Karl Schranz auf Balkon am Ballhausplatz vor großer Menschenmenge
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„Schranz-Affäre“ 1972

Als Olympia den Nationalstolz kränkte

Der Ausschluss des Skistars Karl Schranz von den Olympischen Winterspielen 1972 versetzte Österreich in Aufruhr. Zeitungen und Fernsehen beteiligten sich eifrig am Spiel mit den Emotionen. Der Empfang für Schranz am Dienstag vor 50 Jahren war ein Großereignis. Völlig aus dem Nichts kam der Ausschluss dabei keineswegs.

Nach dem damals geltenden Amateurstatut und dem Werbeverbot für Olympioniken hätten viele Sportler und Sportlerinnen eigentlich nicht an den Spielen teilnehmen können. Für Avery Brundage, den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), waren vor allem die Skifahrer, die mit Werbung für ihre Ausrüsterfirmen Geld verdienten, unvereinbar mit dem Reglement.

Der Ausschluss von Schranz hatte ein langes Vorspiel: Die Debatte über Amateurstatut und Werbeverbot beschäftigte die Skiverbände schon einige Zeit, und dass Brundage eine Liste mit 40 Namen zusammengestellt hatte, die für den Ausschluss vorgesehen waren, war längst bekannt. Aber man hielt das für Schreckschüsse. Offenbar glaubte niemand, der IOC-Präsident könnte mit seiner Drohung Ernst machen.

Gescheiterte Opposition

Mitte Jänner stellten Sportfunktionäre aus Österreich, Frankreich und der Schweiz in einem ORF-Interview in Kitzbühel in den Raum, solidarisch zu handeln und geschlossen von den Olympischen Spielen abzureisen, sollte es zu Disqualifikationen kommen. Falls das eine Botschaft an Brundage gewesen war, so kam sie offenbar an. Dieser hebelte die Opposition aus, in dem er die Liste von 40 Namen auf einen einzigen – eben Schranz – reduzierte.

IOC-Präsident Avery Brundage, 1972
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31. Jänner 1972: Avery Brundage verkündet die Entscheidung des IOC

Das IOC beschloss die Disqualifizierung mit einer breiten Mehrheit von 28:14. Schranz, so die Begründung, habe schon jahrelang gegen die Bestimmungen verstoßen. Was daraufhin in Österreich einsetzte, ist ein Paradebeispiel kollektiver Hysterie.

Gekränktes Nationalbewusstsein

Schranz war in Höchstform gewesen und hatte als sicherer Sieger in der Abfahrt gegolten. Umso größer war die Enttäuschung. Schnell machte sich eine durch die Medien befeuerte Stimmung breit, das kleine Österreich sei um den verdienten Sieg geprellt worden. Ein emotionalisiertes „Wir“-Gefühl trieb beängstigende Blüten.

„Das österreichische Nationsbewusstsein definiert sich nach 1945 sehr stark über den Sport und besonders über die Erfolge im Wintersport“, sagt der Historiker Anton Tantner im Gespräch mit ORF.at. Der Ausschluss stellte die Identifikationsfigur Schranz infrage und wurde als Unrecht eingeordnet, das man sich als Kleinstaat von „den Großen“ gefallen lassen musste. „Das war für viele eine besondere Kränkung“, so Tantner.

Eine Welle der Empörung schwappte durch das Land. „Die Medien haben sich mit Begeisterung darauf gestürzt und die Stimmung verstärkt und verschärft“, so Tantner. Die Zeitungen des Landes starteten eine beispiellose Kampagne. Nur wenige Journalisten riefen angesichts der aufwallenden Emotionen zu Besonnenheit auf.

Im ORF machte sich Generalintendant Gerd Bacher höchstpersönlich für Schranz stark. Teddy Podgorski, damals Sport-Chef des ORF, erzählte kürzlich in Interviews mit dem „Falter“, dem „Standard“ und Ö1, Bacher habe sehr vehement eine Berichterstattung für Schranz angeordnet, die wesentlichen Anteil an der Massenbegeisterung hatte, die nun einsetzte.

Die Initiative für die Berichterstattung sei von Kreisky ausgegangen, so Bacher in einem ORF-Interview 2005. „Kreisky hat sich bei mir diese ganze Sache bestellt.“ Die Regierung sei keineswegs von der Situation überrollt worden, das Bundeskanzleramt war in alle Pläne involviert. Die Parteinahme für Schranz ging auch in der Politik über alle Parteigrenzen hinweg.

Boykott und Bomben

Die Medien mobilisierten für Schranz, während sie Brundage zum Feindbild erklärten. Dass er ein US-amerikanischer Milliardär war – böses Ausland, böser Kapitalist – diente ebenso also Angriffsfläche wie sein Alter – ein 84-jähriger Greis, der die moderne Welt laut seiner Kritiker nicht mehr verstand. Dass er gegen einen Boykott der Olympischen Spiele im nationalsozialistischen Deutschland 1936 gewesen war und festgestellt hatte, der Ausschluss von Juden von den Spielen sei kein Problem, denn in seinem heimatlichen Sportclub wären auch keine „Neger“ zugelassen, war kein Thema. „Brundage war Antisemit und Rassist“, stellte der Politikwissenschaftler Peter Filzmaier vor Kurzem in einem APA-Interview fest. Aber das interessierte damals niemanden.

