Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne)
APA/Hans Punz
Sideletter-Affäre

Regierung unter Zugzwang

Der Druck auf die Koalition ist durch das Bekanntwerden der Sideletters (ÖVP-FPÖ und ÖVP-Grüne) weiter gestiegen. Das ÖVP-Grünen-Bündnis befindet sich wegen der Pandemiebekämpfung und den ÖVP-Korruptionscausen ohnehin im ständigen Unruhezustand. Nun ist auch das Saubermann-Image der Grünen schwer angepatzt. Für die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle ist gegenüber ORF.at klar: Die Regierung sei jetzt „auf jeden Fall unter Zugzwang“.

Und Stainer-Hämmerle ist in ihrer Einschätzung nicht allein. Der Politologe, Experte für Parteienfinanzierung und Proponent des Antikorruptionsvolksbegehrens, Hubert Sickinger, drückt es mit Understatement so aus: Eine Transparenzoffensive – etwa die Verabschiedung des versprochenen Parteiengesetzes und des Informationsfreiheitsgesetzes – würde jetzt „der Regierung gut anstehen“.

Der Politologe Peter Filzmaier wiederum ist so wie Stainer-Hämmerle überzeugt, dass sich diesbezüglich nun auch was tun wird, fügt aber einschränkend hinzu: „in abgespeckter Form“. Sickinger hofft, dass der bevorstehende ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss und die gleichzeitig Anfang Mai stattfindende Eintragungswoche für das Antikorruptionsvolksbegehren für den nötigen Druck sorgen werden, um Veränderungen herbeizuführen.

Internes Vertrauen bei Grünen schwer beschädigt

Für die Grünen war Transparenz in der Koalition neben Klimaschutz eines der „Leuchtturmprojekte“, so Stainer-Hämmerle. Für die Grünen sei die Sideletter-Affäre daher der größere Imageschaden, ist sie mit Filzmaier einer Meinung. Die ÖVP sei ja bereits mit anderen schwerwiegenderen Causen beschäftigt – etwa den Korruptionsvorwürfen rund um mutmaßlich von Steuerzahlern finanzierte Umfragen und Inseratendeals, in denen auch gegen die Partei selbst ermittelt wird.

Dass Grünen-Chef und Vizekanzler Werner Kogler das Kopftuchverbot akzeptierte und vor dem Grünen Bundeskongress geheim hielt, sei ein schwerer Vertrauensbruch. Solange die Grünen Erfolge hätten und die Umfragen stimmten, werde die Basis die Koalition nicht infrage stellen. Aber der interne Frust könne bei einem anderen Konfliktthema, etwa Migration, rasch reaktiviert werden.

„Vielleicht noch ein Glück“

Andererseits sei für die Grünen das Publikwerden und der öffentliche Druck in gewisser Weise „vielleicht noch ein Glück“. Es könnte dazu führen, „dass die ÖVP jetzt mitziehen wird“ bei Maßnahmen für mehr Transparenz, so Stainer-Hämmerle. Denn alle drei Fachleute sind sich einig, dass die ÖVP entsprechende Gesetzesvorhaben bisher eher in die Länge zog.

So lag im Frühjahr 2021 bereits ein Entwurf zum Informationsfreiheitsgesetz vor. Er wurde dann im Spätherbst koalitionär – unter Verweis auf Widerstand aus den Ländern – begraben. Und am Parteiengesetz arbeitet die Koalition – bisher, ohne dass ein Ende absehbar sei. Im Herbst machte der Rechnungshof, ungeduldig geworden, sogar den ungewöhnlichen Schritt, von sich aus einen Entwurf zu präsentieren.

Das fehlende „Regulativ“

Filzmaier verweist darauf, dass in der Bevölkerung wohl nicht ganz zu Unrecht die Überzeugung vorherrsche, Postenschacher, wie er in den beiden Sidelettern teils offen zutage tritt, würden praktisch alle Parteien betreiben. Damit aber fehle „das Regulativ“ – sprich: die Angst vor deutlichen Wählerstimmenverlusten – für durchgreifende Maßnahmen.

