Militärfrachtmaschine am Flughafen in Kiev
Reuters/Valentyn Ogirenko
Ukraine-Konflikt

„Diplomatie und Abschreckung“

Der Reigen von Gesprächen auf höchster Ebene zur Lösung des Ukraine-Konflikts ist am Sonntag weitergegangen. Einen Tag nach seinem Telefonat mit Kreml-Chef Wladimir Putin sprach US-Präsident Joe Biden auch mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenski. Sie vereinbarten, am Prinzip von „Diplomatie und Abschreckung“ festzuhalten.

Das Gespräch habe etwa 50 Minuten gedauert, hieß es im Anschluss aus dem Weißen Haus. Nach US-Angaben bekräftigte Biden „das Engagement der Vereinigten Staaten für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine“. Die Ukraine warf westlichen Vertretern vor, mit ihren Warnungen vor einer bevorstehenden Invasion Panik zu schüren. „Uns ist klar, dass es Risiken gibt“, sagte Selenski. Jedoch sei „der größte Feind“ der Ukraine „derzeit Panik in unserem Land“.

Selenski soll Biden außerdem für die „kommenden Tage“ nach Kiew eingeladen haben. „Ich bin überzeugt, dass Ihr Besuch in Kiew in den kommenden Tagen (…) ein starkes Signal wäre und zur Stabilisierung der Lage beitragen würde“, zitierte das Büro des Präsidenten in Kiew am Sonntagabend aus dem Telefonat der beiden Staatschefs. In der Erklärung des Weißen Hauses nach dem Telefonat war diese Einladung nicht erwähnt worden.

Moskau hat nach westlichen Angaben in den vergangenen Monaten mehr als 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Russland bestreitet jegliche Angriffspläne und führt an, sich von der NATO bedroht zu fühlen. Der Kreml kündigte am Samstag einen Teilabzug seines diplomatischen Personals aus der Ukraine an und startete ein weiteres Militärmanöver im Schwarzen Meer nahe der annektierten Krim-Halbinsel.

Scholz reist nach Kiew und Moskau

Jeder müsse „verstehen, dass es eine sehr, sehr ernste Bedrohung des Friedens in Europa ist, die wir gerade erleben“, sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag in Berlin. Scholz reist am Montag nach Kiew und am Dienstag nach Moskau. Es gehe darum „auszuloten, wie wir den Frieden in Europa sichern können“, sagte er. „Die Ukraine kann sich sicher sein, dass wir die nötige Solidarität zeigen, wie auch in der Vergangenheit.“

Bericht zur Ukraine-Krise

ORF-Korrespondentin Verena Gleitsmann berichtet aus Deutschland über einen weiteren Versuch von Kanzler Olaf Scholz, am Montag in der Ukraine eine diplomatische Lösung zu finden.

Es wird erwartet, dass Scholz der Ukraine in Kiew weitere wirtschaftliche Unterstützung zusagt. Seit Beginn des Ukraine-Konflikts 2014 sind bereits fast zwei Milliarden Euro aus Deutschland in das Land geflossen. Die Ukraine wünscht sich von Deutschland auch Waffen, um sich im Ernstfall gegen Russland verteidigen zu können. In Bild TV verlangte Andrij Melnyk am Sonntag die sofortige Lieferung von 12.000 Panzerabwehrraketen. Die deutsche Regierung lehnt die Lieferung tödlicher Waffen an die Ukraine ab. Stattdessen könnte es nicht tödliche Rüstungsgüter wie Minenräumgeräte, Ortungsgeräte und Funkgeräte geben.

Appell an Putin: „Lösen Sie die Schlinge“

„Russlands Truppenaufmarsch kann man nicht missverstehen“, sagte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede nach seiner Wiederwahl am Sonntag. „Das ist eine Bedrohung der Ukraine und soll es ja auch sein.“ An Russlands Staatschef gewandt fügte Steinmeier hinzu: „Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine!“ Putin wies Berichte über Angriffspläne als „provokative Spekulationen“ zurück.

Polen stellte sich unterdessen auf eine weitere Eskalation ein. „Dazu zählen auch die Vorbereitungen der Chefs der Gebietsverwaltungen mit Blick auf einen eventuellen Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine, die wegen eines möglichen Konflikts in unserem Land Schutz suchen könnten", schrieb der Innenminister Mariusz Kaminski am Sonntag auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Telefonate ohne „grundlegende Veränderung“

Biden hatte Putin bereits in einem Telefonat am Samstag vor raschen und schwerwiegenden Folgen für Russland im Falle einer Invasion gewarnt. Aus US-Regierungskreisen hieß es, das Telefonat habe keine „grundlegende Veränderung“ gebracht. „Die Hysterie hat ihren Höhepunkt erreicht“, sagte Putins außenpolitischer Berater Juri Uschakow nach dem Telefonat. Er betonte zugleich, dass „die Präsidenten übereingekommen sind, die Kontakte auf allen Ebenen fortzusetzen“.

