Flüchtling in einem Camp auf Lesbos, Griechenland
Reuters/Gugliemo Mangiapana
„Paradies Europa“

Der falsche Traum vom guten Leben

Tagtäglich zeigt sich an den Grenzen Europas das Ausmaß von Europas gescheiterter Migrationspolitik. So unterschiedlich die einzelnen Schicksale der Geflüchteten auch sein mögen, was sie eint, ist wohl der Traum vom guten Leben im „Paradies Europa“. Woher dieser Traum kommt, welche Rolle Schlepper dabei spielen und warum es für alle an der Zeit ist, aufzuwachen, erklärte Migrationsforscherin Melita Hummel-Sunjic am Dienstag vor Journalistinnen und Journalisten.

Warum emigrieren Menschen nach Europa? Eine Frage, mit der sich Hummel-Sunjic schon fast ihr ganzes Leben lang beschäftigt. Um Antworten zu bekommen, hat die langjährige Mitarbeiterin des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) mit rund 2.000 Geflüchteten gesprochen – vor deren Abreise, während der Flucht und bei deren Ankunft.

„Der Migrationsdruck beginnt im Heimatland, nicht erst an den Grenzen Europas“. Wenn die Geflüchteten vor den Grenzen Europas stünden, sei es schon zu spät. „Sie haben dann schon zu viel investiert, zu viel Geld, Zeit und Leid“, sagte Sunjic bei einem vom Presseclub Concordia und dem Forum Journalismus und Medien (fjum) organisierten Onlinegespräch.

Frau flüchtet vor dem Feuer im Camp von Moria, Griechenland
Reuters/Elias Marcou
Der Traum vom guten Leben in Europa endet nicht selten mit einem bösen Erwachen, hier in Moria, Griechenland

„All-inclusive-Trip“ nach Europa

Oftmals übersehen werde jene Rolle, die den Schleppern zukomme. In Afghanistan etwa sei die Schlepperindustrie ein großer Treiber von Migration. „Schlepper wenden sich direkt an die Väter. Sagen ihnen ‚Du hast einen 14-jährigen Sohn, er hat keine Zukunft hier, warum bringst du ihn nicht nach Europa?‘“

Die Migrationsforscherin Melita Hummel-Sunjic
ORF/Ursula Hummel-Berger
Sunjic, einst selbst in einem Flüchtlingslager aufgewachsen, arbeitete 25 Jahre bei der UNHCR und ist nun in der Migrationsforschung tätig

Es sei ein „All-inclusive-Trip“, wo die Söhne dann von einem „Onkel“ (Schlepper, Anm.) zur Grenze gebracht werden, wo schon der nächste „Onkel“ warte. Die jungen Afghanen seien oftmals völlig ahnungslos, wüssten nichts über Europa und seien entsprechend abhängig von den Schleppern.

In Ostafrika wiederum würden die Schlepper direkt auf die Söhne zugehen, die dann die Flucht hinter dem Rücken ihrer Eltern planen. „Die Schlepper treten etwa auf dem Fußballfeld mit den Jungen in Kontakt, erzählen ihnen, wie leicht und super alles ist, dass sie in Europa studieren und arbeiten könnten.“

Endstation Sklaverei

In Libyen würden die Geflüchteten dann aber oft gekidnappt und gefoltert. Zahle die Familie das geforderte Lösegeld, sei diese noch ärmer als zuvor. Doch „wenn sie das Geld nicht zahlen können, werden die Kinder oft als Arbeits- oder Sexsklaven missbraucht“.

Ein ähnliches Schicksal ereile Geflüchtete aus Westafrika – auch wenn diese oft besser gebildet seien und sich selbst mit öffentlichen Transportmitteln auf den Weg machen würden. Immer auf der Suche nach jenem besseren Leben, das in Europa auf sie warte, wie ihnen in ihrer Schulzeit immer vermittelt worden sei, so Sunjic. Europa werde, wie einst die USA, als das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ wahrgenommen.

Flüchtling vor dem Camp in Nicosia, Zypern
Reuters/Yiannis Kourtoglou
Warten im Flüchtlingslager – Bilder wie diese schaffen es wohl seltener in die sozialen Netzwerke der Geflüchteten

Geflüchtete wollen falsches Bild aufrechterhalten

Für diejenigen, die es tatsächlich nach Europa schaffen, eröffne sich aber meist ein ganz anderes Bild der Realität, fernab vom imaginierten „Paradies Europa“. Die meisten, mit denen Sunjic gesprochen habe, hätten niemals das gefunden, von dem sie geträumt hätten. Etwa einen Job oder Geld, das sie zu ihren Familien nach Hause schicken könnten. Stattdessen müssten sie oft jahrelang in Flüchtlingslagern ausharren, ohne Arbeitserlaubnis, ohne Perspektive und „ihrer Würde beraubt“.

