Vladimir Putin
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Ukrainische Separatisten

Putin zieht Unabhängigkeit in Betracht

Seit Tagen warnt der Westen, dass Russland einen Vorwand für einen Angriff auf die Ukraine schaffen könnte. Am Montag gab es mehrere Möglichkeiten dafür. Die Separatistenführer der selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine riefen den russischen Präsidenten Wladimir Putin auf, ihre Unabhängigkeit anzuerkennen. Dieser reagierte kurze Zeit später: Man müsse eine Anerkennung dieser Regionen in Betracht ziehen. Die westlichen Staaten zeigten sich alarmiert.

Putin sagte, er wolle noch am Montag über die Anerkennung entscheiden. Eine Ansprache wurde angekündigt. Zuvor hatten sich im nationalen Sicherheitsrat Russlands alle Beteiligten, darunter Außenminister Sergej Lawrow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu, für die Anerkennung der Regionen ausgesprochen. Weder die Ukraine noch der Westen brauche den Donbass, hieß es im Sicherheitsrat.

Russland sei klar, dass der Schritt angesichts der vom Westen angedrohten Sanktionen ernste Folgen haben werde, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew. Es gebe angesichts der Lage aber keine andere Möglichkeit, als die Gebiete anzuerkennen. Der Druck auf Russland werde beispiellos sein. Die Hoffnung sei aber, dass sich der Konflikt danach abkühle.

Vladimir Putin
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Putin beim nationalen Sicherheitsrat

Putin sieht Minsker Abkommen als gescheitert

Putin sagte im Rahmen des einberufenen Treffens des nationalen Sicherheitsrats, dass die Bedrohung für Russland erheblich steige, wenn sein Land der Gefahr eines ukrainischen NATO-Beitritts gegenüberstehe. Die Ukraine werde als „Instrument der Konfrontation“ gegen Moskau genutzt. Er versicherte, dass Russlands Priorität „nicht Konfrontation, sondern Sicherheit“ sei, ließ aber zugleich wissen, dass er keine Chancen mehr für eine Umsetzung der Minsker Abkommen sehe.

In den von Deutschland und Frankreich 2014 und 2015 vermittelten und gemeinsam mit der Ukraine und Russland vereinbarten Minsker Abkommen hatten sich die Konfliktparteien in der Ostukraine zu mehreren Schritten verpflichtet, um eine Friedenslösung in dem Konflikt zu erreichen.

Mit einer Anerkennung der selbst ernannten „Volksrepubliken“ könnte Russland Tausende Soldaten dort stationieren, mit dem Argument, dass es als Verbündeter eingreift, um sie vor der Ukraine zu schützen. Putin kündigte an, noch am Montag über die Anerkennung der Unabhängigkeit entscheiden zu wollen. Ein Moratorium zu einem möglichen NATO-Beitritt der Ukraine sieht er nicht als Lösung an.

Russische Panzer an der Grenze zur Ukraine
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Russische Truppen bei einem Militärmanöver in Belarus

Russland müsse die Unabhängigkeit der ostukrainischen Gebiete anerkennen, so Schoigu. Er meinte auch gegenüber Putin, dass die Ukraine erhebliche Truppen zusammengezogen habe. Putins Spezialgesandter Dmitry Kozak ließ wissen, dass Russland gezwungen sei, „astronomische Summen“ an humanitärer Hilfe für die zwei abtrünnigen Regionen in der Ukraine zu zahlen. Und ein Sprecher der russischen Duma sagte, dass Russland „unsere“ Leute in der Ostukraine beschützen müsse.

Staaten alarmiert

Die Ukraine forderte als Reaktion eine Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrats und berief einen nationalen Sicherheitsrat ein. Es seien „dringende Maßnahmen zur Deeskalation und konkrete Schritte“ erforderlich, um die Sicherheit der Ukraine zu gewährleisten, so Außenminister Dmytro Kuleba. Auch bei einer Sondersitzung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) rief ein Vertreter der Ukraine zur Deeskalation auf.

In den USA berief Präsident Joe Biden einen nationalen Sicherheitsrat ein. Eine Warnung vor einer Anerkennung kam vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz: Ein solcher Schritt stünde „im krassen Widerspruch“ zu den Minsker Abkommen zur friedlichen Beilegung des Konflikts in der Ostukraine und wäre ein „einseitiger Bruch“ dieser Vereinbarungen seitens Russlands, sagte Scholz nach Angaben seines Sprechers am Montag in einem Telefonat mit Putin. Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell rief Putin dazu auf, die Regionen nicht anzuerkennen. Die EU sei andernfalls auf eine starke Reaktion vorbereitet.

