The Scream (After Munch) von Andy Warhol, 1984
The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Licensed by Bildrecht, Wien 2022
Munch-Schau in der Albertina

Wenn der „Schrei“ auf Warhol trifft

Wie hat Edvard Munch die zeitgenössische Malerei geprägt? Die Albertina inszeniert einen gelungenen Dialog mit großen Namen wie Andy Warhol, bei dem aber vor allem die Künstlerinnen Miriam Cahn, Marlene Dumas und Tracey Emin beeindrucken. Auf das Bild der Frau als Heilige oder Femme Fatale, das der norwegische Symbolist wiedergab, treffen Darstellungen weiblicher Verletzlichkeit und Stärke, die unter die Haut gehen.

Eine Frau liegt nackt und zusammengekauert auf einem Steg. Die Kamera fährt auf das glitzernde Wasser hinaus. Plötzlich ertönt ein Schrei aus tiefster Seele. Die britische Künstlerin Tracey Emin hat diese Szene 1998 in Oslo gedreht.

Mit ihrem Film „Homage to Edvard Munch and All My Dead Children“ verarbeitete sie ihre Erfahrungen mit Abtreibung und Fehlgeburt. Jetzt erschallt Emins Klagelaut in der Albertina: Die Schau „Edvard Munch im Dialog“ kombiniert Gemälde und Grafiken des Norwegers mit sieben zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern.

Verwitterte Kunstwerke

Schmerz, Trauer und Einsamkeit durchziehen das Werk des Frühexpressionisten. Der 1863 geborene Künstler, der seine Mutter als Fünfjähriger verlor, durchlitt zeitlebens psychische Krisen. Durch die Art und Weise, wie er Abgründe ins Bild setzte, wurde er zum Existenzialisten der modernen Kunst.

Fotostrecke mit 8 Bildern

Winterlandschaft von Edvard Munch, 1915
Albertina, Wien
Edvard Munch, „Winterlandschaft“, 1915, Öl auf Leinwand
Der Kuss von Edvard Munch, 1921
Sarah Campbell Blaffer Foundation, Houston
Edvard Munch, „Der Kuss“, 1921, Öl auf Leinwand
Das kranke Kind von Edvard Munch, 1907
Tate
Edvard Munch, „Das kranke Kind“, 1907, Öl auf Leinwand
Madonna, 1895/1902 und Selbstporträt (mit Knochenarm), 1895 von Edvard Munch
ALBERTINA, Wien
Edvard Munch, links: „Madonna“, 1895/1902, Farblithografie mit Lithokreide, -tusche und Nadel, rechts: „Selbstporträt (mit Knochenarm)“, 1895,Lithografiee mit Lithokreide, -tusche und Nadel in Schwarz
Madonna and Self-Portrait with Skeleton’s Arm (After Munch) von Andy Warhol, 1984
The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Licensed by Bildrecht, Wien 2022; Michal Tomaszewicz
Andy Warhol, „Madonna and Self-Portrait with Skeleton’s Arm (After Munch)“, 1984, Siebdruck auf Lenox Museum Board
You Kept It Coming, 2019 von Tracey Emin
Tracey Emin/DACS/Artimage 2022
Tracey Emin, „You Kept It Coming“, 2019 , Acryl auf Leinwand
HÄNDE HOCH! von Miriam Cahn, 2014
Serge Hasenböhler
Miriam Cahn, „HÄNDE HOCH!“, 2014, Öl auf Leinwand
Echo Lake
Tate
Peter Doig, „Echo Lake“, 1998, Öl auf Leinwand

Aber es waren nicht nur seelische Extremzustände, wie auf „Der Schrei“ dargestellt, die Munch so einflussreich machten. Die farbliche Raffinesse und Leuchtkraft seiner Bilder beeinflusste die Gegenwartskunst mindestens ebenso so sehr wie die Themen. „Wir präsentieren Munch als radikal selbstständigen Künstler. Viele der hier vertretenen Bilder wurden selten oder sogar noch nie gezeigt“, erklärt Kurator Dieter Buchhart zu der Auswahl. Der Spezialist widmete sich in der Albertina bereits 2003 und 2017 dem nordischen Evergreen.

Es sei zum Beispiel beachtlich, so Buchhart, dass Munch seine Bilder der Witterung ausgesetzt hat. Wind und Wetter kurbelten den natürlichen Alterungsprozess an. Teilweise auch mit skurrilen Folgen: Vor einer Landschaft weist Buchhart auf weiße Flecken hin – was wie Farbtropfen aussieht, ist in Wahrheit Vogelkot.

Schwelle zur Abstraktion

Den Auftakt der Schau macht Munchs frühe Version von „Der Kuss“. In dieser Fensterszene von 1892 verbirgt sich ein schmusendes Paar hinter einem Vorhang. Im Finale der Schau hängt eine 30 Jahre später entstandene Kuss-Version, in der Figuren und Natur ineinanderfließen. Munch mag die Abstraktion offiziell abgelehnt haben, der Grenzgang reizte ihn zweifellos.

Und gerade für diese Facetten des Frühexpressionisten sensibilisiert die Schau. So zieht im Bild „Straße in Aasgaardstrand“ zwar die Hutträgerin im Vordergrund die Blicke auf sich, aber was für Formen türmen sich da hinter ihr? Ob Baumstümpfe, Erdhaufen oder Steine, ist nicht auszumachen. Auch Munchs „Wellen“ von 1908 könnten ohne Titel als abstrakte Komposition durchgehen.

