In der spanisch-italienischen Produktion verliert eine katalanische Großfamilie ihre Lebensgrundlage auf einer Obst- und Gemüseplantage, weil dort ein Solarpark gebaut werden soll.
Alcarras ist der zweite Spielfilm von Simon, der erste war eine Umsetzung der die Geschichte ihrer Familie. Auch im Gewinnerfilm des Abends schildert sie nun Erfahrungen, die sie aus ihrer eigenen Verwandtschaft kennt: „Meine eigene Familie hat ebenfalls Pfirsichbäume, aber es wird immer schwieriger, faire Preise zu erzielen“, erzählte die Regisseurin schon vor ihrem Sieg gegenüber ORF.at
„Zärtlichkeit und Komik in der Familie“
„Oft kostet ein Kilo Früchte schon mehr in der Produktion als auf dem Markt. Meine Onkel wollen damit weitermachen, aber sie werden älter – und meine Cousins würden zwar gerne übernehmen, aber es ist kaum noch möglich, vom Obstanbau allein ein Leben in Würde zu führen“, so Simon. Das Porträt von Menschen, die kurz davor stehen, ihre Lebensgrundlage zu verlieren, hat sie lebensnah mit einem Laienensemble umgesetzt.
Die internationale Jury unter Leitung des US-Regisseurs M. Night Shyamalan begründete ihre Entscheidung bei der Preisverleihung unter anderem mit der „außergewöhnlichen Leistung“ der Schauspieler und der Fähigkeit des Films, „die Zärtlichkeit und Komik innerhalb einer Familie“ zu zeigen.
Ruth Beckermann ausgezeichnet
Gleich zwei Preise gingen an Österreicherinnen: Die 70-jährige Regisseurin Ruth Beckermann gewann am Abend bei der Preisgala zur 72. Berlinale mit ihrem Dokuprojekt „Mutzenbacher“ die Festival-Sektion Encounters. Darin werden 75 Männern unterschiedlichen Alters Passagen aus „Josefine Mutzenbacher“ vorgelesen, jenem erotischen Roman rund um eine Wiener Prostituierte, der 1906 anonym erschien und für Skandale sorgte. Als Verfasser vermutet man meist Felix Salten, später bekannt geworden durch seine Tiergeschichte „Bambi“. Die Textstellen dienen als Ausgangspunkt für Reflexionen über das eigene Begehren, Einstellungen zu Sexualität und den gesellschaftlichen Umgang damit.
„Das ist so unglaublich unerwartet für mich“, zeigte sich Beckermann überwältigt. Nachdem sie in den vergangenen Jahren zunehmend den Eindruck gehabt habe, dass die Welt kleiner werde, würden nun wieder die Horizonte geöffnet, wenn nicht mehr nur die einzelnen Gruppen sich selbst beleuchteten, sondern etwa Männer auf Frauen und Frauen auf Männer blicken würden.
Heimische Produktion bester Erstlingsfilm
Und der Debütspielfilm „Sonne“ der Wiener Regisseurin Kurdwin Ayub wurde als bester Erstlingsfilm gewürdigt. Der vom ORF im Rahmen des Film-/Fernsehabkommens kofinanzierte Film handelt von drei Wiener Teenagerinnen, die in einen Social-Media-Sturm geraten. „Das ist so cool!“, freute sich die 1990 geborene Filmemacherin Ayub auf der Bühne im Berlinale-Palast über die mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung der Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten (GWFF).
Ebenfalls im Wettbewerb war die Komödie „A Little Love Package“ des gebürtigen Argentiniers Gaston Solnicki zu sehen, eine österreichisch-argentinische Koproduktion, in einem als zeitlos charakterisierten, surrealen Wien.
Guantanamo als Komödienstoff
Im Rahmen des Wettbewerbs, der Hauptprogrammschiene der Berlinale, konkurrierten insgesamt 18 Filme um die Goldenen und Silbernen Bären. Von den Festivalbeobachtern hervorgehoben wurde „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“, die Geschichte der Mutter des auf Guantanamo festgehaltenen Murat Kurnaz. Dem schwierigen Thema zum Trotz ist dem deutschen Regisseur Andreas Dresen ein durchaus auch humorvoller Streifen gelungen. Die deutsche Autorin Laila Stieler bekam den Silbernen Bären für das beste Drehbuch, die Darstellerin Meltem Kaptan den Silbernen Bären für die Hauptrolle.
Hoch gehandelt war auch „Rimini“ worden, der vom ORF im Rahmen des Film-/Fernsehabkommens kofinanzierte neue Spielfilm des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl. Seidl, Garant für bisweilen abstoßende Sujets, schreckte auch diesmal nicht vor der Konfrontation mit dem Abseitigen zurück. Doch schon die Idee, einen abgehalfterten Schlagersänger und in die Jahre gekommenen Nebenerwerbsgigolo an der winterlichen Adria in den Mittelpunkt zu stellen, sorgte für Beachtung. In beiden Filmen stachen die Hauptdarsteller hervor: in Rimini Michael Thomas und Meltem Kaptan als Mutter Kurnaz „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“.