Moskau meldete getötete „Saboteure“

Zuvor hieß es vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB, der auch für die Grenzsicherung zuständig ist, dass fünf ukrainische „Saboteure“ auf russisches Staatsgebiet vorgedrungen und dort getötet worden seien. Am Nachmittag meldete der FSB neuerlich Grenzverletzungen vonseiten der Ukraine und die Festnahme eines ukrainischen Soldaten. Die Angaben des Geheimdienstes waren nicht überprüfbar. Die Separatisten machen eine Gruppe ukrainischer Agenten seit Tagen für Anschläge in dem Konfliktgebiet verantwortlich.

Ukraine dementiert

Die Ukraine dementierte das umgehend. Man könne Russland nicht daran hindern, Falschnachrichten zu produzieren, so die ukrainische Armee. „Aber wir betonen immer, dass wir nicht auf die zivile Infrastruktur schießen oder auf Gebiet in der Region Rostow oder was auch immer“, sagte der ukrainische Militärsprecher Pawlo Kowaltschuk. „Kein einziger unserer Soldaten hat die Grenze zur Russischen Föderation überquert, und kein einziger ist heute getötet worden“, ergänzte Anton Geraschtschenko vom ukrainischen Innenministerium.

Die Ukraine meldete unterdessen, dass ein ukrainischer Zivilist bei einem Separatistenangriff in der Ostukraine getötet wurde. Der Mann sei beim Beschuss eines nördlich von Donezk gelegenen Dorfes ums Leben gekommen, schrieb Gouverneur Pawlo Kyrylenko auf Facebook. Das Bombardement habe zum Ausfall der Stromversorgung geführt, zudem sei eine Gaspipeline beschädigt worden.

Ukrainische Soldaten nahe der Donezk-Region
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Ein Soldat der ukrainischen Armee in der Nähe der Frontlinie

Gipfel: „Alles rein fiktiv“

Völlig geschlossen sind die diplomatischen Kanäle von russischer Seite aber nicht. Der russische Außenminister Sergej Lawrow ließ am Montag wissen, dass er einige Fortschritte in den Gesprächen mit dem Westen sehe. Er bestätigte ein Treffen mit US-Außenminister Anthony Blinken am Donnerstag. Das Treffen war schon im Vorfeld eines möglichen Gipfels zwischen Putin und US-Präsident Joe Biden ins Blickfeld gerückt. Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian gab an, dass er Lawrow gebeten habe, auf die moskautreuen Separatisten Einfluss zu nehmen.

Treibende Kraft hinter einem möglichen Treffen zwischen den USA und Russland war Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Noch sei „alles rein fiktiv“, was den Gipfel betreffe, hieß es vonseiten eines US-Regierungsbeamten. Putins Sprecher bezeichnete konkrete Pläne für den Gipfel als „vorzeitig“. Aus dem Weißen Haus hieß es, dass Biden „grundsätzlich“ einem Gipfel zustimme, solange Russland nicht in die Ukraine einmarschiere.

In Kiew wurde die Aussicht auf einen Gipfel zwischen Biden und Putin begrüßt, man forderte aber eine Teilnahme der Ukraine an diesem Gespräch. Niemand könne dieses Problem ohne die Ukraine lösen, hieß es von offizieller Seite in Kiew.

GB: Putins Plan hat bereits begonnen

Im Westen variiert die Zuversicht in Bezug auf den Erfolg diplomatischer Bemühungen. „Wir verändern langsam den Kurs der Dinge“, sagte ein Berater des französischen Präsidenten Macron. „Wir schaffen eine diplomatische Perspektive, die der Kreml annehmen kann.“ Weniger zuversichtlich zeigte sich am Montag der Sprecher des britischen Premierministers Boris Johnson: Derzeit deute die Nachrichtenlage darauf hin, dass Russland einen Einmarsch in die Ukraine plane und dass Putins Plan in gewisser Weise bereits begonnen habe. In den vergangenen 48 Stunden habe man eine kontinuierliche Aufstockung der russischen Truppen gesehen, hieß es aus GB.

EU uneinig über Sanktionen

Insidern zufolge bereitet die US-Regierung ein erstes Sanktionspaket gegen Russland vor, das auf den Bankensektor abzielt. So sehr die Einigkeit über Sanktionen etwa von Deutschland betont wird, so wenig scheint diese gesichert zu sein. Zumindest innerhalb der EU gibt es unterschiedliche Lager, wie sich beim EU-Außenministertreffen am Montag in Brüssel zeigte. Baltische Staaten wie Litauen etwa zeigten sich aufgeschlossen für ein entschiedeneres Vorgehen. Eine klare Ablehnung kam hingegen aus Ländern wie Österreich und Irland.