Ein weiteres Ziel des Unmuts war Manfred Mautner-Markhof. Als langjähriges IOC-Mitglied hatte er noch vor der Schranz-Entscheidung ein Telegramm an Brundage geschrieben. Es sollte Brundage versöhnlich stimmen, wurde ihm aber als Zustimmung zum Ausschluss ausgelegt. Es kam zu Boykottaufrufen gegen Mautner-Markhof-Produkte, die firmeneigene Biermarke wurde als „Judas-Bier“ bezeichnet. Mitglieder der Familie wurden bedroht und angegriffen.

Empörte, zum Teil grob beleidigende Leserbriefe, die laufend veröffentlicht wurden, heizten die aggressive Stimmung an. Noch bedenklicher waren Tätlichkeiten gegen vermeintliche Schranz-Gegner. Es kam sogar zu Bombendrohungen und einem Brandanschlag auf das Haus des Präsidenten des Österreichischen Olympischen Comites (ÖOC). In Japan ging das Drama um Schranz inzwischen weiter.

Schranz sollte entscheiden

Als der Ernstfall eintrat, verflogen alle Absichtserklärungen, von Solidarität und Boykott war nicht mehr die Rede. Nicht einmal das österreichische Team konnte ein gemeinsames Vorgehen beschließen. Einige Fahrer und Fahrerinnen des Skiteams waren offen dagegen, ihre Chancen wegen Schranz aufzugeben. So richtete sich der Unmut mancher Österreicher und Österreicherinnen auch gegen die Haltung der Funktionäre und des Teams.

1972

Die Welle der Empörung erfasste alle Gruppen der Gesellschaft.

Niemand wollte die Entscheidung treffen, nach Hause zu fahren, niemand wollte Schranz zum Rückzug auffordern. Ein Schlupfloch blieb: Schranz selbst sollte entscheiden. Auf einer Pressekonferenz in Sapporo entfaltete sich die österreichische Lösung: ÖSV-Präsident Karl Heinz Klee verkündete den Rückzug des Skiteams, worauf Schranz bat, alle anderen sollten bleiben. Er wolle nicht der Anlass sein, dass sein Land von den Spielen ausgeschlossen bleibe. Ein inszenierter Rückzug zugunsten des Teams, der das Opferimage noch verstärkte.

„Der Karli soll leb’n“

Bis zur Ankunft des Skistars in Wien am 8. Februar schaukelte sich die Stimmung hoch. Innerhalb kürzester Zeit wurden vier Schallplatten mit Schranz-Songs veröffentlicht. Am schnellsten waren Andre Heller und Georg Danzer, deren Lied „Der Karli soll leb’n, der Brundage steht daneb’n“ aus den Lautsprechern dröhnte, als Schranz auf dem Flughafen Schwechat begrüßt wurde.

1972

Als Schranz im Dienstwagen von Minister Fred Sinowatz nach Wien fuhr, säumten rund 100.000 Menschen den Weg

Beim Empfang im Bundeskanzleramt lehnte es Bundeskanzler Bruno Kreisky zunächst ab, mit Schranz auf den Balkon zu treten, um der Menschenmenge zuzuwinken. „Das ist für Sie, nicht für mich“, so Kreisky, der erst bei der dritten Aufforderung Schranz auf den Balkon folgte. Eine aufgepeitschte Menge auf dem Heldenplatz und Ballhausplatz, die einem Idol zujubelte – das machte dann doch nachdenklich.

Karl Schranz bei Bundeskanzler Bruno Kreisky
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Einen Empfang auf dem Heldenplatz lehnte Kreisky ab, gegen einen medienwirksamen Besuch im Kanzleramt hatte er keinen Einwand

Später sagte Kreisky, es sei ihn ein „kalter Schauer“ angesichts der Menschenmenge überkommen. Die Mobilisierungskraft der Medien und speziell des Fernsehens hatten ihn überrascht. „Gott sei Dank“, so Kreisky, „ist das nur für einen Sportler und nicht für einen Politiker.“

Ein Jubel mit Folgen

Schranz trat kurz danach enttäuscht vom Skisport zurück. In einer jüngst ausgestrahlten ORF-Dokumentation zog er ein treffendes Fazit des Empfangs, der ihm bereitet worden war: „Das war eine gute G’schicht“, so Schranz. „Es war auch gut für die Geschichte. Nur für mich war es nicht gut.“

Die „G’schicht“ hatte Folgen. Kreiskys „kalter Schauer“ resultierte in einer Attacke gegen Bacher, weil dieser seine weitreichenden Kompetenzen als Generalintendant zur Mobilisierung für den Schranz-Empfang genutzt hatte. 1974 beschloss die Regierung Kreisky ein neues Rundfunkgesetz, das die Weisungsbefugnis des ORF-Generalintendanten für die Programmgestaltung beschränkte.

Das IOC überdachte nach Sapporo die Bestimmungen zu Amateurstatus und Werbeverbot. Dass Sportler und Sportlerinnen heute abseits von Olympia Werbeträger ihrer Sponsoren und Ausstatter sind, ist selbstverständlich geworden. Die Olympischen Spiele selbst sind schon längst nicht mehr werbefrei. Zwar ist den Teilnehmern und Teilnehmerinnen individuelle Werbung untersagt, aber Großsponsoren bespielen die Werbeflächen an Ort und Stelle und in den Medien. Das Geschäft mit dem globalen Großereignis läuft gut.