Satellitenaufnahme von Pribytki Airbase in Belarus
AP/Planet Labs PBC/Planet Labs PBC
Neue Satellitenbilder sollen die Lage an der Grenze zur Ukraine belegen

Die US-Regierung hatte in den vergangenen Tagen wiederholt vor einer „jederzeit“ möglichen Invasion gewarnt. In US-Medien war von einem möglichen Großangriff kurz nach Scholz’ Besuch in Moskau die Rede. Die US-Streitkräfte entsandten 3.000 zusätzliche Soldaten nach Polen, verlegten Kampfjets von Deutschland nach Rumänien und zogen fast alle verbliebenen US-Soldaten aus der Ukraine ab.

Putin warf den westlichen Verbündeten Kiews in einem Telefonat mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron unterdessen vor, der Ukraine „moderne Waffen“ zu liefern und damit „Bedingungen für mögliche aggressive Aktionen der ukrainischen Sicherheitskräfte im Donbass“ zu schaffen. In der ostukrainischen Donbass-Region kämpfen seit 2014 prorussische Separatisten gegen die ukrainische Armee.

Kiew will Luftraum offen halten

Die niederländische Fluggesellschaft KLM setzte ihre Flüge in die Ukraine bis auf Weiteres aus. Andere Fluggesellschaften könnten folgen, denn in Erinnerung an den Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges MH17 im Juli 2014 in der Nähe des ostukrainischen Konfliktgebiets steigen derzeit die Versicherungskosten. Kiew versuchte entgegenzusteuern: „Der Luftraum über der Ukraine bleibt offen, und der Staat arbeitet daran, die Risiken für Fluggesellschaften zu minimieren“, erklärte das Infrastrukturministerium. Um den Flugverkehr zu gewährleisten, will die Regierung mehr als 16,6 Milliarden Hrywnja (520 Millionen Euro) bereitstellen.

Ukraine: Lage weiter angespannt

In der Krise um die Ukraine gehen die USA von einem jederzeit möglichen Kriegsbeginn aus, während Russland das als unbegründete Hysterie und Kriegstreiberei bezeichnet. Unterdessen ziehen immer mehr Länder Personal aus ihren Botschaften in der Ukraine ab. Österreich will noch abwarten.

Die AUA beobachtet die Lage. „Zusammen mit den Behörden beobachten wir die Lage in der Ukraine laufend und nehmen gegebenenfalls weitere Anpassungen in unserem Flugplan vor“, sagte eine Sprecherin von Austrian Airlines auf APA-Anfrage. Die Sicherheit der Crews und Passagiere habe dabei oberste Priorität, sagte sie. Bereits vor einigen Wochen seien Übernachtungen in der Ukraine ausgesetzt worden, und man halte die Aufenthaltszeit der Crews so kurz wie möglich.

OSZE-Mission bleibt

Unterdessen beantragte die Ukraine eine Sondersitzung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), bei der Russland seine Militäraktivitäten erläutern solle. Die Sicherheitsorganisation solle innerhalb von 48 Stunden zu Beratungen über die russischen Truppenkonzentrationen rund um die Ukraine zusammenkommen, gab der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba am Sonnta bekannt. Das sei der „nächste Schritt“, nachdem das Nachbarland einer Aufforderung zur Offenlegung seiner Militäraktivitäten nicht nachgekommen sei. Grundlage ist das „Wiener Dokument“ über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen.

Am Freitag hatte das Weiße Haus US-Staatsbürger eindringlich zum sofortigen Verlassen der Ukraine aufgefordert, weitere westliche Länder schlossen sich dem an. Die Beobachtermission der OSZE in der Ostukraine war von den Ausreiseaufrufen ebenfalls betroffen. Ungeachtet dessen will die OSZE ihre Mission aber fortsetzen. Das russische Außenministerium kritisierte die Ausreiseaufrufe scharf. Hunderte OSZE-Beobachter sind seit März 2014 in der Ukraine stationiert und sollen vor allem in der Ostukraine die vereinbarte Waffenruhe zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischen Soldaten beobachten.

Eine explizite Reisewarnung aus Österreich gibt es nicht. Doch es wird zur Vorsicht geraten: „Aufgrund der durch die russischen Truppenbewegungen an der Grenze zur Ukraine ausgelösten Spannungen wird zurzeit von allen nicht unbedingt notwendigen Reisen in die Ukraine abgeraten“, schreibt das Außenministerium. Alle Reisenden und Auslandsösterreicher in der Ukraine sollen sich online registrieren und die Entwicklung der Lage in den Medien aufmerksam verfolgen. Für die Gebiete Donezk und Luhansk sowie für die Halbinsel Krim besteht zudem unverändert eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5).