Sima Samar und die ehemalige Bürgermeisterin Zarifa Ghafari. Im Gespräch mit ORF.at erzählen sie von ihrem Land, ihren Schwestern und warum sie trotz aller Widrigkeiten die Hoffnung nicht aufgeben.

Nach Beendigung der ersten Herrschaft der Taliban wurde Samar 2001 zur ersten Frauenministerin Afghanistans ernannt. „Ich habe das Ministerium von Grund auf aufgebaut“, erzählt Samar. Sie erinnere sich an viele schlaflose Nächte, schließlich habe sie nicht nur ein Gebäude finden müssen, sondern auch alles, was dazugehört – Tische, Stühle, Computer, Personal. Das Ministerium sei ein „großes Symbol der Hoffnung für die Frauen in dem Land“ gewesen.

Rund zwanzig Jahre später, am 15. August 2020, übernahmen die Taliban erneut die Macht. Das Ministerium, einst zuständig für Frauenangelegenheiten, ist nun das „Ministerium zur Förderung der Tugend und Verhinderung von Laster“. Samar steht in Kontakt mit Frauen, die in Afghanistan leben. Ihr Leid sei „mit Worten nicht zu beschreiben“. Ähnlich äußert sich Ghafari. Die Situation für Afghaninnen sei desaströs. „Alles, was sie wollen, ist einfach nur überleben.“ Doch es fehle ihnen am Nötigsten, an Nahrung, Arbeit, Rechten.

Zarifa Ghafari, Bürgermeisterin von Maidan Shar
ORF.at/Tamara Sill
Ghafari, einst jüngste Bürgermeisterin des Landes, will auch im Exil weiter für die Frauenrechte in Afghanistan kämpfen

„Ich fühle mich gebrochen. In viele Teile“

Was ein Leben unter den Taliban bedeutet, weiß Ghafari. 1996, als die Taliban erstmals das Land einnahmen, war sie gerade einmal vier Jahre alt. Erst mit zwölf Jahren war es ihr erlaubt, die Schule zu besuchen. Mit 26 wurde sie die Bürgermeisterin von Maidan Shar und somit nicht nur die jüngste Bürgermeisterin Afghanistans, sondern auch eine der wenigen weiblichen Politspitzen.

„Ich habe hart gearbeitet, habe meine eigene NGO gegründet und einen Radiosender, ich schrieb für unterschiedliche Medien, Magazine, war Mitglied beim Jugendparlament, Bürgermeisterin und dann Regionaldirektorin im Verteidigungsministerium.“ Nach all den Jahren des Abmühens sei der einzige Titel, den sie nun trage, „Migrantin“. „Ich fühle mich gebrochen. In viele Teile. Ich bin am Boden zerstört. Wütend. Nervös. Zu viele Gefühle auf einmal“, erzählt Ghafari.

Interview von Sima Samar, einer Menschenrechtsverteidigerin und ehemaligen Ministerin für Frauenangelegenheiten
ORF.at/Tamara Sill
Noch ist das Scheinwerferlicht auf die Frauen Afghanistans gerichtet, hier auf die ehemalige Frauenministerin Samar – doch wie lange noch?

Kollektives Scheitern „akzeptieren“

Samar ist mittlerweile 64 Jahre alt. „Ich war jung, als alles begann. Verschiedene Regime kamen und gingen. Die Verletzung der Menschenrechte ging weiter. Frieden ist im Land nicht eingekehrt“, so die Ex-Frauenministerin und ehemalige Vorsitzende der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC).

Afghanistan, das sei ein Fall des kollektiven Scheiterns – nicht nur der internationalen Gemeinschaft, sondern auch der Regierungen und der Bevölkerung des Landes. „Ich habe Angst vor all der Gewalt in diesem Land. 44 Jahre lang haben wir viele Menschen in diesem Land verloren. Wie lange soll das Töten noch weitergehen?“

Die Geschichte habe sich wiederholt, die Politik sei zu oberflächlich gewesen, habe nur die Symptome behandelt und nicht die „tiefe Wunde“ des Landes selbst. Nun gelte es, das kollektive Scheitern zu akzeptieren, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und eine Lösung zu finden – „nachhaltig, multidimensional und koordiniert“, so Samar.

