Der Fluss Tagliamento in Julisch Ventien
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Esther Kinskys „Rombo“

Im Tal der Erinnerung

Minutiös und mit lyrischer Sprache erzählt die deutsche Autorin Esther Kinsky in ihrem neuen Roman „Rombo“ vom Erdbeben in Friaul 1976. Die vielen Perspektiven, aus denen Kinsky das Trauma und die Erinnerung an die Zerstörung wie in einem Mosaik zusammenfügt, gehören dabei meist den Steinen, Pflanzen und Tieren der Region. Die menschlichen Figuren fügen sich mit ihrer Erinnerungsarbeit in die Landschaft, die zum eigentlichen Protagonisten des Romans wird.

Am 6. Mai bebte im Friaul um 20.59 Uhr für 56 Sekunden die Erde, die Erschütterungen spürte man bis in die angrenzenden Gebiete in Slowenien und im Kärntner Gailtal. Fast 1.000 Menschen kamen damals ums Leben, 45.000 wurden obdachlos. In Kinskys „Rombo“ (italienisch für „Lärm“ oder „Grollen“) beginnt die Auseinandersetzung mit diesem Unglück mit einer Landschaftbeschreibung, am Ende der 265 Seiten steht ein „Memorial“ für den Dom in Venzone, einer der betroffenen Ortschaften.

Deren Zentrum wurde mitsamt des Gotteshauses bei einem weiteren Beben im September 1976 größtenteils zerstört. „Stein für Stein und Stück für Stück wurde der Dom von Venzone neu errichtet. Brüche, Verschiebungen, Versehrungen blieben sichtbar, Lücken unvertuscht. Jede solche Spur sollte dem Gedächtnis der Zerstörung dienen, die dem Neuaufbau vorausgegangen war“, heißt es in „Rombo“ über die wieder errichtete Kirche.

Die deutsche Autorin Esther Kinsky
APA/Georg Hochmuth
Esther Kinsky, geboren 1956 in Engelkirchen, verschiebt in ihrer Prosa die Perspektiven zwischen Mensch und Natur

Naturgeschichte der Zerstörung

Die Passage benennt das Konstruktionsprinzip dieses ungewöhnlichen, wundervollen Buches. Es besteht aus kurzen und kürzesten Texten, zwischen denen die Versehrungen durch die Naturgewalten sichtbar werden. In einer ungewöhnlichen Perspektivenverschiebung sind es etwa eine Nieswurz, ein Trauerfalter und der Karststein der Karnischen Alpen, denen der meiste Text zugedacht ist. Die Natur ist die Protagonistin, die menschlichen Stimmen sind ihr eingelagert und durchziehen die sieben Kapitel, die jeweils mit einem Auszug aus geologischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts beginnen.

Buchcover von „Rombo“
Suhrkamp Verlag
Esther Kinsky: Rombo. Suhrkamp Verlag, 265 Seiten, 24,70 Euro.

Eingelagert, wie Gesteinsschichten, sind auch Sinnbilder, die aus den Naturbeschreibungen herausstechen. Den Karststein nennt Kinsky „ein aus Lebewesen entstandenes Gestein, eine zur dichten Masse gewachsene Anhäufung von Abgelebten, von Lebensspuren, die zum Lebenshintergrund und Lebensuntergrund werden.“ Leben speist sich hier aus Vergangenem, der Mensch ist der Natur nachgeordnet. Auch die menschliche Tragödie, der Verlust von Existenzen und materiellen Existenzgrundlagen ist nur ein kleiner, womöglich nicht zentraler, Teil der sich in unvorstellbar großen Zeiträumen abspielenden geologischen Katastrophen, für die Kinsky den Blick schärft.

Darin könnte man eine Revision der diversen Spielarten einer Neuzeit erkennen, die seit der Renaissance den Menschen über seine zunehmende Fähigkeit zur Naturbeherrschung definiert. Eine solche Kritik ginge aber vollkommen an der literarischen Leistung Kinskys vorbei. „Rombo“ ist nach Büchern wie „Am Fluß“ (2014) und dem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse von der Autorin als „Geländeroman“ bezeichneten „Hain“ (2018) die vorläufige Krönung eines Projekts, das verweigert, Natur als „Landschaft“ zu verstehen – als durch Menschenhand geformten Hintergrund, auf den sich die jeweiligen Dramen literarischer Figuren wirkungsvoll pinseln lassen.

Vom Berg her gedacht

Bei Kinsky bekommen Natur und Mensch ihre jeweils eigenständige Rolle zugewiesen. Sie schließt damit an die Tradition eines Aldo Leopold (1887–1948) an, jenes amerikanischen Försters und Ökologen, der mit Essays wie „Thinking like a mountain“ zum Vorbild einer modernen Umweltethik und dem amerikanischen „Green Wrting“ wurde – einer Strömung, die dem „Nature Writing“, einem Schlagwort, das gegenwärtig über Gebühr strapaziert wird, vorausging.

