Ukrainischer Soldat in Luhansk
APA/AFP/Aris Messinis
Berichte über zahlreiche Explosionen

Lage in Ostukraine spitzt sich zu

Während Russland mit der Stationierung von Truppen an der Grenze zur Ostukraine fortfährt, weiten sich in der Konfliktzone die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Separatisten aus. Laut Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) war die Region Luhansk mit 1.224 „Verstößen gegen den Waffenstillstand“ besonders betroffen, darunter 1.149 Explosionen. In der Region Donezk lag die Zahl bei 703 Verstößen, darunter 332 Explosionen.

Die Regierungstruppen verzeichneten nach eigenen Angaben einen Toten und sechs Verletzte. Die von Russland nun auch offen militärisch unterstützten Separatisten meldeten einen Toten und fünf verletzte Kämpfer. Zudem seien fünf Zivilisten getötet worden. Unabhängig überprüfen ließen sich diese Abgaben nicht.

Der ukrainische Sicherheitsrat kündigte am Mittwoch die Ausrufung des Ausnahmezustands für das ganze Land an. Das beziehe sich zunächst auf die kommenden 30 Tage, sagte der Sekretär des Sicherheitsrates, Olexij Danilow, in Kiew. Möglich seien unter anderem Ausgangssperren. Darüber hinaus ist der Aufenthalt in der Nähe der Grenzen zu Russland, Belarus und den ostukrainischen Separatistengebieten zur Nachtzeit verboten, wie die Behörde mitteilte.

Ukraine beginnt mit Einberufung von Reservisten

Gleichzeitig wurde mit der Einberufung von Reservisten begonnen. Betroffen seien Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, heißt es in einer Erklärung der Streitkräfte. Die maximale Dienstzeit betrage ein Jahr. Präsident Wolodymyr Selenski hatte die Einberufung am Dienstag per Dekret angeordnet, eine generelle Mobilmachung aber ausgeschlossen.

Grafik zu russischen separatistischen Regionen in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at

Die ukrainische Regierung rief zugleich alle Landsleute dazu auf, Russland zu verlassen. Das Außenministerium in Kiew veröffentlichte einen entsprechenden Hinweis, in dem auch vor Reisen nach Russland gewarnt wird.

Satellitenbilder zeigen russische Aufrüstung

Neu aufgenommene Satellitenbilder zeigen derweil weitere militärische Aktivitäten Russlands in der Nähe der Grenze zur Ukraine. Das in den USA ansässige Unternehmen Maxar Technologies meldete die Stationierung von mehr als 100 Militärfahrzeugen und Dutzenden von Truppenzelten im südlichen Belarus im Grenzgebiet zur Ukraine. Auch ein neues Feldlazarett sei bei einer Militärgarnison im Westen Russlands errichtet worden.

Satellitenbild eines russischen Militärstützpunkts im belarussichen Mazyr
Reuters/Maxar Technologies
Auf Satellitenbildern sind Truppen im südlichen Belarus zu sehen

Der Anführer der Separatisten im ostukrainischen Donezk, Denis Puschilin, sagte am Mittwoch, die Lage sei kritisch geworden. Das Gebiet sei Provokationen ausgesetzt gewesen, die zum Tod von Menschen geführt hätten. Die Mobilmachung in Donezk komme aber voran. „Wir werden siegen.“ Die Hilfe des „großen Russlands“ bringe den Sieg. Er sagte, es seien keine russischen Soldaten im Donbass. Ihre Präsenz sei aber in Zukunft möglich, wenn die Situation das erfordere. Er würde es bevorzugen, die Frage der Grenzziehung friedlich mit der Regierung in Kiew zu lösen. Er behalte sich aber das Recht vor, Russland um Hilfe zu bitten, sagte der Anführer der selbst ernannten „Volksrepublik“ Donezk, die Russland wie auch Luhansk als unabhängig anerkannt hat.

Putin: Russische Interessen „nicht verhandelbar“

Erst am Mittwoch hatte Russlands Präsident Wladimir Putin in einer TV-Ansprache gesagt, dass er noch zur Suche nach „diplomatischen Lösungen“ bereit sei – gleichzeitig aber die Interessen seines Landes als „nicht verhandelbar“ bezeichnet. In der Rede anlässlich des Tages des Verteidigers des Vaterlandes bezeichnete er auch die „Sicherung der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes“ als „wichtigste staatliche Aufgabe“.

