Szene aus dem Film „Belfast“
Courtesy of Focus Features
„Belfast“

Die „Troubles“ aus der Kinderperspektive

Mit dem für sieben Oscars nominierten Film „Belfast“ bringt Regisseur Kenneth Branagh seine eigene Kindheit auf die Kinoleinwand. Aus der Sicht des neunjährigen Buddy erzählt er vom Ausbruch der „Troubles“ 1969, dem Beginn des Nordirland-Konflikts, der das Land 30 Jahre lang beherrschte.

Kinder spielen auf der Straße, es ist ein ganz normaler, ruhiger Nachmittag in Belfast im August 1969. Und dann explodiert vor den Füßen des neunjährigen Buddy ein Molotowcocktail, ein aufgebrachter Mob von Protestanten zieht durch die Straße und verwüstet die Häuser der Katholiken. Ein Ausbruch der Gewalt unterbricht das bisher friedliche Zusammenleben, und nichts ist mehr wie früher.

Branagh hat als Kind diese Ereignisse hautnah miterlebt. Sein neuer Film erzählt aus der Sicht des kleinen Buddy die Geschichte einer Familie, die in diese Auseinandersetzungen hineingerät. Der Nordirland-Konflikt beendet eine bis dahin als unbeschwert erlebte Kindheit. Das Leben der Familie und des jungen Buben nimmt eine entscheidende Wendung.

Plötzlich im Lockdown

Ein Auslöser, diesen Film zu machen, sei auch die Pandemie, so Branagh. Die Lockdowns hätten ihn wieder an diese Zeit erinnert, als nach den ersten Unruhen Barrikaden an den Enden der Straße errichtet wurden, um die Bewohner zu schützen. Der Zugang war nur mehr mit Kontrollen möglich. Ein Gefühl des Eingesperrtseins, Einschränkungen und Sorgen um die Familie wurden plötzlich bestimmend.

„Belfast“ konzentriert sich nicht auf die dramatischen Ereignisse der „Troubles“, sondern auf die Eindrücke eines Kindes vor diesem Hintergrund und den Alltag der Menschen, die ihre Stadt und ihr Leben dort lieben. Trotz der Spannungen und der drohenden Gefahr hat Buddy eine schöne Kindheit. Er liebt Matchbox-Autos, Kino und Fußball.

Mathe, Matchbox und Mädchen

Der Vater (Jamie Dornan) arbeitet in England und ist nur alle zwei Wochen zu Hause, die Mutter (Caitriona Balfe) kümmert sich daheim um die beiden Buben Buddy und seinen Bruder Will. Viel Zeit verbringt Buddy mit seinen Großeltern. Mit dem Großvater (Ciaran Hinds) lernt er Mathematik und manche zweifelhaften Tipps, um sich durchzuschwindeln. Die Großmutter (Judi Dench) agiert im Hintergrund, lässt aber keinen Zweifel aufkommen, wer das Sagen hat. Und da ist da noch die Sache mit dem Mädchen: Buddy hat sich in eine Klassenkameradin verliebt und braucht dringend Rat, wie er ihr näher kommen kann.

Szene aus dem Film „Belfast“
Courtesy of Focus Features
Die Faszination für das Kino (und Matchbox-Autos) teilt Regisseur Branagh mit seinem Alter Ego Buddy

In diese harmonische Welt brechen immer wieder die zunehmenden gesellschaftlichen Spannungen ein. In Kontrast dazu inszeniert Branagh Momente unbeschwerter Heiterkeit: eine Party auf der Straße, ausgelassene Spiele im Park. Trotz der aufkeimenden Gewalt geht das Leben im Kreis der Familie und Freunde weiter. Der Film ist auch ein Feiern dieser empathischen Gemeinschaft, die trotz aller dramatischen Ereignisse voller Humor und Zuneigung füreinander bleibt.

Mit den Augen und Ohren eines Kindes

Branagh erzählt seine Geschichte konsequent aus der Sicht des Kindes und lässt durchblicken, dass es nicht um eine realistische Darstellung der Ereignisse geht, sondern um einen auch von Filmen und Fernsehen beeinflussten Blick auf die Welt, wie sie sich in Buddys Fantasie darstellt. Dass der Film in Schwarz-Weiß umgesetzt ist, unterstreicht diese Verfremdung.