In seinem berühmt gewordenen Essay schildert Leopold den Zusammenhang von natürlichen Systemen – ein Jäger mag eine Wölfin als Schädling für Wild empfinden, aus Sicht eines bewaldeten Berges aber sei die Herde der Wildtiere eine Bedrohung und die Wölfin eine Regulierung des Lebensraums. Die ökologisch-philosophische Übung, die Leopold anregte, besteht nun darin, sich als Mensch auszunehmen und wie ein Berg zu denken – die Perspektive auf einen andern Maßstab zu verschieben.

Chor der Erinnerung

Nichts anderes setzt Kinsky auf höchstem literarischem Niveau um. Die Menschen, Zeitzeugen der Auswirkungen des Bebens wie Toni, Gigi, Mara, Lina, Anselmo und Olga, reflektieren wie ein Chor im griechischen Drama über ihre traumatischen Erfahrungen und Verluste. Dabei vergewissern sie sich in einer in Szene gesetzten Oral History ihrer eignen Erinnerung.

Oder wie es in einer kurzen Passage aus Olgas Perspektive heißt: „Die Erinnerung ist wie etwas, an dem ständig gewoben wird. Alles, was man also sieht und hört und denkt und riecht, ist wie ein Faden in diesem gewebten Erinnerungstuch. Das Tuch wird immer länger; wenn man älter wird, wird es praktisch so lang wie vom oberen Ende des Tals bis an seinen Ausgang, nur liegt alles fest gefaltet im Kopf.“ Die Pointe freilich lautet: „Die Erinnerung, das sind wir selbst.“

Zerstörte Kirche in Buia nach Erdbeben 1976
APA/AFP
Chiesa di Sant’Andrea Apostolo in Venzone nach den Erdbeben in Friaul 1976

Jenseits dieses „Selbst“, der humanen Selbstvergewisserung über Erinnerung und Erzählung – dem magischen Movens jeder Literatur – liegt die Natur. Um im Bild zu bleiben: Die Menschen und ihr Leid, das ist wie ein Echo, das aus den vielen von Kinsky aufwendig beschriebenen Felsspalten des Kalkgebirges heraufschallt, ein immer diffuser werdendes Geräusch, geradezu das Gegenteil des aufschwellenden dumpfen „Rombo“, der das Erbeben ankündigt.

Sprache und Geröll

Kinskys Sprache ist voller Farben und visueller Eindrücke, oft gespickt mit Aufzählungen, man könnte sagen Anhäufungen, die dem Geröll nachempfunden sind, voller Farben und visueller Eindrücke. Ihre rhythmischen Texte sind verwandt mit der sprachlichen Dichte eines Christoph Ransmayr, Wasser bildet neben Steinen wie in dessen „Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten“ ein großes Reservoir für Metaphern.

Oft beschreibt sie die Flüsse Fella und Tagliamento, die Gestein aus den umgebenden Landschaften mittransportieren. Wieder eines dieser grandiosen Sinnbilder in „Rombo“: Die menschlichen Schicksale, Gefühle und Regungen – sie rollen als Erzählungen und Textfragmente durch die Zeit, wie die Steine flussabwärts.

Chor der Erinnerung

Zwei Preise hat Kinsky für Auszüge aus „Rombo“ bereits vor der Veröffentlichung zugesprochen bekommen – den Deutschen Preis für Nature Writing 2020 und den W.-G.-Sebald-Literaturpreis 2020. Obwohl sie sich gegenüber dem Begriff des „Nature Writings“ für ihre Texte verwehrt, geben diese Auszeichnungen einen Hinweis, wo ihr Erzählen zu verorten ist: zwischen einer genauen, philosophisch grundierten Spracharbeit, die der Natur und ihrem Verhältnis zum Menschen auf den Grund geht, und der vielschichtigen Erkundung der Auswirkungen traumatischer historischer Ereignisse – auch wenn sie im Gegensatz zu Sebald nicht um die Schoah kreist, sondern eine weit fundamentalere Auffassung von Leid im Sinn hat, die basale menschliche Vergänglichkeit.

Das Cover von „Rombo“ ziert ein Fragment des Freskos in der Apsis der Chiesa di Sant’Andrea Apostolo, des 1976 zerstörten Doms von Venzone. Das Fragment überstand die Erdbeben und zeigt Einritzungen von Pilgern, die darin über Jahrhunderte ihren Besuch markierten. Abbildungen des Freskos finden sich auch zwischen den Kapiteln von „Rombo“ – eine subtile Erinnerung für die Funktion von Literatur, wie sie Kinsky schreibt: zu bezeugen, dass etwas existiert hat, anwesend war, auch wenn der historische Moment dieser Existenz längst durch Naturgewalten ausgelöscht wurde.