Viele der Geflüchteten würden dennoch versuchen, das falsche Bild vor den Daheimgebliebenen aufrechtzuerhalten, zu beweisen, dass sie es „geschafft“ hätten, erzählte Sunjic. Das spiegle sich etwa darin wider, dass sie Fotos vor schönen Gebäuden der Stadt oder von schönen Autos in den sozialen Netzwerken teilen würden. Die überfüllten Flüchtlingscamps, der triste Alltag, die Armut, die auch in Europa herrscht, all das werde nicht gezeigt.

Migrantin beim Ausfüllen von Einreisedokumenten in Beirut
AP/Hassan Ammar
Was auf die Geflüchteten wirklich zukommt, etwa ein oftmals langwieriges Asylverfahren, wissen die wenigsten von ihnen, so die Expertin

Expertin fordert Informationskampagnen

Dazu komme: Wenn die Geflüchteten ihren Verwandten in der Heimat die realen Bedingungen schilderten, würden diese ihnen schlichtweg oft einfach nicht glauben. Oder es komme „kognitive Dissonanz“ ins Spiel – wenn also Menschen, die nach Europa kommen wollen, denken, ihnen könne das nicht passieren.

Hierbei gelte es auch anzusetzen, es brauche Informationskampagnen, „um die wahre Geschichte“ zu erzählen und so den falschen Versprechungen der Schlepper etwas entgegenzusetzen. Nur dann könnten Menschen auf Basis von echten Informationen Entscheidungen treffen. Klar sei aber auch: Informationskampagnen ersetzen kein Migrationsmanagement. Denn primäre Migrationsursachen seien nach wie vor Armut oder Krieg.

Schlepper: „Große Fische werden nie geschnappt“

Zudem müsse Europa sich stärker auf die Zerschlagung von Schleppernetzwerken und internationalen kriminellen Organisationen, die gefälschte Pässe und Visa vertreiben, konzentrieren. Informationen dazu seien leicht online zu finden, etwa in sozialen Netzwerken.

Doch „die großen Fische werden nie geschnappt“, es seien immer nur einzelne Fahrer, die für vergleichsweise wenig Geld Menschen über die Grenze schmuggeln, so Sunjic. Sie kritisiert die Herangehensweise der EU als „kurzsichtig“.

Schlepper-Lkw, der von der Polizei entdeckt wurde
LPD NÖ/LKA NÖ
Die EU müsse stärker im Kampf gegen das Schlepperwesen vorgehen – damit Szenen wie diese, ein Geflüchteter in einem Lkw in Niederösterreich, vermieden werden können

Gastarbeiterprogramm 2.0?

Übersehen werde zudem oft, dass viele Geflüchtete gar kein Asyl wollen. Doch das sei derzeit eben der einzige legale Weg, um nach Europa gelangen zu können. Monatlich würden rund 60.000 Geflüchtete ankommen, nur 35 bis 40 Prozent erhielten einen positiven Asylbescheid. Diese Verfahren sind „teuer, langwierig und frustrierend für alle“, meinte Sunjic.

Buchcover „Die von Europa träumen“
Picus Verlag
In „Die von Europa träumen“ trägt Sunjic literarisch ihre Erkenntnisse aus Jahrzehnten der Migrationsarbeit zusammen und zeigt, wie Flucht und Migration ablaufen.

Die Expertin plädiert nicht nur für schnellere und EU-weit einheitliche Asylverfahren, sondern auch für legale Wege, um eine Arbeitserlaubnis erhalten zu können. Hier schwebe ihr etwa ein „Gastarbeiterprogramm 2.0“ vor, bei dem Menschen eine Zeit lang in Europa Geld verdienen und danach wieder in ihre Heimatländer zurückkehren könnten.

Schließlich würde Europa ohnehin dringend Fachkräfte benötigen, sagte Sunjic und verwies auf Polen, wo es europaweit das größte Einwanderungsprogramm gebe. Laut einem OECD-Bericht möchte die Regierung in Warschau drei Millionen Migranten als billige Arbeitskräfte vor allem aus Belarus und der Ukraine holen. „Dasselbe Polen, das sagt, wir können keinen einzigen syrischen oder afghanischen Flüchtling aufnehmen, weil unsere Kultur unterwandert wird“, kritisierte Sunjic.

Abschließend meinte sie: „Flüchtlinge haben ein Recht auf Schutz. Den anderen müssten andere Möglichkeiten geboten werden.“ Doch stattdessen „schicken wir sie zurück, wenn sie physisch und mental zerstört sind“. Das sei weder mit europäischen Werten noch mit den Menschenrechten vereinbar.

Mirgation steht auch beim EU-Afrika-Gipfel am Donnerstag und Freitag ganz oben auf der Agenda. Konkrete Ergebnisse werden aber wohl weiter auf sich warten lassen.