Ukraine: EU wird an Ort und Stelle aufklären

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba hat im Vorfeld der Gespräche zwischen den Außenministern und -ministerinnen der EU über eine bereits fixierte militärische Beratungsmission der Europäischen Union in der Ukraine gesprochen. Damit seien aber keine Kampftruppen gemeint, betonte Kuleba.

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) sah die Zeit für neue Strafmaßnahmen noch nicht gekommen: „Das ist noch nicht die militärische Aggression von Russland, von der wir sprechen.“ Man habe als Europäische Union immer gesagt, dass man verhältnismäßig reagieren werde. „Sanktionen sind eine Reaktion, eine Art Bestrafung“, sagte er. „Das kann man nicht im Vorfeld machen, sollte man auch nicht.“

Nehammer betont Einigkeit der EU

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock äußerte sich zunächst nicht öffentlich zur Sanktionsdebatte. Ihr ukrainischer Amtskollege Kuleba, der in Brüssel dabei war, forderte erneut sofortige Strafmaßnahmen für Russland. Verständigt haben sich die Außenminister der EU auf einen beratenden Militäreinsatz in der Ukraine. Zudem gaben sie finanzielle Nothilfe für die Ukraine im Rahmen eines weiteren Kredits von 1,2 Mrd. Euro frei.

Analyse des EU-Außenministertreffens

Der Außenminister der Ukraine bat die EU darum, Sanktionen gegen Russland in Kraft zu setzen. Ob sein Ansuchen gehört wird, weiß ORF-Korrespondentin Raffaela Schaidreiter.

Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) sprach am Montag angesichts der aktuellen Entwicklungen von „ernsten Stunden für Europa“. Die Situation sei brandgefährlich, Russland könne „auf Knopfdruck eine Invasion beginnen“, so Nehammer. Er betonte, dass die EU ein „intensives Sanktionsregime“ vorbereitet habe. Dazu zähle auch die Nichtinbetriebnahme der Gaspipeline „Nord Stream 2“, doch sei das nur ein Teil des Pakets. Die Sanktionen seien „auf Knopfdruck aktivierbar“ und eine Umgehung dieser Sanktionen sei aufgrund der guten Vorbereitung durch die EU-Kommission „ausgeschlossen“ oder werde „möglichst schwer gemacht“. Russland sei überrascht, „wie einig die EU ist“.

Satellitenbilder zeigen neue militärische Aktivitäten

Obwohl Russland nach wie vor Invasionspläne dementiert, zeigen aktuell aufgenommene Satellitenbilder neue militärische Aktivitäten Russlands in der Nähe der Grenze zur Ukraine. Das in den USA ansässige Unternehmen Maxar Technologies meldete die Stationierung weiterer Truppen und Panzerausrüstung an mehreren Orten entlang des Grenzverlaufs. Die neue Aktivität stelle eine Änderung in der Struktur der zuvor beobachteten Stationierung von russischen Kampfeinheiten dar, hieß es.

Grafik zur Stationierung russischer Truppen
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: NY Times

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warf Moskau wegen angekündigter weiterer Militärmanöver an der ukrainischen Grenze Wortbruch vor. „Wir sehen, dass Russland versprochen hat, sich zurückzuziehen, aber Russland hat das weiter gesteigert, den Aufmarsch, mehr Truppen an der Grenze stationiert“, sagte Stoltenberg bereits am Sonntag der ARD.

Kiew rechnet nicht mit Angriff aus Belarus

Der Abzug russischer Streitkräfte aus Belarus hängt nach Angaben der Regierung in Minsk zum großen Teil davon ab, dass die NATO ihre Soldaten aus Gebieten nahe der Grenze zu Belarus und Russland abzieht. „Die russischen Soldaten werden nur dann an ihre Stützpunkte zurückkehren, wenn dafür ein objektiver Bedarf besteht und wir das entscheiden“, sagte der belarussische Armeechef Viktor Gulewitsch. Das werde nicht zuletzt auch von den westlichen Kollegen abhängen.

Kiew rechnet trotz mehrfacher Warnungen aus den USA nicht mit einem russischen Angriff aus Belarus. „Das klingt lächerlich“, sagte Verteidigungsminister Olexij Resnikow. Kiew schätze das russische Truppenkontingent im Nachbarland auf etwa 9.000 Personen plus Technik und Ausrüstung. Es sei nicht verwunderlich, dass Moskau diese nach dem Abschluss des Großmanövers am Sonntag nicht wieder abziehe. „Denn sie wurden aus dem Fernen Osten offensichtlich nicht mehrere Wochen dafür herangebracht, um zehn Tage zu trainieren und dann wieder zurückzukehren“, meinte der Minister.