Straße in Aggsgardstrand von Edvard Munch, 1901
Kunstmuseum Basel/Martin P.Bühler
Edvard Munch, „Straße in Aasgaardstrand“, 1901

Die Schau erstreckt sich über 14 Säle. Munch und seine Nachfolger haben jeweils eigene Räume. „Die Auswahl war wirklich schwer“, betont Albertina-Kuratorin Antonia Hörschelmann zu den vielen, vielen von Munch beeinflussten Künstlerinnen und Künstlern.

Auch Maria Lassnig wäre eine Kandidatin gewesen, wurde vom Museum aber zuletzt 2019 groß gewürdigt. Stattdessen fiel die Wahl auf die Schweizerin Miriam Cahn. Deren intensive Großformate, die zuletzt im Kunsthaus Bregenz zu sehen waren, haben es in sich. In prächtigen Farben thematisiert die 72-Jährige Sexualität und Körperlichkeit, ebenso wie das nackte Leben, das Flucht oder Gewalt ausgesetzt ist.

Geister und Adoleszente

Die Weiß vor Rot erstrahlenden Figuren in Cahns Gemälde „Hände hoch!“ wirken wie Geister. Zwei unheimliche Momente der Schau sind interessanterweise mit einem Wechsel des Mediums verknüpft. So ist bekannt, dass Munch selbst gerne zur Kamera griff. Im Gemälde „Mann und Frau am Fenster mit Topfpflanzen“ taucht ein Herr ohne Augen, dafür mit grünem Gesicht auf. Vermutlich entstand dieser Effekt durch eine Überbelichtung, spiegelt sich doch im Fenster der Magnesiumblitz.

HÄNDE HOCH! von Miriam Cahn, 2014
Serge Hasenböhler
Miriam Cahn, „HÄNDE HOCH!“, 2014, Öl auf Leinwand

Der Starkünstler Peter Doig wurde von Horrorfilmen zu seinen berühmtesten Werken inspiriert. Für sein Nachtbild „Echo Lake“ fotografierte er eine Szene aus dem Kultstreifen „Friday the 13th“ vom Fernseher ab. Am Ufer eines Sees steht ein Mann, der zu rufen scheint. Ein Highlight: Endlos versinkt der Blick in den Farbschichten und -akzenten des wandfüllenden Ölbilds, die für eine dichte Atmosphäre sorgen.

Frauen und Mädchen

Mit seinem gespaltenen Frauenbild von Heiliger und Hure blieb Munch seiner Zeit verhaftet. Feministische Künstlerinnen wie Marlene Dumas inspirierte dennoch seine sensible Darstellung von Heranreifenden. Wenngleich nicht nebeneinander, vereint die Schau nun zwei Versionen von Munchs Mädchenbild „Pubertät“ um 1916 mit dem Porträt „Helena“, das die südafrikanische Malerin 2002 geschaffen hat.

Ausstellungshinweis

„Edvard Munch im Dialog“ ist noch bis zum 19. Juni, täglich von 10.00 bis 18.00 Uhr, mittwochs und freitags von 10.00 bis 21.00 Uhr, in der Albertina zu sehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.

Wie verletzlich die Adoleszenz ist, deutet der Frühexpressionist durch einen übergroßen Schatten seiner nackt am Bett Sitzenden an. Dumas, in deren Oeuvre sexistische und rassistische Gewalt eine zentrale Rolle spielt, klagt in dem Bild „The Trophy“ weibliche Ausbeutung (auch medial) an.

Gemälde unter Strom

An XX-Large-Bildern herrscht wahrlich kein Mangel in dieser Ausstellung, die gut daran getan hat, den Meister und die Zeitgenossen zu trennen. So bezieht sich Georg Baselitz zwar in seinem düsteren Kopfüber-Porträt „Maler mit Fäustling“ direkt auf Munchs Selbstbildnis „Der Schlafwandler“. Nebeneinandergehängt hätte das Großformat jedoch die historische Referenz erschlagen.

Baselitz nimmt in Munchs Malerei „etwas wahnsinnig Naives und Reißendes“ wahr, das der Kunst von Geisteskranken vergleichbar wäre. Eine hohe Spannung, mal lustvoll, mal bedrohlich, strahlen auch Tracey Emins gestische Aktgemälde aus. Die Londoner Royal Academy zeigte sie bereits 2019 in einer Emin und Munch gewidmeten Schau.

Der letzte Abschnitt der Schau zeigt, wie sich Andy Warhol und Robert Rauschenberg Anfang der 1980er Jahre Munchs Motive aneigneten. Der „Schrei“, der in seiner Entstehungszeit Ende des 19. Jahrhunderts viel weniger beachtet wurde als im Zuge der Weltkriege, leuchtet bei Warhol in schrillem Couleur auf.

Madonna and Self-Portrait with Skeleton’s Arm (After Munch) von Andy Warhol, 1984
The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Licensed by Bildrecht, Wien 2022; Michal Tomaszewicz
Andy Warhol, „Madonna and Self-Portrait with Skeleton’s Arm (After Munch)“, 1984, Siebdruck auf Lenox Museum Board

Die hauseigenen Munch-Grafiken bilden ein gutes Gegenüber für die Popartisten. Der finale Saal trumpft aber noch einmal mit Munchs aus den 1930er Jahren auf, so frei gemalt, sie könnten im aktuellen Malereiboom entstanden sein. Rätselhafte, ja surreale Szenarien werden da in „Ungebetene Gäste“, „Abendstimmung“ oder „Sehstörung“ inszeniert. Allein für diese tollen Leihgaben aus dem neuen Munch Museum in Oslo lohnt die Schau.