Schauspieler sitzen am Tisch, abstraktes Kunstwerk im Vordergrund
Matthias Horn
Burg-Premiere

Sartre, die Pandemie und das Wurm-Gurkerl

Wer hätte das gedacht, dass einmal eine Zeit kommen würde, in der nichts so sehr Konjunktur hat wie der alte Sartre und ein Stück aus der Kategorie Schülerqual. Doch Burg-Chef Martin Kusej erkennt mit Fug und Recht, dass sich der Klassiker „Huis Clos“, „Geschlossene Gesellschaft“, wie ein Traktat über unser Leben in der Pandemie lesen lässt. Dafür genügt eine minimal-invasive Dramaturgie, vor allem wenn ein Starensemble mit Tobias Moretti und Dörte Lyssewski zur Verfügung steht. Eine graue Mauer markiert die Grenzen der Höllenwelt – und das Beste, was davor erstrahlt, ist ein Gurkerl von Erwin Wurm.

Die Pandemie hat den Klassikern des literarischen Existentialismus eine neue Hochkonjunktur beschert. Albert Camus’ „Pest“ war plötzlich wieder Pflichtlektüre. Und dass nun auch der Buhmann der französischen Nachkriegsphilosophie zum Zug kommt, mag man natürlich, sarkastisch betrachtet, als ein Zeichen für die Zeit lesen, in der wir nun mal unterwegs sind. Andererseits: So sehr Jean-Paul Sartre den französischen Denkerdiskurs nach dem Krieg beinahe erdrückt hat und von der Generation um Michel Foucault, Jacques Derrida, Julia Kristeva und Co. zu Recht gestürzt wurde, so sehr dürfen seine Werke einer neuen Betrachtung unterzogen werden. Das Burgtheater zitiert dabei den Foucault-Biografen Didier Eribon als Gewährsmann, der Sartre als „originellen wie wichtigen Denker“ rehabilitiert hat.

„Huis Clos“ und die Vielfalt

Dass man das 1944 zur Zeit der Pariser Besetzung uraufgeführte Stück „Huis Clos“ so gern auf den Lehrplan der Schullektüre setzt, hat vielleicht mit seiner Holzschnittartigkeit und den konstatierenden Diagnosesätzen im Text zu tun. Leider musste man, nachträglich betrachtet, auch viel der Überforderung von Schule mit Philosophie ausbaden, indem Schülerinnen und Schüler zur Festlegung in der Beantwortung seltsamer Fragen gezwungen wurden. Denn die gern gestellte Aufgabe zu „Was hat der Autor mit diesem Satz und jener Figur gemeint?“, hätte sich immer nur konsequent mit dem Hinweis beantworten lassen, dass das Wesen der Kunst nun einmal das Spiel mit der Bedeutungsvielfalt und nicht das einer professoralen Eindeutigkeit sei.

Christoph Luser, Tobias Moretti, Dörte Lyssewski und Regina Fritsch
Matthias Horn
Die langsame Erkenntnis vom Gesetz in der Hölle. Von links: Christoph Luser, Tobias Moretti, Dörte Lyssewski und Regina Fritsch

So darf man also in der Gegenwart, in der wir nun im Jahr drei stecken, gern Sartres Stück hernehmen, in denen drei Personen post mortem feststellen, dass alle gelernten Kategorien in der Hölle keinen Sinn mehr haben. Die Hölle, sie ist ein Netzwerk unsichtbarer Gesetzmäßigkeiten, die alles zur Qual macht. Die immerwährende Zeit im gleißenden Licht, darin der gestorbene Mensch, für den es keine Perspektive gibt oder Kausalgesetze gelten. Sich abmurksen ist sinnlos, weil es ohne Konsequenz bleibt. Diese Erfahrungen machen bei Sartre die ehemalige Postbeamtin Ines Serrano (Dörte Lyssewski), die einstige Reiche Estelle Rigault (Regina Fritsch) und der Journalist Joseph Garcin (Tobis Moretti). Einzig ein Kellner, im Fall von Christoph Luser mit abgründigem Wiener Fatalismus, hilft ihnen bei der Orientierung in dieser hoffnungslosen Nachwelt. Und die lapidare Botschaft des Kellners lautet: Niemand wird mehr die Augen zu machen – und das Beste, was passieren kann, wird das Vergessen sein.

Die Schauspieler mit den Publikumsplätzen im Hintergrund
Matthias Horn
„Ich nehme an, dass man sich auf Dauer an diese Situation gewöhnen soll.“

Immerwährendes Nichtentkommen

Doch alle drei in der Hölle Gefangenen sind noch mit ihren Vergangenheiten beschäftigt und müssen mitansehen, dass sich die Welt weiterdreht. Alle sind aufgrund ihrer Untaten in der Welt, so will es Sartre, zu Recht in der Hölle (ein Rest christlicher Theologie, über den man bei diesem Atheisten noch diskutieren könnte). Binnen zwei Stunden müssen sie ihr Nichtentkommen realisieren, wobei sich in dieser Zeit die Kategorien verschieben, wenn schon das Leben aufgrund der Umstände die Hölle ist.

