Vladimir Putin
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Donezk und Luhansk

Putin erkennt Separatistengebiete an

Die Ukraine-Krise hat eine neue Eskalationsstufe erreicht: Russlands Präsident Wladimir Putin bestätigte in einer TV-Ansprache, dass er die Unabhängigkeit der prorussischen Separatistengebiete Donezk und Luhansk in der Ostukraine anerkennt. In der langen Rede attackierte er die Ukraine scharf, stellte ihre Staatlichkeit als Ganzes infrage, bezeichnete sie als „Marionettenstaat“ und warf ihr atomare Aufrüstung vor. Die EU und die USA wollen mit Sanktionen reagieren, die NATO sah einen Vorwand für eine Invasion in der Ukraine.

„Ich halte es für notwendig, eine längst überfällige Entscheidung zu treffen, nämlich die Unabhängigkeit und Souveränität der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Luhansk unverzüglich anzuerkennen“, bestätigte Putin am Montagabend seinen Schritt. Die Duma soll das Dekret bereits am Dienstag ratifizieren.

Das Staatsfernsehen zeigte, wie Putin das Dekret unterzeichnete. Zugleich schloss er mit den Vertretern der beiden prorussischen Separatistenrepubliken einen Vertrag über „Freundschaft und Beistand“. Mit einer Anerkennung der „Volksrepubliken“ könnte Russland Tausende Soldaten dort stationieren, mit dem Argument, dass es als Verbündeter eingreift, um sie vor der Ukraine zu schützen.

Rundumschlag gegen Ukraine

Zuvor hatte Putin in der rund einstündigen Rede einen Rundumschlag gegen die Ukraine absolviert. Den Osten des Landes bezeichnete er als historisch russisches Gebiet. Die Ukraine sei ein integraler Bestandteil der eigenen Geschichte, erklärte Putin. Er sprach der Ukraine ab, eine eigene Staatstradition zu haben. Dem Land sei es nie gelungen, einen stabilen Staat zu schaffen, so der Präsident. Deshalb habe sich die Ukraine auf andere Länder wie die USA verlassen müssen.

Die ukrainischen Behörden seien von Nationalismus und Korruption verunreinigt, das Land befinde sich in den Händen von oligarchischen Clans. Die Ukraine habe in der Vergangenheit russisches Gas gestohlen und das Thema Energie genutzt, um Russland zu erpressen. Radikale und Nationalisten hätten das Sagen – unter den Kuratoren des Westens, die das Land in die Sackgasse geführt hätten. Korruption und Machtkämpfe von Oligarchen würden verhindern, dass es den Menschen in der Ex-Sowjetrepublik besser gehe. Westliche Geheimdienste hätten der Ukraine bei Verbrechen geholfen.

Angriffe auch gegen NATO

Der NATO lastete er erneut an, sich Russland bedrohlich anzunähern. NATO-Infrastruktur befinde sich an der russischen Grenze, die Ukraine wäre der hauptsächliche Ausgangsort für einen Angriff auf Russland. Die Ukraine bezeichnete er als eine US-Kolonie mit einer „Marionettenregierung“. Die USA und die NATO hätten die Ukraine unverhohlen zu einem Kriegsschauplatz gemacht, dort stationierte US-Drohnen in der Ukraine würden ständig Russland ausspionieren. Die NATO habe russische Sicherheitsbedenken komplett ignoriert, dabei unterstütze die Regierung in Moskau immer diplomatische Wege zur Lösung von Problemen.

Grafik zur Stationierung russischer Truppen
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: NY Times

Putin warf der Ukraine zudem vor, eigene Atomwaffen bauen zu wollen. Das komme Vorbereitungen für einen Angriff auf Russland gleich, sagte Putin. Die Ukraine habe Atom-Know-how aus der Sowjetzeit. Wenn die Ukraine in den Besitz von Massenvernichtungswaffen komme, werde sich die globale Lage drastisch ändern. Das könne nicht ignoriert werden. Er wiederholte auch den Vorwurf von „Massenverbrechen“ am russischstämmigen Volk in der Ostukraine.

Separatistenführer riefen zu Anerkennung auf

Zuvor hatten die Separatistenführer der selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk Putin dazu aufgerufen, ihre Unabhängigkeit anzuerkennen. Putin berief anschließend einen nationalen Sicherheitsrat ein, in dem sich alle Beteiligten – darunter Außenminister Sergej Lawrow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu – für die Anerkennung der Regionen aussprachen.

Vladimir Putin
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Putin beim nationalen Sicherheitsrat

Putin hatte im Rahmen des Treffens gesagt, er sehe keine Chancen mehr für eine Umsetzung der Minsker Abkommen. In den von Deutschland und Frankreich 2014 und 2015 vermittelten und gemeinsam mit der Ukraine und Russland vereinbarten Abkommen hatten sich die Konfliktparteien in der Ostukraine zu mehreren Schritten verpflichtet, um eine Friedenslösung in dem Konflikt zu erreichen.

