Fotos in Insta-Manier

Lars Eidingers Blick auf die Welt

Lars Eidinger ist der Hipster unter den Schauspielern, berühmt für seinen Totaleinsatz auf der Bühne. Und er fotografiert fast obsessiv im Alltag, womit er sich auf Instagram zur öffentlichen Figur macht – mit 184.000 Followern. In Wien zeigt Eidinger nun seine erste Fotoausstellung in Österreich. ORF.at hat mit ihm über seinen Blick auf die Welt und den „genderfluiden Jedermann“ gesprochen.

Wenn man will, kann man Eidinger in die Skiferien begleiten. Oder mit ihm nach Paris fahren und dabei sein, wenn er Richard III. als One-Man-Show spielt. Ja, sogar bis ins Hotelzimmer lässt er einen rein. Seit Jahren dokumentiert der Schauspieler seine Hotelaufenthalte in der Serie „Hotel Room“ mit jeweils einem Bild des unberührten Bettes bei der Ankunft und einem zerwühlten Danach – „In Bed with Lars“. Eidinger ist ein öffentlicher Mann, zumindest auf Instagram. Der Witz an der Sache: Er selbst bleibt dabei im Hintergrund, Selfies gibt es keine. Ein Fotoleben, in dem er Regisseur und Akteur ist, aber niemals Objekt.

Mit sechs Jahren begann Eidinger zu fotografieren. Sein erstes Foto kann man jetzt in der Ausstellung „LIVE“ in der ALBA Gallery in Wien sehen, es zeigt einen Hamster, der in einer Klopapierrolle steckt. Das unscharfe Blitzlichtfoto aus den frühen Achtzigerjahren, vergrößert und gerahmt, ist ein guter Einstieg in die Bilderwelt des Lars Eidinger. Absurde Momentaufnahmen liegen ihm, technische Perfektion ist kein Thema. Eine Zeit lang fotografierte er mit Spiegelreflexkameras, heute findet er spontane Aufnahmen mit dem Smartphone unmittelbarer.

Fotostrecke mit 4 Bildern

Bild 1: Hamster in WC-Rolle; Bild 2: Schornsteine und Rauch
ALBA Gallery GmbH
Links: Lars Eidinger: Berlin, 1982; Rechts: Lars Eidinger: Cleveland, 2021
Religiöses Foto in Starbucks-Kaffee-Becher
ALBA Gallery GmbH
Lars Eidinger: Salzburg, 2021
Jesu-Kreuz als Uhr
ALBA Gallery GmbH
Lars Eidinger: A.D. 2022
Foto 1: Person sitzt auf Einkaufswagen; Foto 2: Kuchen in Plastiksackerl
ALBA Gallery GmbH
Links: Lars Eidinger Berkley, 2018; rechts: Lars Eidinger: Mortefontaine, 2021

Störfälle

Oft zeigen seine Fotos Ausschnitte aus einem Alltag, bei dem irgendetwas nicht stimmt. Da steht ein Stuhl, wo er nicht hingehört, da türmt sich ein rätselhafter Haufen Kleider auf, da hängt ein Mobilklo auf einem Baugerüst oder wirft ein Teppich bizarre Falten. Eidingers Radar ortet auf der Straße visuelle Störfälle, die jeder sehen könnte, aber offenbar nicht sieht. Da sieht eine Mauer plötzlich aus wie ein riesiger Zippverschluss, da wölben sich Pflastersteine auf, als ob die Erde Schluckauf hätte. Und wenn schon Natur, dann ein Baum, der sich beim Wachsen irgendwohin verirrt hat.

Der soziale Blick

Seine stärksten Bilder sind aber die, in denen Eidinger Störfälle im sozialen Gefüge ausmacht. Immer wieder hat er die „Unsichtbarkeit“ obdachloser Menschen fotografiert. Da hat sich ein Mensch aus einem Regenschirm und einem Stück Karton ein kleines Zelt gebaut und kauert darin mit seinem Hund, während ihm eine Touristin beim Fotografieren fast auf die Zehen tritt, weil sie mit dem Handy die Kathedrale von Notre Dame richtig ins Bild rücken will.

