Paul Austers Verneigung

Stephen Cranes kurzes Leben für die Literatur

Der 75-jährige Paul Auster, Millionen-Bestsellerautor und Meister der postmodernen Fiktion, wagt sich noch einmal auf neues Terrain vor – mit einer Biografie. Geplant war ein „schmaler Band“ über den im Jahr 1900 jung verstorbenen amerikanischen Schriftsteller und Kriegsreporter Stephen Crane – geworden ist es ein Monumentalwerk.

Eigentlich wollte Auster nach Veröffentlichung seines umfangreichen Romans „4 3 2 1“ im Jahr 2017 eine Schreibpause einlegen. „Ein bisschen ausspannen und endlich lesen, was ich schon immer lesen wollte“, wie er im Interview erzählt. Doch dann kam ihm eine Werksammlung des 1871 geborenen Autors Crane in die Quere – ein Klassiker im englischsprachigen Raum und Pflichtlektüre für Generationen amerikanischer Schülerinnen und Schüler. Auster selbst hatte als 15-Jähriger an der Highschool mit Cranes Bürgerkriegsroman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ ein literarisches Erweckungserlebnis, bevor er ihn fast fünf Jahrzehnte später wiederentdeckte:

„Bis Crane hatte kein Schriftsteller englischer Zunge je eine so waghalsige Reduktion erzählerischer Elemente unternommen (…), eine neue Art von Kriegsroman, ein Roman, in dem es nicht um das Große geht, nicht um den Zerfall eines Landes, (…) sondern das Kleine, die Rolle eines einzigen Mannes in dem Konflikt, der im Grunde noch ein Junge ist, ein Heranwachsender, der zum ersten Mal in die Schlacht geworfen wird.“

Prominente Bewunderer

Auster ist nicht der einzige prominente Bewunderer Cranes. Niemand Geringerer als Ernest Hemingway stand in seiner Tradition und verewigte ihn in seinem Werk. H. G. Wells sagte über ihn: „Ohne Frage, der beste Schreiber unserer Generation.“ Und Cranes vorzeitigen Tod bezeichnete er als „unwiderruflichen Verlust für unsere Literatur“. Cranes bester Freund der letzten Jahre, der Schriftsteller Joseph Conrad, stellte den Neid auf das Talent des Jüngeren offen zur Schau: „Ich würde Dich gern verfluchen, Dich segnen – Dich vielleicht erschießen – aber ich ziehe es vor, Dein Freund zu sein.“

Dennoch gilt Crane heute vielerorts als vergessen. Außerhalb des englischsprachigen Raums dürfte sein Name ohnehin nur in anglistischen Fachkreisen ein Begriff sein. Unverständlich für Auster, der den „Wegbereiter der Moderne“ mit einer umfangreichen Annäherung nun aus der Versenkung holen will. Drei Jahre lang hat der Autor jedes überlieferte Wort seines vor über 120 Jahren verstorbenen Kollegen gelesen, Fotos, Augenzeugenberichte und Briefe durchforstet und geschrieben.

Sozialkritik auf Amerikanisch

In seiner nur 28-jährigen Lebenszeit hat Crane ein beachtliches Werk hinterlassen: Ein Roman, mehrere Novellen, Dutzende Erzählungen, Gedichte und über 200 Artikel für New Yorker Tageszeitungen zeugen von intensiver Schreibtätigkeit. Geboren in der gleichen Stadt wie Auster, nämlich Newark, New Jersey, als Sohn eines Methodistenpfarrers und dessen Frau, die Artikel und kleine Geschichten verfasste, rebellierte das jüngste von 14 Kindern früh. Bereits im Alter von sechs Jahren soll Crane geraucht und getrunken haben. Das College beendete er nie, stattdessen begann er schon als Jugendlicher, journalistisch zu arbeiten.

Seine ersten literarischen Werke, darunter die bekannte Novelle „Maggie, das Mädchen von der Straße“ über den Werdegang einer Prostituierten, publizierte Crane mit Anfang 20, noch ohne nennenswerte Lebenserfahrung, wie Auster betont, jedoch mit der nötigen Neugier. Als Bettler verkleidet erkundete er die Armenviertel New Yorks und schulte seinen Blick für verschiedenste Milieus und Lebenswelten. Crane war einer der ersten Autoren seiner Generation, der als sozialkritisch bezeichnet werden kann, jedoch ohne, wie Auster betont, urteilend zu schreiben:

„Zum ersten Mal in der amerikanischen Literatur wird dem Leser nicht gesagt, was er zu denken hat. Er wird lediglich aufgefordert, die Geschehnisse im Buch mitzuerleben und dann seine eigenen Schlüsse zu ziehen.“

Literaturhinweis

Paul Auster: In Flammen. Rowohlt, 1.200 Seiten, 35 Euro.

Ein ewig Rastloser

Crane hielt es nicht lange an einem Ort. In England lebte er in wilder Ehe mit der Bordellbetreiberin und Schriftstellerin Cora, die seine letzten vier Lebensjahre mit ihm verbrachte. Als Berichterstatter war er 1897 im Türkisch-Griechischen Krieg und ein Jahr später im Spanisch-Amerikanischen Krieg an vorderster Front. Auf der Überfahrt nach Kuba erlitt er Schiffbruch und trieb mit drei Besatzungsmitgliedern zwei Tage in einem kleinen Rettungsboot auf offener See, ein Erlebnis, das er in seiner wohl berühmtesten Erzählung „Das offene Boot“ verarbeitete. „Manche meinen, die Geschichte sei die beste, die überhaupt je einer bei uns geschrieben habe. Könnte sein, dass das stimmt“, so Auster.

Mit 28 starb Crane an Tuberkulose. Ähnlich wie bei Georg Büchner oder Georg Trakl haftet das Image des jung verstorbenen Genies an ihm. In seinem Buch beschäftigt Auster auch, was der Welt durch den frühen Tod des jungen Autors wohl vorenthalten worden ist. Vieles bleibt Spekulation.

Ansteckender Enthusiasmus

Auster hat dem Forschungsstand mit seiner Crane-Würdigung nicht unbedingt bahnbrechende Erkenntnisse hinzuzufügen. Er selbst beruft sich in Fußnoten immer wieder auf bereits vorhandene Biografien. „In Flammen“ leistet vor allem ein Close Reading des literarischen Werks Cranes, das Auster mit Lebensbeschreibungen verwebt. Die Generalprobe hierfür dürften seine Essays über andere Künstler, die ihn bewegten, gewesen sein, die im letzten Jahr im Sammelband „Mit Fremden sprechen“ auf Deutsch erschienen sind.

Dass Auster ungemein unterhaltsam vorgeht und sein Enthusiasmus ansteckend wirkt, versteht sich von selbst. Und wer durch Auster auf den Geschmack gekommen ist, der wird mit Neuübersetzungen dreier Werke Cranes im Pendragon-Verlag fündig.