Friedl Dicker-Brandeis, Kindergesicht, 1944; Beit Theresienstadt, Kibbutz Givat Haim–Ihud, Israel
Beit Theresienstadt, Kibbutz Givat Haim–Ihud, Israel
Friedl Dicker-Brandeis

Malunterricht im Konzentrationslager

Friedl Dicker-Brandeis (1898–1944) war eine Bauhaus-Malerin und -Designerin, eine überzeugte Kommunistin – und ein Lichtblick im Leben der Kinder im KZ Theresienstadt. Als Pionierin der Kunsttherapie ließ sie Schützlinge nicht den Horror des Alltags malen, sondern Blumen und ihre Träume. Dicker-Brandeis wurde in Auschwitz ermordet. In einer Personale im Linzer Lentos kann man nun einen Teil der damals entstandenen Kinderzeichnungen sehen.

Es sind die berührendsten Zeugnisse der Verfolgung von mehr als 10.000 Kindern, die in Theresienstadt interniert waren. Drei Viertel dieser jungen Menschen unter 15 Jahren haben nicht überlebt, sie wurden weiter nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Der emotionalen Kraft ihrer Bilder kann man sich schwer entziehen.

Bunte Marktstände, Pfadfinderlager oder Landschaften: Nur auf den ersten Blick vermitteln die Zeichnungen den Eindruck gängiger Kinderidyllen, sieht man genauer hin, erzählen sie oft von Traumatisierung und Orientierungsverlust. Es fehlen die „richtigen“ Dimensionierungen, die Sonne hat etwa ihren angestammten Platz verloren, wie auf einem Bild von der cirka elfjährigen Mariana Langova. Zwischen Bäumen, Wiesen und Bergen steht ein Mädchen Aug in Aug mit dem schwarz umrandeten Himmelskörper.

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Mariana Langová (1932–44), Ohne Titel; (Fantasielandschaft), 1943/44; Aquarell auf Papier, 22,3 × 31,5 cm
Jüdisches Museum, Prag
Mariana Langova (1932-44): Ohne Titel (Fantasielandschaft), 1943/44
Ruth Gutmannová (1930–44), Ohne Titel; (Mann mit Tieren), 1943/44; collage auf rotem Papier, 18,4×26,1cm
Jüdisches Museum, Prag
Ruth Gutmannova (1930-44): Ohne Titel (Mann mit Tieren), 1943/44
Sonja Spitzová (1931–44), Ohne Titel; (Abstrakte Komposition), 25.6.1944; Aquarell und Anilinfarben auf Papier, 13,8×20,9 cm
Jüdisches Museum, Prag
Sonja Spitzova (1931–44): Ohne Titel (Abstrakte Komposition), 25.6.1944
Karel Sattler (1932–44), Leben im Ghetto; (Beerdigung), 11.10.1943; Bleistift auf Papier, 20,4 × 29 cm
Jüdisches Museum, Prag
Karel Sattler (1932-44): Leben im Ghetto (Beerdigung), 11.10.1943
Eva Schurova (1935–44), Ohne Titel; (Biblisches Motiv), 1943/44; Pastellkreide auf Papier, 21 × 30,9 cm
Jüdisches Museum, Prag
Eva Schurova (1935–44): Ohne Titel (Biblisches Motiv), 1943/44

„Etwas aus dem Nichts kreieren“

Die Hoffnung – sie wollte Dicker-Brandeis, die in Theresienstadt im Kinderheim L-410 zwischen 1942 und 1944 Zeichenunterricht gab, dennoch nie aufgeben. Ganz im Gegenteil: „Sie hat gelehrt, dass wir etwas schaffen können, dass man aus dem Nichts etwas kreieren kann“, erzählt ihre Schülerin Ela Stein-Weissberger in einem Interview von 2011, das, archiviert im Forschungsprojekt „Sammlung Nationalfonds/ Zukunftsfonds“, im Onlinekatalog der Österreichischen Mediathek des Technischen Museums nachzuhören ist.

Dicker-Brandeis „wollte uns eine heile Kinderwelt vermitteln. Wir sollten unsere Wünsche, unsere Träume malen. Sie hat uns nie gesagt, dass wir zeichnen sollen, was wir sehen“, so schildert es die Holocaust-Überlebende Helga Kinsky in einem weiteren Gespräch. Zuversicht, Würde, ein Ausblick im Lageralltag, all das schwingt mit, wenn die Zeitzeuginnen von ihrer Lehrerin erzählen.

Bauhaus-Designerin und Kommunistin

Wer war diese mutige, als „klein, energiegeladen, temperamentvoll“ beschriebene Frau, die mit Konsequenz und Tiefgang unterrichtete, obwohl das in Theresienstadt gar nicht erlaubt war, sondern höchstens geduldet wurde? Wer den umfassenden Blick auf Dicker-Brandeis’ Leben und Werk werfen will, wird aktuell im Linzer Lentos fündig. 20 Jahre nach einer Ausstellung im Wiener Palais Harrach präsentiert man dort eine gelungene Personale der Designerin und Malerin.

Friedl Dicker-Brandeis, Das Verhör, 1934; Kunstsammlung und Archiv, Universität für angewandte Kunst Wien
kunst-dokumentation.com, Manuel Carreon Lopez
Das collagierte Großformat „Das Verhör“ (1934) spiegelt Dickers eigene Erfahrung wider

Geboren 1898 in Wien, studierte Dicker – so ihr Geburtsname – bei den Reformpädagogen Franz Cizek und Johannes Itten an der Wiener Kunstgewerbeschule und an der Wiener Privatschule, bevor sie zum renommierten Weimarer Bauhaus ging. Als eine der besten Bauhaus-Schülerinnen betrieb Dicker Mitte der 1920er Jahre gemeinsam mit Franz Singer ein Möbelatelier in Wien, das mit seinen kräftigen Farben zu den gefragtesten der Stadt zählte.

