Screenshot von https://www.tiktok.com/@livbedumb zeigt Olivia Rodrigo
Screenshot https://www.tiktok.com/@livbedumb (Montage)
Fleetwood Mac und Co.

TikTok-tanzend an die Chartspitze

Die chinesische Social-Media-App TikTok ist nicht nur eine beliebte Videoplattform, sondern auch ein Katalysator für musikalischen Erfolg geworden – und das nicht zwingend nur für neue Musik. Wird ein Song in einem beliebten Clip verwendet, ist der Erfolg eigentlich vorprogrammiert. Das löst Synergieeffekte aus, die weit bis in die Charts hineinreichen.

Vor knapp anderthalb Jahren fuhr ein Mann in einem grauen Kapuzensweater auf seinem Skateboard eine Straße im US-Bundesstaat Idaho entlang. In der einen Hand hatte er eine Flasche mit Himbeer-Cranberry-Saft, aus der er sich gelegentlich ein Schlückchen genehmigte. In der anderen Hand hielt er sein Smartphone, die Frontkamera hatte er auf sich gerichtet. Als Nathan Apodaca – auf TikTok hat er den Nutzernamen 420Doggface208 – diesen Moment festhielt, ahnte er wohl nicht, welche Wellen das schlagen würde.

Apodacas Clip hat – Stand heute – mehr als neun Millionen Aufrufe. Unterlegt wurde das gerade einmal 22 Sekunden lange Video mit dem Musiktitel „Dreams“ von Fleetwood Mac. Der Erfolg des TikTok-Videos führte zu einem Revival des Songs, eben auch weil der Soft-Rock-Titel aus den 1970ern dadurch einem neuen Publikum bekannt gemacht wurde.

Zurück in die Charts geskatet

Und so kam es, wie es kommen musste: Während das Video um die Welt ging, stieg „Dreams“ mehr als 40 Jahre nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung wieder in die Charts ein. Der Song erreichte in den US-amerikanischen Billboard-Charts den zwölften Platz, im Vereinigten Königreich Platz 35 und auch in Österreich kletterte er auf Platz 64.

@420doggface208

22secs of Vibes 1yr ago today thx you all for what has come from this video the love,support,smiles,strength it brought out in others #thanks #tiktok

♬ Dreams (2004 Remaster) - Fleetwood Mac

Das Fleetwood Mac-Album „Rumours“ aus dem Jahr 1977, auf dem „Dreams“ enthalten ist, erlebte durch das TikTok-Video im Oktober 2020 ebenfalls ein Revival und stieg in den US-Charts auf Platz 53, im Vereinigten Königreich sogar auf Platz 14. TikTok schafft es also offenbar, dass Musik Jahrzehnte nach dem Release wieder in die Chartränge vordringt. Doch woher kommt dieser derartige Einfluss auf den weltweiten musikalischen Geschmack? Und wie verändert TikTok die Musiklandschaft generell?

Eine Video-App, bei der auch Musik entscheidend ist

Die Bekanntheit der 2016 gestarteten Social-Media-App TikTok stieg in den letzten Jahren rasant an: Laut eigenen Angaben von September 2021 verfügt das Unternehmen über eine Milliarde aktive Nutzerinnen und Nutzer weltweit. Zum Vergleich: Im Januar 2018 waren es gerade einmal 55 Millionen.

TikTok, das zum chinesischen Technologiekonzern ByteDance gehört, ist zwar genau genommen eine Videoplattform, Musik spielte jedoch von Beginn an eine entscheidende Rolle: Am Anfang war TikTok nämlich vor allem eine Playback-Plattform, die zum „Lip-Syncen“ von bekannten Songs genutzt wurde.

Wenn man auf TikTok Musik einsetzt, dann will der Tonausschnitt gut gewählt sein – und dafür gibt es einige entscheidende Kriterien: Gibt es eine wiedererkennbare Hook, also ein eingängiges Melodiestück? Eine Textzeile mit einer guten Botschaft? Und welche Stimmung, welchen „Mood“ deckt der Song ab? Auf TikTok sind besondere Sound- und Songwriting-Merkmale gefragt – egal, ob man im Video nun Leuten beim Tanzen zuschaut oder deren Haustiere kennenlernt.

Musik muss herausstechen

Dreht man die App auf, scheinen dort Raum und Zeit zu verschmelzen: Man springt von Clip zu Clip, alles passiert sehr schnell, die Minuten fließen dahin. Es wird um die Aufmerksamkeit regelrecht gekämpft. Die enorme Geschwindigkeit ändert natürlich auch das Hörverhalten. Ein Song muss unmittelbar überzeugen und im Content-Dschungel herausstechen, wenn ein Clip viele Aufrufe bekommen soll. TikTok ist eben nicht nur Video, sondern auch Audio.

Eine Musikerin, deren Musik sich auf TikTok großer Beliebtheit erfreut, ist Olivia Rodrigo: Rodrigo, Jahrgang 2003 und Mitglied der „Generation Z“, veröffentlichte im Mai letzten Jahres ihr viel beachtetes Debütalbum „Sour“, das in mehreren Ländern – darunter auch Österreich – auf Platz eins stieg und für viele Medien eines der Alben des Jahres war. Bekannt wurde sie erst wenige Monate zuvor, Anfang 2021, mit ihrer Debütsingle „drivers license“.