EU und USA kündigen Sanktionen an

Die EU und die USA kündigten unmittelbar Sanktionen an. „Die Anerkennung der zwei Separatistengebiete in der Ukraine ist eine eklatante Verletzung internationalen Rechts, der territorialen Integrität der Ukraine und der Minsker Vereinbarungen“, erklärten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel. „Die Union wird mit Sanktionen gegen diejenigen reagieren, die an diesem rechtswidrigen Vorgehen beteiligt sind.“

Aus dem Weißen Haus hieß es, die Maßnahmen träfen unter anderem Investitionen oder Handel von US-Personen mit Blick auf Donezk und Luhansk. Der britische Premierminister Boris Johnson prangerte den Schritt Putins als „offenen Bruch internationalen Rechts“ an. Großbritannien bereitet laut der Regierung ebenfalls Sanktionen vor. Auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock kritisierte einen „eklatanten Bruch des Völkerrechts“ und rief Russland zu einer Rücknahme auf. Putin habe das Normandie-Format willentlich zunichtegemacht.

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz soll in Kürze mit Biden und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron telefonieren. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilt das russische Vorgehen. Die Regierung in Moskau verschärfe den Konflikt mit der Ukraine weiter. Russland versuche, einen Vorwand zu inszenieren, um erneut in die Ukraine einzudringen.

„Es ist leider eingetreten, was wir seit Tagen befürchtet und wovor wir gewarnt haben“, teilte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) mit. Aufgrund der dramatischen Lage berief Nehammer für Dienstag erneut das Krisenkabinett der Bundesregierung zum Ukraine-Konflikt ein. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) nannte das Vorgehen „eine eklatante Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine“. Auch die Grünen verurteilten das Vorgehen Putins. Von einem „Schlag ins Gesicht der Diplomatie“ sprach die außenpolitische Sprecherin Ewa Ernst-Dziedzic.

Staaten alarmiert

Die Ukraine hatte noch vor Putins Rede eine Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrats gefordert und berief einen nationalen Sicherheitsrat ein. Es seien „dringende Maßnahmen zur Deeskalation und konkrete Schritte“ erforderlich, um die Sicherheit der Ukraine zu gewährleisten, so Außenminister Dmytro Kuleba. Auch bei einer Sondersitzung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) rief ein Vertreter der Ukraine zur Deeskalation auf.

Russische Panzer an der Grenze zur Ukraine
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Russische Truppen bei einem Militärmanöver in Belarus

Moskau meldete getötete „Saboteure“

Die Lage hatte sich am Montag schon zuvor wieder gefährlich zugespitzt. Es hieß vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB, der auch für die Grenzsicherung zuständig ist, dass fünf ukrainische „Saboteure“ auf russisches Staatsgebiet vorgedrungen und dort getötet worden seien. Am Nachmittag meldete der FSB neuerlich Grenzverletzungen vonseiten der Ukraine und die Festnahme eines ukrainischen Soldaten. Die Angaben des Geheimdienstes waren nicht überprüfbar. Die Separatisten machen eine Gruppe ukrainischer Agenten seit Tagen für Anschläge in dem Konfliktgebiet verantwortlich.

Ukraine dementiert

Die Ukraine dementierte das umgehend. Man könne Russland nicht daran hindern, Falschnachrichten zu produzieren, so die ukrainische Armee. „Aber wir betonen immer, dass wir nicht auf die zivile Infrastruktur schießen oder auf Gebiet in der Region Rostow oder was auch immer“, sagte der ukrainische Militärsprecher Pawlo Kowaltschuk. „Kein einziger unserer Soldaten hat die Grenze zur Russischen Föderation überquert, und kein einziger ist heute getötet worden“, ergänzte Anton Geraschtschenko vom ukrainischen Innenministerium.

Die Ukraine meldete unterdessen, dass ein ukrainischer Zivilist bei einem Separatistenangriff in der Ostukraine getötet wurde. Der Mann sei beim Beschuss eines nördlich von Donezk gelegenen Dorfes ums Leben gekommen, schrieb Gouverneur Pawlo Kyrylenko auf Facebook. Das Bombardement habe zum Ausfall der Stromversorgung geführt, zudem sei eine Gaspipeline beschädigt worden.

Ukrainische Soldaten nahe der Donezk-Region
APA/AFP/Anatolii Stepanov
Ein Soldat der ukrainischen Armee in der Nähe der Frontlinie

Gipfel: „Alles rein fiktiv“

Am Vormittag war noch die Möglichkeit eines Gipfels zwischen Putin und Biden im Raum gestanden. Für Donnerstag war ein Treffen mit US-Außenminister Anthony Blinken angekündigt. Aus dem Weißen Haus hieß es, dass Biden „grundsätzlich“ einem Gipfel zustimme, solange Russland nicht in die Ukraine einmarschiere. Die Lage dürfte sich angesichts der Anerkennung der Separatistengebiete aber geändert haben.

Satellitenbilder zeigen neue militärische Aktivitäten

Obwohl Russland nach wie vor Invasionspläne dementiert, zeigen aktuell aufgenommene Satellitenbilder neue militärische Aktivitäten Russlands in der Nähe der Grenze zur Ukraine. Das in den USA ansässige Unternehmen Maxar Technologies meldete die Stationierung weiterer Truppen und Panzerausrüstung an mehreren Orten entlang des Grenzverlaufs. Die neue Aktivität stelle eine Änderung in der Struktur der zuvor beobachteten Stationierung von russischen Kampfeinheiten dar, hieß es.