1931 wurde die engagierte Kommunistin, die auch Propagandaplakate für die Partei sowie Schwarz-Weiß-Collagen entwarf, wegen Passfälschung verhaftet. Die Erlebnisse im Gefängnis verarbeitete sie in ihrer wohl wichtigsten, verstörenden Gemäldeserie „Das Verhör“ (1934/35). Die politischen Umstände zwangen sie zur Emigration nach Prag und ins nordböhmischen Hronovs, wo sie psychologisch tiefgründige Porträts und Landschaften im Stil der Neuen Sachlichkeit malte und erstmals – inspiriert von ihren früheren Lehrern – auch Kinder unterrichtete.

Porträt Friedl Dicker-Brandeis, 1937/38; Kunstsammlung und Archiv universitat fur angewandte Kunst, Wien
Johannes Beckmann
Friedl Dicker-Brandeis (1898–1944) schuf ein vielfältiges Werk mit Zeichnungen, Gemälden, Fotocollagen, Filmausschnitten, Webmuster sowie Möbel- und Architekturentwürfen

Gemeinsam mit ihrem Mann Pavel Brandeis wird sie 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo Dicker-Brandeis ihre Pädagogik schließlich unter den schwersten Umständen erprobt und ausbaut. Im Lentos ist dieser Arbeit im KZ ein ganzer Raum gewidmet, für sie wurde Dicker-Brandeis weltberühmt.

„Vorzeigelager“ Theresienstadt

Im System des Holocaust kam Theresienstadt damals eine Sonderrolle zu. Mit dem KZ, das lange euphemistisch als „Altersghetto“ bezeichnet wurde, versuchten die Nazis ihre Vernichtungsmaschinerie zu verschleiern. In Theresienstadt waren viele Künstler und Intellektuelle interniert.

Das oft beschworene künstlerische Leben, das selbst organisierte Vortragsprogramm wurde von den Nazis geduldet. Die Begleitumstände im hoffnungslos überfüllten Lager waren Hunger, Kälte, eine hohe Sterblichkeit, und immer wieder gingen gefürchtete Transporte „in den Osten“.

Dicker-Brandeis hielt all das aber nicht ab, mit Engagement und unbeirrbarer Zuversicht ihre pädagogische Arbeit zu verfolgen. Den Unterricht gestaltete sie variantenreich: Sie brachte bisweilen Blumen mit, ließ die Kinder nach Postkarten berühmter Werke oder frei nach Rhythmik zeichnen, mit Trommelschlägen und Gesang als strukturgebendes „Mittel in ihrem Kampf gegen das Chaos der Zeit“.

„Fantasie anregen und Urteilskraft stärken“

Anlässlich des einjährigen Bestehens der Kinderheime schrieb sie 1943 die Grundprinzipien ihrer Kunsttherapie nieder, einen Aufsatz, der im Katalog nachzulesen ist und mit tiefgreifenden Überlegungen, emanzipatorischem Anspruch und einem unerschütterlichen Glauben beeindruckt: „Angestrebt wird die größtmögliche Freiheit des Kindes. Der Zeichenunterricht will nicht alle Kinder zu Malern machen, aber allen das Schöpferische, Selbstständige als Energiequelle erschließen oder besser erhalten, die Fantasie anregen, die eigene Urteilskraft und Beobachtungsgabe stärken.“

Ausstellungshinweis

Friedl Dicker-Brand­eis: Bau­haus-Schü­le­rin, Avant­gar­de-Male­rin, Kunstpädagogin. Lentos Kunstmuseum Linz, bis 29. Mai. Dienstags bis sonntags 10.00 bis  18.00 Uhr, donnerstags 10.00  bis  20.00 Uhr.

Und weiter: „[Man] kann einem Kind vielerlei zeigen: jede Art von Kunstwerken, alte und moderne, jede Art von Naturvorbild, um es zu bereichern. Es wählt nur, was es braucht. (…) man flöße ihm keinerlei Vorlieben ein.“ Im KZ malte Dicker-Brandeis selbst kaum mehr. Ihr letztes erhaltenes Bild stammt von 1944, ein aquarelliertes Kindergesicht ohne formale Verankerung auf der Bildfläche, mit eindringlich wachsamem Blick.

Schülerin begründet Kunsttherapie

1944 wurde Dicker-Brandeis nach Auschwitz deportiert. Sie folgte damit freiwillig ihrem Mann. Während dieser überlebte, wurde Dicker-Brandeis ermordet. Zuvor in Theresienstadt hatte sie dem Leiter des Mädchenheims Willy Groag einen Koffer mit 5.000 Kinderzeichnungen überreicht, die nach der Befreiung 1945 an die Prager Jüdische Gemeinde übergeben wurden.

Und Friedl-Dickers Werk wirkte weiter: Ihrer Schülerin Edith Kramer, die Dicker-Brandeis in Hronov unterrichtete, gelang 1938 die Flucht. Als Begründerin der Kunsttherapie trug Kramer die Ansätze ihrer Lehrerin weiter. „Für Friedl“ lautet die Widmung des in viele Sprachen übersetzten Klassikers „Kunst als Therapie mit Kindern“, der 1975 erstmals erschienen ist.