Frauen spazieren auf einer verschneiten Straße in Kabul
Reuters/Ali Khara
Legitimation könne das Regime der Taliban nur dann erfahren, wenn die Bevölkerung einbezogen werde – auch die Frauen, so Samar

„Ich will nicht sehen, wie mein Land zum Friedhof wird“

Auch die Taliban müssten handeln und „einen Weg finden, um das Vertrauen des Volkes zu gewinnen“, so Samar. Legitimation könne allerdings nur durch Beteiligung geschehen. In allen Bereichen, von allen – inklusive Frauen.

Mit den Taliban zu reden, zu verhandeln, dafür plädiert auch Ghafari. Und das, obwohl ihr Vater vergangenes Jahr von ebendiesen getötet worden sei. Doch sie sehe keine Alternativen: „Ich will nicht sehen, wie mein Land zum Friedhof wird. Es gibt keine andere Option, als alle Beteiligten an einem Tisch zu versammeln und gemeinsam eine Lösung zu finden.“

Gespräche „keine Legitimierung“

Erst Ende Jänner fanden im norwegischen Oslo offizielle Gespräche zwischen den Taliban und Vertretern westlicher Staaten statt – im Mittelpunkt standen die Menschenrechtslage sowie die humanitäre Krise, die im Land rasend schnell um sich greift. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind in Afghanistan Millionen Menschen von Hunger bedroht. Berichten zufolge verkaufen Afghaninnen und Afghanen Organe, ja sogar ihre eigenen Kinder, um an Lebensmittel zu kommen.

Bisher hat kein Land die Taliban-Regierung offiziell anerkannt. Auch die Gespräche in Oslo würden keine Legitimierung oder Anerkennung der Taliban bedeuten, hieß es seitens des Westens. Dieser knüpft die Wiederaufnahme der humanitären Hilfe an die Einhaltung der Menschenrechte.

Liveschaltung von Angelina Jolie in Brüssel
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„Du kannst eine Blume abschneiden, aber nichts wird den Frühling aufhalten können“, so die Botschaft von Angelina Jolie bei der Afghanistan-Konferenz

„Hoffnung ist der Grund, warum ich noch lebe“

Einen ersten Erfolg gab es am Mittwoch – erstmals seit der Machtübernahme wurden die Tore der Universitäten wieder für Frauen geöffnet. Im März sollen auch die Schulen für Mädchen wieder aufmachen. Genau beobachten will die Situation auch die EU, wie Vertreter und Vertreterinnen im Zuge der Konferenz „Afghan Women Days“ betonten – schließlich habe die Lage in Afghanistan nicht zuletzt auch direkte Auswirkungen auf die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik.

„Afghan Women Days“

Bei der Konferenz „Afghan Women Days“ (zu Deutsch: Tage der Frauen Afghanistans) fanden sich diese Woche im EU-Parlament in Brüssel prominente afghanische Frauen ein, die für den Sacharow-Preis 2021 nominiert waren. Damit wolle man den Frauen in Afghanistan eine Stimme geben, ihnen zuhören und von ihnen lernen, wie es seitens der EU hieß.

Die Schauspielerin und Sonderbotschafterin des UNO-Flüchtlingshilfswerks Angelina Jolie meldete sich in einer Videobotschaft zu Wort und appellierte, Geflüchteten Schutz zu gewähren und jene zur Verantwortung zu ziehen, die an dem Leid der Menschen Schuld tragen. Den Mut der vielen Generationen an Frauen Afghanistans nannte Jolie historisch. Und: „Was ihr erreicht habt, wird unterdrückt, aber es kann nicht ausgelöscht werden. Man kann eine Blume abschneiden, aber nichts kann den Frühling aufhalten.“

Ähnliche Worte findet auch Sama: „Das Wissen, das wir den jungen Menschen in Afghanistan durch Schulungen über ihre Rechte vermittelt haben, können die Taliban den Menschen nicht nehmen.“ Doch gibt es wirklich noch Hoffnung für Afghanistan? „Ja, ich hoffe, und wenn ich die Hoffnung verliere, dann glaube ich, dass ich nicht mehr leben will.“ Und auch Ghafari meint: „Hoffnung ist der Grund, warum ich noch lebe. Wir haben unser Leben für die Hoffnung und mit der Hoffnung gelebt.“