Verlusterfahrungen als großes Thema
Viele Filme im heurigen Wettbewerb beschäftigten sich mit Verlusterfahrungen, allen voran „Un ano, una noche“, der um die Traumabewältigung der Betroffenen des Terroranschlags auf den Pariser Konzertclub Bataclan kreist. Im Eröffnungsfilm „Peter von Kant“ ist es der Verlust des Geliebten, im zarten Beziehungsstreifen „Return to Dust“ der Tod der Ehefrau.
„Return to Dust“ fiel besonders durch die Kameraarbeit auf, genauso wie der Schweizer Beitrag „Drii Winter“. Die beiden so unterschiedlichen Filme verbindet die Ruhe ihrer Einstellungen, die präzise Beobachtung von Natur und Mensch.
Im mexikanischen Beitrag „Robe of Gems“ verliert eine Familie, die in das Haus der verstorbenen Großmutter gezogen ist, indem sie wieder zurück in die Stadt ziehen muss, denn die Waffenmafia scheint auf dem Land alles zu dominieren, bis hinein in die Polizei. Natalia Lopez Gallardo erhielt dafür den Preis der Jury.
Im Kino spricht man Französisch
Auffallend am diesjährigen Berlinale-Wettbewerb war die hohe Zahl frankofoner Produktionen: Vom Eröffnungsfilm „Peter von Kant“ über „La ligne“ aus der französischsprachigen Schweiz über den temporären Verlust der eigenen Familie, „Avec amour et acharnement“ über eine Frau zwischen zwei Männern, „Un ete comme ca“ über drei sexsüchtige Frauen bis zu „Les passagers de la nuit“, der eine Familie, die sich neu definiert, behandelt. Claire Denis, Regisseurin von „Avec amour et acharnement“, erhielt den Silbernen Bären für die beste Regie.
Der amerikanische Film „Call Jane“ behandelt das Thema Schwangerschaftsabbruch als Abtreibung von der Stange. Der deutsche Beitrag „AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe“ erzählt von der Beziehung einer von Sophie Rois gespielten, älteren Schauspielerin zu einem verhaltensauffälligen Jüngling. „Nana“ zeichnet ein exotisches Frauenbild aus Indonesien.
„Leonora addio“ von Paolo Taviani ist eine italienische Spezialität für Cineasten, der Dioramen-Film „Everything will be ok“ eine interessante Bereicherung für jene, die sich für etwas anders animiertes Kino interessieren.
Anders als die vielen Filme, die Verluste thematisieren, beschreibt „The Novelist’s Film“ von Hong Sangsoo aus Südkorea das Zusammentreffen zweier Künstlerinnen, aus deren empathischer Annäherung eine neue kreative Zusammenarbeit entsteht. Der Streifen gewann den Großen Preis der Jury.
Goldener Ehrenbär an Isabelle Huppert
Der Goldene Ehrenbär ging bereits am Dienstagabend an die französische Schauspielerin Isabelle Huppert. Die 68-Jährige war zur Verleihung in Berlin per Video von Paris aus zugeschaltet. Huppert musste ihren ursprünglich geplanten Besuch der Filmfestspiele kurzfristig absagen, weil sie positiv auf das Coronavirus getestet worden war.
Festivalleiterin Mariette Rissenbeek bezeichnete Huppert als „sehr passionierte Schauspielerin“, ihr Kollege Carlo Chatrian sprach von ihren Rollen als „Charakteren gegen den Mainstream“. Der Schauspieler Lars Eidinger, Partner Hupperts in ihrem jüngsten Film „A propos de Joan“, sprach von der vermeintlich verschlossenen Erscheinung. „In dem Moment, wo die Kamera läuft, öffnet sie sich.“
Huppert sagte, sie sei nicht allein in Paris, weil alle ihre bisherigen Filme bei ihr seien. Sie spielte in etwa 150 Kinofilmen, TV-Produktionen, Serien. Sie kündigte zum Vergnügen der Zuschauerinnen und Zuschauer in Berlin weitere 100 Filme an. „Kino lässt uns besser fühlen, macht uns glücklich“, sagte die Schauspielerin.
Publikumserfolg unter pandemischen Bedingungen
Vonseiten der Berlinale hat man unter den diesjährigen strengen CoV-Auflagen ein „reges Interesse“ beim Publikum und den Fachgästen registriert. Bis Montag seien 75.000 Karten verkauft worden, teilten die Filmfestspiele mit. Dazu kommen 35.000 Tickets für Fachbesucher und -besucherinnen.
Vor der Pandemie wurden bei der Berlinale etwa 330.000 Tickets verkauft. Aktuell seien 1.400 Journalisten und Journalistinnen dabei. Zum Vergleich: 2019 waren es laut der Statistik 3.500 Pressevertreter.
Dabei werden sich die Publikumszahlen wohl noch deutlich erhöhen: Die Berlinale läuft noch bis zum Sonntag für das Berliner Publikum, Karten können jeweils drei Tage im Voraus gekauft werden.