Auf anderen Fotos liegt ein Obdachloser in der Kälte – vor der Auslage eines geheizten Bettengeschäfts, oder eine Frau bäuchlings auf der Straße, den Arm mit dem Pappbecher in Richtung Kamera gestreckt – im Hintergrund die Geldautomaten einer Bankfiliale. So entsteht im fotografischen Kosmos Eidingers ein Abbild der Conditio humana, zwischen Supermarkt und rotem Teppich, ein Puzzle aus Obdachlosen und Prada, ein Fotoalbum aus schiefen Fliesen und verrutschten Wirklichkeiten – Symbolbildern einer erschöpften Zeit, voller Einsamkeit. Es gehe ihm nicht um Moral, sagt Eidinger, sondern um das Abbilden des Unsichtbaren.

Lars Eidingers Abkehr vom Geschlecht

Lars Eidinger erzählt im Interview mit ORF.at, wie die Abkehr vom normativen Geschlecht sich im Lauf seines Lebens vollzogen hat.

Unsichtbar

Es geht eine seltsame Transzendenz von Eidinger aus, eine Durchlässigkeit, etwas Unangreifbares. Manchmal hat seine Offenheit etwas von „tagheller Mystik“, wie Musil den „anderen Zustand“ bezeichnete. Dann kippt es wieder in kokette Jesushaftigkeit, die kaum erträglich ist. Und oft ist es einfach eine sympathische Form von Verlorenheit.

So stand im Sommer 2021 mitten unter den Dirndl, Janker und FFP2-Maske tragenden Gästen der Salzburger Festspieleröffnung ein Mann in übergroßer Chaneljacke, aufgekrempelten Cargohosen und Clarks. Die Figur erinnerte eher an ein Samuel-Beckett-Stück als an den „Jedermann“. Und so erkannten viele, die im Foyer des Festspielhauses an dem Mann vorbei gingen, gar nicht, dass es sich um Eidinger handelte.

Ausstellungshinweise

Die Ausstellung „LIVE“ mit Arbeiten von Lars Eidinger ist ab 9.2. in der Wiener ALBA Gallery zu sehen.

Katalog: Lars Eidinger: Autistic Disco. Hatje Cantz, 128 Seiten, 32 Euro.

Die Ausstellung „Klasse Gesellschaft“ in der Hamburger Kunsthalle ist bis 27. März 2022 zu sehen.

Katalog: Klasse Gesellschaft. Alltag im Blick niederländischer Meister. Mit Lars Eidinger und Stefan Marx. Hatje Cantz, 368 Seiten, 54 Euro.

(Narren-)Freiheiten

Wer prominent und unsichtbar zugleich ist, hat alle (Narren-)Freiheiten. Dennoch polarisiert der Fotograf und Instagram-Star und hat immer wieder Shitstorms geerntet. Zuletzt hielt er sich mit Thomas Ostermeier, Regisseur und Leiter der Berliner Schaubühne, in Paris auf, wo die Beiden das Erfolgsstück Richard III. alleine im Coronavirus-Notbetrieb bestritten. Wie immer auf seinen Reisen, zog Eidinger los, um zu fotografieren: Auf seinem Instagram-Account lud er unter dem (Handke-)Titel „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ ein minutenlanges Video hoch, auf dem Menschen am Seine-Ufer spazieren und fotografieren. Und wurde von seinen Fans beschimpft – weil er Menschen, ohne sie zu fragen, gefilmt hatte.

Erfolgreich läuft es zurzeit in Hamburg. Dort zeigt die Hamburger Kunsthalle unter dem Titel „Klasse Gesellschaft“ eine Ausstellung über das niederländische Goldene Zeitalter und stellt den größten Malern des 17. Jahrhunderts Kunstwerke von Eidinger und Stefan Marx gegenüber. Verblüffend, wie gut das aufgeht. In die bäuerlichen und bürgerlichen Szenen von damals funkt Eidinger mit Signalen aus der Gegenwart. Den Alltag einer Milchmagd von 1660 lesen wir heute in einem Gemälde des großartigen Vermeer. Den Alltag von 2022 mit seinen bizarren Verwerfungen wird man bis in alle Ewigkeit auf dem Instagram-Archiv von Eidinger finden.