Einfluss auf Komposition

Für den Erfolg des Songs war TikTok maßgeblich verantwortlich: Die Popballade wurde für verschiedenste Videos verwendet, vor allem die dramatische Bridge – also der Übergang zwischen zwei Liedteilen – war eine gern gewählte Untermalung. Rodrigo, die zuvor vor allem als Schauspielerin in Disney-Serien wie „High School Musical: The Musical: The Series“ bekannt war, wurde im Eiltempo zum globalen Popstar.

Glass Animals geben ein Konzert
APA/AFP/Getty Images/Jason Koerner
Erst dank TikTok in die Top Ten: Die Glass Animals mit ihrem Song „Heat Waves“

Doch TikTok spielte schon bei der Komposition dieses Welthits eine Rolle. Wie die US-Amerikanerin letztes Jahr in einem Video der „New York Times“-YouTube-Reihe „Diary of a Song“ erzählte, baute sie an einer Stelle ein gewisses „Ding“, also eine spezielle signalartige Tonabfolge, ein, damit „Leute TikToks machen können“, so Rodrigo. „Und die Leute haben auch genauso TikToks gemacht, und darüber bin ich sehr glücklich“, sagte die Sängerin im „New York Times“-Video. Die Synergieeffekte von TikTok schlugen sich auch auf anderen Plattformen nieder: „drivers license“ war der meistgehörte Song auf Spotify im Jahr 2021.

TikTok befeuert Phänomen des „Sleeper“-Hits

Wie schon das Beispiel von Fleetwood Macs „Dreams“ zeigt, spült TikTok nicht nur Neues nach oben, sondern sorgt zugleich auch für antizyklische Popphänomene. In diese Kategorie fallen nicht zuletzt Songs, die völlig entkoppelt von jeglicher Vermarktungsstrategie oder aktuellem Medienrummel zum Hit werden. Das Phänomen ist eigentlich ein alter Hut und nennt sich „Sleeper“-Hit. Der „schlafende“ Hit kommt – nach einem ursprünglich weniger beachteten Erstrelease – verspätet an die Oberfläche, weil er etwa als Film- oder Werbesoundtrack sprichwörtlich wach geküsst wird. Und so etwas kann eben auch TikTok bewirken.

In (Hitze-)Wellen in den Hitolymp

Ein absolutes Paradebeispiel für einen „Sleeper“-Hit ist der Song „Heat Waves“ der britischen Band Glass Animals. Das zeigt ein exemplarischer Blick auf die US-Charthistorie: Der Song, ein eingängiger Indie-Pop-Track, wurde bereits im Juni 2020 veröffentlicht. „Heat Waves“ verweilte insgesamt 42 Wochen auf einem Platz in den Top 100 der US-Charts, ehe er dann im November 2021 in die Top Ten vordrang. Anlass für den späten Aufstieg war ein Boom des Songs auf TikTok im Laufe des Sommers 2021; vor allem der Refrain, der mit den Worten „Sometimes all I think about is you“ anfängt, überzeugte die Nutzerinnen und Nutzer.

So lange wie die Briten musste noch nie eine Band auf einen Top-Ten-Platz warten – Rekord für die Glass Animals. In den USA schaffte es der Song bis auf Platz drei, in Österreich und Deutschland sogar auf Platz zwei – über ein Jahr nach dem ursprünglichen Release und auch lange nach dem Einstieg in die Top 100, der im März 2021 erfolgte. Jüngst stieg „Heat Waves“ schon wieder auf Platz zwei der deutschen Charts, wo das Stück seither auch verweilt.

TikTok wird weiter für Hits sorgen

Sicher ist eines: Immer mehr Leute finden durch die Tonschnipsel auf TikTok zu neuer Musik. Das jüngste Phänomen ist die 17 Jahre alte Sängerin GAYLE, deren Song „abcdefu“ nicht zuletzt auch aufgrund des extrem eingängigen Refrains weltweit Erfolge feiert. Ebenfalls „viral“, so der gern verwendete Begriff bei derartigen Phänomenen, gingen in den letzten Jahren zahlreiche Songs von Lil Nas X, wie etwa „Industry Baby“.

@mickfleetwood

@420doggface208 had it right. Dreams and Cranberry just hits different. #Dreams #CranberryDreams #FleetwoodMac

♬ Dreams (2004 Remaster) - Fleetwood Mac

Doch neben neuen Hits koexistieren alte weiter auf TikTok, wie das anfangs erwähnte „Dreams“. Mick Fleetwood, Drummer und Gründungsmitglied von Fleetwood Mac, bedankte sich übrigens sogar in einem BBC-Interview beim skatenden TikTok-Nutzer Apodaca: „We owe you“, also „Wir schulden dir etwas“, sagte Fleetwood im britischen Fernsehen.

Nachdem dessen Skateboardclip um die Welt gegangen war, entschloss sich der inzwischen 74 Jahre alte Drummer dazu, prompt das Video nachzuahmen. Die Hommage kam ähnlich gut an – und viele weitere Leute bekamen den Song „Dreams“ zu hören. Das nennt man dann wohl Synergieeffekt.