Das klassische Hollywood-Schwarz-Weiß habe ihn in seiner Kindheit fasziniert, und daher wollte er es hier bewusst einsetzen, so Branagh. Diese Ästhetik spiegle auch den Glamour wider, den die Eltern für den kleinen Jungen ausstrahlen. Wenn sich der Vater in einen Popstar verwandelt und im Look eines Marlon Brando auftritt und die Mutter so schick gekleidet ist, wie es in einer Arbeiterfamilie damals kaum möglich war, so reflektiert auch das Buddys kindlichen Blick auf seine Welt.

Szene aus dem Film „Belfast“
Courtesy of Focus Features
Irritiert und verunsichert verfolgt Buddy die Gespräche der Erwachsenen

Aber Buddys Welt erodiert langsam, nicht nur durch die Erfahrung direkter Gewalt. Sehr berührend sind Szenen, in denen Buddy Unterhaltungen seiner Eltern belauscht und Gesprächsfetzen aufschnappt, die ihm zeigen, dass es „troubles“ gibt, die ihn beunruhigen, die er als Kind aber nur schwer einordnen kann. Es sei eine Zeit gewesen, in der er sich „bis auf die Knochen verunsichert fühlte,“ meinte Branagh in einem Interview mit dem „Spiegel“.

Sieben Oscar-Nominierungen

Herausragend sind die Darstellerinnen und Darsteller, allen voran der elfjährige Jude Hill, der Darsteller des kleinen Buddy. Dench und Hinds spielen die herzerwärmend raubeinigen und liebevollen Großeltern. Die Oscar-Nominierungen für beide in den Kategorien der besten Nebenrollen sind hochverdient. Insgesamt ist der Film für sieben Oscars nominiert, unter anderem in den Kategorien „Bester Film“, „Beste Regie“, „Bester Ton“ und „Bestes Originaldrehbuch“.

Szene aus dem Film „Belfast“
Courtesy of Focus Features
Ciaran Hinds und Judi Dench überzeugen als liebevolle Großeltern

Die Filmmusik hat der aus Belfast stammende Van Morrison beigesteuert. Es ist eine Zusammenstellung von Hits der 1960er Jahre, die bestens in die Zeit passt und Teil der Rekonstruktion der Kinderwelt Buddys ist. Für den Titelsong „Down to Joy“ ist Van Morrison ebenfalls für einen Oscar nominiert als bester Filmsong.

In Szene gesetzt wurde „Belfast“ von Haris Zambarloukos an der Kamera und Produktionsdesigner Jim Clay. Lange, sorgfältig komponierte Einstellungen unterstreichen die familiäre, intime Atmosphäre von Sicherheit und Geborgenheit in der Familie. Auch die „Actionszenen“ kommen ohne allzu explizite Gewalt aus. Es muss kein Blut fließen, um einen Neunjährigen aus der Fassung zu bringen.

Plädoyer für Menschlichkeit

Analysen zum Nordirland-Konflikt will dieser Film nicht anbieten. Auf Ursachenforschung, Schuldfragen und Parteinahme lässt sich Branagh erst gar nicht ein. Er beschreibt schlicht und einfach die Auswirkungen von Politik, Religion und Fanatismus, wie er sie erlebt hat. Die Bedrohung geht auch von den vorgeblich „eigenen Reihen“ aus. Versuche, den Vater zu einer eindeutigen Parteinahme zu zwingen, tragen zur stets bedrohlicher werdenden Situation bei. Es spitzt sich zu auf ein „Entweder ihr seid für uns oder gegen uns“. Und für die Familie wird „Gehen oder bleiben?“ zu einer zunehmend drängenden Frage.

„Belfast“ ist auf seine sehr persönliche Art ein Plädoyer für Menschlichkeit, ein friedliches Miteinander über alle Differenzen hinweg und implizit eine Absage an jede politisch motivierte Gewalt. Das sture Festhalten an der Perspektive des Kindes auf die Welt lässt den Film in manchen Momenten zu einer ein wenig oberflächlichen und sentimentalen Liebeserklärung an die Familie und an die Kindheit geraten. Das ist aber auch sympathisch, ehrenwert und in seinen besten Momenten berührend menschlich.