Kuh Luma in der Dokumentation „Cow“
Mubi
„Cow“

Auf Augenhöhe mit der Milchkuh

Im Dokumentarfilm „Cow“ begleitet die britische Regisseurin Andrea Arnold eine Milchkuh in deren „Alltag“. Die Frage, woher Menschen das Recht nehmen, Kühe in ein solches Dasein zu drängen, stellt sie in dem einfühlsamen Porträt, das mit dem Tier auf Augenhöhe bleibt, nur indirekt.

Für die Milchproduktion ist es notwendig, dass eine Kuh trächtig wird und ein Kalb zur Welt bringt. Staksige Beine, wollige Locken an der Stirn, große Augen: Ein neugeborenes Kälbchen ist ein beliebtes Sujet in der Werbung und für Bauernhoferzählungen für Kinder. Wie es dann weitergeht, passt aber nicht so gut in Kinderbücher: Das Kalb wird in den meisten Fällen wenige Stunden nach der Geburt separat untergebracht, die Kuh wird zum ersten Mal gemolken. Denn nur dafür ist sie da: um Milch zu geben.

Arnold hat mit „Cow“ eine Langzeitdoku gedreht, die die Fakten in der industriellen Landwirtschaft abbildet, sachlich, wertungsfrei und ohne Kommentar. „Cow“ ist ihr erster langer Dokumentarfilm, in Arnolds bisherigen Kinoarbeiten geht es sehr oft um Varianten von Sehnsucht – in dem wilden Roadmovie „American Honey“ (2016) war es die Sehnsucht nach Selbstbestimmung, in „Wuthering Heights“ (2011) nach dem Roman von Emily Bronte ging es um den Wunsch, verstanden zu werden.

Tiere wie wir

Arnold ist eine Regisseurin, die sich um den emotionalen Realismus ihrer Protagonistinnen und Protagonisten bemüht, so verschlossen diese auch wirken mögen. Warum nun also eine Kuh, in diesem Film, der vordergründig so ganz anders ist? Die Wurzeln von „Cow“ hingen eng mit ihrer Kindheit zusammen, wie Arnold im Gespräch mit ORF.at erläutert: „Ich bin in einer Wohnsiedlung aufgewachsen, die inmitten von Industrieanlagen und Feldern lag.“

Durch diese Gegend streunte sie als unbeaufsichtigtes Kind, doch ihr jetziges Leben in London hat sie von der Natur entfernt: „Aber wir sind doch letztlich auch Tiere und brauchen die Natur, auch wenn wir Tiere sind, die Entscheidungen treffen können.“

Natur aus dem Werbeprospekt

„Ich wollte diesen Film machen, um mir anzusehen, wie die Wirklichkeit dessen aussieht, was wir von der Werbung als Natur verkauft bekommen. Vieles wollen wir wohl gar nicht wirklich wissen, weil das romantische Bild zu behalten einfacher ist“, so Arnold. „Cow“ begleitet also eine schwarzweiß gescheckte Kuh mit einer langen Nummer auf der gelben Marke an ihrem Ohr und dem Namen Luma durch ein Stück ihres Lebens.

Filmhinweis

„Cow“ läuft aktuell im Stadtkino Wien. „Cow“, „Milk“ und Andrea Arnolds Kurzfilme „Dog“ und „Wasp“ sind derzeit auf der Streamingplattform Mubi zu sehen.

„Mich hat diese mütterliche Existenz beeindruckt, die diese Kühe ihr Leben lang haben“, so Arnold. Sie werden gedeckt, sind trächtig, gebären, geben Milch, und dann geht es wieder von vorne los mit der nächsten Trächtigkeit, „oft 15-mal im Leben einer Milchkuh“.

Darin bestehe das Leben einer Milchkuh, „in einer ununterbrochene Mutterschaft, mit Eutern voll Milch“. Das System beruhe darauf, dass das immer so weitergeht, dafür existieren diese Kühe. „Aber sie haben nie eine Beziehung zu ihren Kälbern, obwohl Kühe einen so starken Herdentrieb haben.“

Eine Kuh mit Temperament

Die Farm im Film ist kein süßer kleiner Bauernhof und auch kein riesiger Milchindustriehof, sondern ein Familienbetrieb, dessen Milch in die Supermärkte der Umgebung geliefert wird und wo die Arbeiterinnen und Arbeiter Bezug zu den einzelnen Tieren haben. „Als wir denen erklärten, was wir vorhatten, erwähnten sie Luma und sagten, sie sei ziemlich temperamentvoll. Da wurde ich gleich hellhörig, denn um das Innenleben und den Willen eines Tieres zu erkunden, ist Temperament hilfreich.“

Kuh Luma in der Dokumentation „Cow“
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Mit „Cow“ gelingt Arnold eine empathische Annäherung an Luma – ohne sie zu vermenschlichen

Die Grundfrage, vor der Arnold beim Dreh ganz praktisch stand, drängt sich auch für das Filmpublikum auf: Wie kann Verständnis für die andere Kreatur, für dieses fremde, völlig andere Bewusstsein entstehen? Und dann ist da gleich die nächste Frage, die der Film nur implizit stellt: Woher nehmen Menschen das Recht, Kühe in ein solches Dasein zu drängen? Dieses Dasein beinhaltet ein Melkkarussell, lebenslange Gefangenschaft und körperliche Strapazen.

Kein „aktivistischer“ Film

Lumas Leben wird vom Verlust beherrscht, wenn ihr jedes neugeborene Kalb weggenommen wird und sie sich suchend danach umsieht. Es umfasst immer größer anschwellende Euter, bis sie als ältere Milchkuh ein Podest erklettern muss, um gemolken zu werden, weil ihre Zitzen sonst am Boden streifen. „Ich wollte keinen aktivistischen Film über Tierleid machen, sondern ich will bewusst machen, wie wir mit unserer Umwelt umgehen“, so Arnold. „Cow“ ist eine Übung in radikaler Empathie, ohne dass der Film die Kühe auch nur einen Moment vermenschlicht.

Und doch ist es, als wäre dieser jüngste Film ein Geschwisterfilm zu einem sehr frühen Kurzfilm von Arnold, „Milk“ aus dem Jahr 1998 über eine Frau, die nach einer Fehlgeburt um ihr Kind trauert und nicht weinen kann. In ihrem entsetzlichen Verlust findet sie keinen Trost bei ihrem Mann, sondern hat mit einem unbekannten jungen Mann Sex, der aus ihrer Brust Milch trinkt. Wer will, kann sich in „Cow“ an diese Verlusterfahrung erinnert fühlen.