Grenzen der Transparenz

Sickinger wiederum betont, Sideletter würden auch von einem Informationsfreiheitsgesetz nicht erfasst. Sehr wohl könnten dann aber etwa Personaldeals wie bei den Casinos Austria – der Wiener FPÖ-Bezirksrat Peter Sidlo wurde Vorstand – durch Auskunftsansuchen erfragt werden, da der Staat eine Beteiligung an den Casinos hält.

Filzmaier hält eine rechtliche Verpflichtung, alle Koalitionsvereinbarungen zu veröffentlichen, wie es Kogler vorschlug, inhaltlich für einen überlegenswerten Ansatz. Mündliche Absprachen werde es dann freilich weiter geben, so Stainer-Hämmerle.

Postendeals per Sideletter

Vor einer Woche wurden geheime Sideletter zwischen ÖVP und FPÖ und ÖVP und Grünen zusätzlich zu den jeweiligen Koalitionsvereinbarungen bekannt. Darin geht es um Inhaltliches, insbesondere aber das Vorschlagsrecht für Chefposten an Höchstgerichten, Nationalbank, ORF, bei staatlichen Beteiligungen und anderen Institutionen. Dabei wurden von ÖVP und FPÖ jeweils auch konkrete Namen festgehalten.

Flashback in 1950er Jahre

Sideletter, wie in den Regierungen von Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sind keine Besonderheit, wie Sickinger und Filzmaier betonen. Nach der Wiederaufnahme der Großen Koalition zwischen SPÖ und ÖVP 1986 gab es stets solche Absprachen. Die Praxis reicht in die Anfänge der Zweiten Republik zurück. Von den ÖVP-SPÖ-Koalitionen 1949 und 1953 wurden die Regierungsvereinbarungen, die nur aus Personalabsprachen bestanden, erst gar nicht veröffentlicht. Als Zeitungen die geleakten Vereinbarungen öffentlich machten, wurden Koalitionsvereinbarungen schließlich veröffentlicht, die Personalabsprachen wanderten in geheime Sideletter.

Auch das Demokratieverständnis, dass Regierungsparteien Positionen nach eigenem Gutdünken mit Leuten aus ihren eigenen Reihen bzw. Vertrauten – und das oft doppelt (einmal ÖVP, einmal SPÖ) zu besetzen, stammt nach Ansicht Filzmaiers aus den 1950er Jahren. Damals sei das auch in der Bevölkerung akzeptiert gewesen. Dafür habe es zwei Argumente gegeben, die breit akzeptiert waren: Damit sollte verhindert werden, dass Ex-Nazis Posten besetzen; andererseits sollten die Absprachen beim Überwinden des infolge des Bürgerkriegs 1934 bestehenden Misstrauens zwischen ÖVP und SPÖ helfen.

Das damalige Verständnis von Parteiendemokratie und Patronagepolitik sei freilich längst veraltet – die Parteien würden dem aber immer noch anhängen, so Filzmaier.

Wichtige Differenzierung

Filzmaier zufolge ist es bei aller Empörung wichtig zu differenzieren: Dass Regierungspartner vereinbaren, wer welche politische Position besetze, sei völlig legitim. Völlig inakzeptabel sei das aber bei Posten wie den Vorsitz von Gerichten oder Posten in staatsnahen Betrieben, für die eine Ausschreibung nötig sei.

Hier könnten Parteien freilich Kandidatinnen oder Kandidaten vorschlagen, aber die Auswahl müsse transparent sein und solche Positionen könnten nicht vor einer Ausschreibung de facto vergeben werden. Das könne teils auch kompetente Ernennungen, etwa den aktuellen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), Christoph Grabenwarter, beschädigen. Die Auswahl – etwa bei Gerichten – müsse daher künftig von einem ausgewogenen Gremium getroffen werden, so Stainer-Hämmerle. Die „Unterkante“ dafür sei eine von den Parteien paritätisch besetzte Kommission. Justizministerin Alma Zadic (Grüne) hat eine Reform angekündigt, eine Einigung mit der ÖVP steht allerdings noch aus.

Stainer-Hämmerle warnt zugleich davor, das Engagement in oder für eine Partei dürfe nicht automatisch zu einer negativen Punzierung führen. Das mache es für Parteien noch schwieriger, qualifiziertes Personal zu rekrutieren und zu binden.