Orhan Pamuk

Pest und Politik im Osmanischen Reich

In „Die Nächte der Pest“ erzählt Orhan Pamuk von einem Seuchenausbruch auf einer fiktiven Mittelmeer-Insel 1901. Das Thema passt in die Gegenwart, dabei fing der Nobelpreisträger schon lange vor der CoV-Pandemie mit dem Schreiben an. Anhand des historischen Settings thematisiert er Nationalismus und gesellschaftliche Dynamiken. Vor allem verblüfft aber das Spiel zwischen Fakten und Fiktion.

Eine paradiesisch gelegene Mittelmeer-Insel, auf der wohlduftende Rosen blühen, ist der Handlungsort von Pamuks neuem Roman: Aber auf Minger, so heißt das sonnenverwöhnte fiktive Eiland, häufen sich mysteriöse Todesfälle. Seuchenexperten werden auf die Insel geholt, analysieren die von Beulen gezeichneten Körper und schließen aus dem eigenen Erfahrungsschatz: Hier handelt es sich um die Pest. Sie schlagen Alarm, doch manch Verantwortlicher leugnet die unangenehme Wahrheit erstaunlich lange. Jener Seuchenexperte, der die Pest auf der Insel als Erster untersucht und diagnostiziert, wird auf mysteriöse Weise ermordet.

Pamuk fing bereits im Jahr 2016, also vier Jahre vor der CoV-Pandemie, mit dem Schreiben seines Werkes „Die Nächte der Pest“ an, nichtsahnend, dass er selbst einmal eine Pandemie erleben würde. Die Handlung seines Romans verlegte der türkische Literaturnobelpreisträger in die Zeit des Osmanischen Reiches, als tatsächlich vielerorts die Pest wütete. Es ist eben diese Mischung aus wahren und unwahren Versatzstückchen, die „Die Nächte der Pest“ zu einem so unterhaltsamen Buch machen.

Orhan Pamuk
APA/AFP/Ozan Kose
In Orhan Pamuks neuem Roman spiegelt sich die Gegenwart in der Vergangenheit

Ein Thema mit literarischer Tradition

Ob Daniel Defoe oder Albert Camus: Zahlreiche Autoren von Weltrang haben die Pest literarisch verarbeitet. In Camus „Die Pest“ fungiert die Seuche als Referenz auf den Zweiten Weltkrieg, die Erkrankung selbst steht für den Faschismus.

Bei Pamuk wird zwar auch die Seuche geschildert, doch konzentriert er sich vor allem auf die Auswirkungen, die der gesundheitliche Ausnahmezustand auf das gesellschaftliche Miteinander hat: Welche Maßnahmen werden ergriffen, oder eben nicht? Welche Folgen hat das für die Bevölkerung des Mikrokosmos Minger? Was wird von der Politik kommuniziert (und was nicht)?

Pamuk interessiert vor allem der gesteigerte staatliche Zugriff, der während einer gesundheitlichen Krise stattfindet: „Seuchen und alle Arten von Pandemien ließen, insbesondere in früheren Zeiten, Regierungen autoritärer werden. Und ich denke, dass das eine gute Allegorie sein kann“, sagt Pamuk gegenüber dem ORF.

Die Pest als gesellschaftlicher Zündstoff

Und obwohl die Seuche äußerst ansteckend ist, es kein Heilmittel gibt, und die Inselbewohner sich in einer sinnbildlichen Ausweglosigkeit befinden, werden zahlreiche Warnungen ignoriert und deren Verbreitung seitens der Politik unterdrückt – Stichwort: Meinungsfreiheit.

Cover des Buches „Die Nächte der Pest“
Hanser Verlag
Orhan Pamuk: „Die Nächte der Pest“, aus dem Türkischen von Gerhard Meier, Hanser Verlag, 696 Seiten, Euro 30,95

Stattdessen wird innerhalb der Inselbevölkerung – auf Minger leben Christen und Muslime – nach Schuldigen gesucht, die den Erreger eingeschleppt haben könnten. Schnell wird klar: Die Pest bietet gewaltigen Zündstoff. Letztlich wird auch noch gemordet, und manche Strömungen versuchen, politisches Kapital aus der aufgeheizten Lage zu schlagen. Anhand der Pest erzählt Pamuk sinnbildlich über Freiheit, Nationalismus und gesellschaftlichen Zerfall.