Morettis Kritik am Freiheitsbegriff

Über Eigenverantwortlichkeit, Selbstbestimmung und darüber, ob der Mensch zur Freiheit verurteilt ist, wie Sartre sagt, diskutiert Peter Schneeberger mit Tobias Moretti.

Die runtergerissene Maske der Selbsttäuschung

Hier darf nun jede und jeder mit seinem Narrativ zur Pandemie ansetzen: unter dem Verweis, dass das Leben durch ein Virus rasch vorbei ist, hat sich der Mensch in eine Form von selbst gewählter Hölle begeben, in dem nichts mehr lebenswert erscheint. Sehr viele der im Stück geäußerten Sätze meint man schon von wohlmeinender Stelle in den letzten Jahren gehört zu haben. Doch es ist keine Kritik an der Pandemiepolitik, die man aus diesem Stück rauslesen kann. Eher, so hat es zuletzt die Autorin Marlene Streeruwitz gegenüber ORF.at formuliert: „Die Pandemie hat uns unsere vielen kleinen Selbsttäuschungen, mit denen wir unser Leben legitimieren, als Selbsttäuschungen vorgeführt.“ So ähnlich darf man die Situation der Figuren bei Sartre verstehen: Es ist ein langsames Erkennen der Grenzen jeder Form von Maßnahme, die gesetzt werden kann. Mehr noch: Die in dem Gesellschaftsraum Handelnden sind gezwungen, sich selbst den Prozess zu machen und Gericht zu sein. Das ist die Perfidie bei Sartre, die aber letztlich nur schonungslos auf die Ausweglosigkeit verweist, in der wir stecken.

Burgtheater: „Die geschlossene Gesellschaft“

Isolation, Ängste, Wut und Verzweiflung – weltweit haben Menschen in den letzten Monaten CoV-bedingt Erfahrungen gesammelt, was es heißt, mit wenigen anderen eingeschlossen zu sein. Und das ist auch Thema von Jean Paul Sartres Stück „Geschlossene Gesellschaft“. Martin Kusej inszeniert den Einakter unter anderem mit Publikumsliebling Tobias Moretti. Premiere ist Samstagabend im Burgtheater.

Die Freiheit ist bestenfalls ein Gurkerl

Die Pandemie, sie hat vielleicht die Masken der Selbsttäuschung heruntergerissen. Für den oft gebrauchten Begriff der „Freiheit“ hätte Sartre wohl den wenig mitleidigen Tipp mitgebracht: Ja, probiert sie aus, eure lächerliche Freiheit! Vielleicht ist das der Trost des Stücks, dass man am Ende rausgeht in die Welt und sie selbst in Zeiten der Pandemiewelt wieder schön finden darf. Oder wie ein Zuschauer nach zwei Stunden am Ende der Premiere am Samstag meinte: „Passiert auch selten, dass man ein Teil von Erwin Wurm für das Beste an einem Abend hält.“

Das weiße Stehgurkerl vor der grauen Mauer, es könnte ein Memento an die Selbsttäuschungslust der Gesellschaft der Lebenden sein. „Das gefällt denen da unten“, höhnt der Kellner zur Popartplastik, in die noch alle Darsteller vor Wut reintreten werden. Kusejs Inszenierung im grellsten Licht, direkt vor dem Publikum und in den Gängen des Parketts setzt auf die Kraft der Darstellenden. Moretti tritt beeindruckend maliziös in den Raum, um zunehmend klein und die Ausweglosigkeit erkennend durch die Hölle zu strampeln. Fritsch wiederum gibt dem Stück die nötige Erdung, wenn sie als reiche Frau zuerst die Welttheaterkarte zieht, um festzustellen, dass auch bei Sartre der Ausweg bestenfalls die Volkskomödie ist (würde nicht so oft das Wort „ficken“ verwendet, dürfte man an dieser Stelle auch an Thomas Bernhard erinnern).

Am Ende schaut auch Botho vorbei

Und Lyssewski? Sie nimmt Sartre und führt ihn auf das Terrain, in dem sie ihr Heimspiel hat – und macht aus „Huis Clos“ ein Botho-Strauß-Stück. Das ist vielleicht gar nicht so falsch – und zeigt an, dass von Sartre doch noch ein langer Fingerzeig Richtung Gegenwart geht. Auch Jasmina Rezas „Gott des Gemetzels“ hat seine Lehrstunden in der „Geschlossenen Gesellschaft“ genommen. Warum also nicht mutig sein und gegen den Chic der Zeit programmieren? Dieser Mut Kusejs wird vom Publikum belohnt. Und man staunt selbst, dass man Sartre gut findet. Was sind das tatsächlich für Zeiten, in denen wir leben?