Pamuks Roman, der bereits letztes Jahr in der Türkei erschien, brachte dem in seiner Heimat umstrittenen Autor jedenfalls Ärger mit der Justiz ein: Der 69-Jährige wurde der „Beleidigung Atatürks und der türkischen Fahne“ beschuldigt. Das war jedenfalls die Lesart eines Rechtsanwalts aus Izmir, der Pamuk im November 2021 anklagte.

Der Hintergrund sind Ähnlichkeiten, die eine Figur im Buch mit dem türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk haben soll. In Pamuks Roman wird letztlich Minger in die Unabhängigkeit geführt, und zwar von einem Offizier namens Kamil, um den sich, vor allem nach dessen Tod, ein Personenkult entwickelt. In der neu gegründeten Republik wird sogar eine eigene Sprache gesprochen, nämlich Mingerisch.

Parallelen zur Gegenwart

Nicht nur die Klage zeigt: Die politische Parodie in „Die Nächte der Pest“ ist zwar stets verfremdet und die Handlung wohlgemerkt eine Mischung aus Fakten und Fiktion. Doch Pamuk schafft es, die politische Ausnahmesituation sowie aufkeimenden Nationalismus präzise zu entlarven.

Ähnlich verhält es sich mit den Vorgängen rund um die Seuche: Obgleich die Situation nicht mehr auszuhalten ist, zögert die Politik, vor allem zu Beginn, zu handeln, verheddert sich im politischen Klein-Klein und scheitert vor allem beim Umsetzen von Quarantäneregeln.

Lernen wir aus Krisen?

Diese werden ständig abgeändert und von Teilen der Bevölkerung nicht umgesetzt. Die Zerrissenheit innerhalb der Gesellschaft ist ein Leitmotiv des Textes. Auch wenn der Roman im historischen Gewand des Jahres 1901 daherkommt, erzählt „Die Nächte der Pest“ viel über die Gegenwart, viele Motive erkennt man aus der Coronavirus-Pandemie wieder.

Die Frage, ob die Menschheit aus früheren Fehlern bei der Einschätzung einer großen Krise lernen kann, kommt zwangsläufig auf. Es tut dem Roman gut, dass er sich letztlich auf die menschliche Erfahrung fokussiert. Pamuk schildert, wie aus der Pest und der veränderten gesellschaftlichen Dynamik politisches Kapital geschlagen wird.

Veranstaltungshinweis

Orhan Pauk liest am 24. März im Wiener Konzerthaus um 19.30 Uhr aus „Die Nächte der Pest“

Erzählerin nähert sich Geschichte an

Was den insgesamt siebenhundert Seiten langen Roman Pamuks so besonders macht, ist die Erzählperspektive: Die Erzählerin namens Mina Mingerli – sie stellt sich nicht etwa als Schriftstellerin, sondern als Historikerin vor – beschreibt die Geschehnisse auf eine oft sehr mitfühlende und manchmal sehr amüsante Art und Weise, wovon der Roman mit seinem tristen Thema sehr profitiert.

Mit der Zeit stellt man jedoch fest, dass die Erzählerin nicht immer verlässlich zu sein scheint: Besonders interessant ist, dass sie in der Einleitung ihren Text sowohl als „historischen Roman“ als auch als „Geschichtsbuch in Romanform“ bezeichnet.

Der Roman spielt mit diesen Polen – angebliche historische Verbürgtheit einerseits und ausuferndes und unterhaltsames Erzählen, dem man nicht ganz trauen kann, andererseits. Das macht „Die Nächte der Pest“ zu einem lebhaften und spannenden Text, in dem es um das Gestern und das Heute, aber vor allem um das Zusammenspiel zwischen Wahrheit und Unwahrheit geht. Es darf nicht nur aufgrund der titelgebenden Thematik als ein Buch, das die Gegenwart erhellt, gelesen werden.