Putin lobte die Gefechtsbereitschaft der russischen Armee und kündigte an, Russland werde weiter an hochmodernen Waffensystemen arbeiten. Diese seien „wirklich die Waffen der Zukunft, die das Kampfpotenzial unserer Streitkräfte deutlich erhöhen“. Die Rufe Moskaus nach Garantien dafür, dass die Sicherheit eines Landes nicht auf Kosten eines anderen geht, seien bisher unbeantwortet geblieben, kritisierte er.

Moskau: „Harte“ Antwort auf US-Sanktionen

Russland kündigte auch harte Gegenmaßnahmen als Reaktion auf die von den USA verhängten Sanktionen in der Ukraine-Krise an. „Es sollte kein Zweifel daran bestehen, dass es eine harte Antwort auf die Sanktionen geben wird, die nicht unbedingt symmetrisch, aber wohlkalkuliert und schmerzhaft für die amerikanische Seite sein wird“, so das russische Außenministerium am Mittwoch.

Unterdessen setzte Moskau den angekündigten Abzug seines diplomatischen Personals aus der Ukraine in die Tat um. Ein Sprecher der russischen Botschaft in Kiew bestätigte die Evakuierung am Mittwoch gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

USA rechnen mit „massivem Militärschlag“

International geht man davon aus, dass Russland einen großangelegten Angriff auf die Ukraine vorbereitet. „Wir glauben nach wie vor, dass Russland bereit ist, deutlich weiter zu gehen und einen massiven Militärschlag gegen die Ukraine zu starten“, sagte US-Präsident Joe Biden am Dienstag im Weißen Haus. Er bezeichnete Moskaus Anerkennung der „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk und die geplante Entsendung russischer Truppen dorthin als „Beginn einer Invasion“. Putin liefere „eine Begründung für die gewaltsame Einnahme weiterer Gebiete“.

Biden befürchtet weitere Eskalation

Der US-Präsident geht davon aus, dass Russland weitere Schritte plant.

Angesichts der jüngsten Eskalation sagte US-Außenminister Antony Blinken ein geplantes Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow ab. Im Hinblick auf das Vorgehen Moskaus habe es keinen Sinn, an dem ursprünglich für Donnerstag in Genf angesetzten Gespräch festzuhalten, sagte Blinken nach einem Treffen mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba in Washington. Ein vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagener Gipfel zwischen Biden und Putin ist laut Weißem Haus aktuell kein Thema mehr.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bezichtigte Putin wegen der Eskalation der Lüge. „Wenn man vor einer Woche A gesagt hat und jetzt das Gegenteil tut, dann hat man nicht die Wahrheit gesagt. Oder auf Deutsch: Dann hat man gelogen“, sagte Baerbock am Mittwoch nach einem Treffen mit Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian in Berlin. Sie antwortete damit auf die Frage, ob Putin noch ein vertrauenswürdiger Verhandlungspartner sei.

Unklarheit über russische Truppen im Donbass

Auch die britische Regierung rechnet mit einem russischen Angriff auf die Ukraine. „Wir halten es für sehr wahrscheinlich“, dass Russlands Präsident Wladimir Putin seinen Plan für eine großangelegte Invasion der Ukraine „in die Tat umsetzen wird“, sagte die britische Außenministerin Liz Truss. Noch immer ungewiss sei, ob russische Truppen bereits in den Donbass eingerückt sind oder nicht. „Wir haben noch keine verifizierten Beweise dafür, dass dies stattgefunden hat“, sagte Truss LBC Radio.

Russische Fahrzeuge nahe Donezk gesichtet

An der Grenze zur selbst ernannten „Volksrepublik" Donezk sind russische Militärfahrzeuge gesichtet worden. Zudem wurden neue Satellitenbilder veröffentlicht, die auf weitere militärische Aktivitäten Russlands hinweisen.

Das russische Militär wird einem Vertreter der russischen Regierungspartei zufolge nur in die beiden Separatistengebiete in der Ostukraine einmarschieren, wenn es darum gebeten wird. Das geschehe dann zur Friedenssicherung, sagte Andrej Turtschak, ein hochrangiges Mitglied der Partei Geeintes Russland.

Erdogan kritisiert Westen

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich über westliche Diplomatie im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland beschwert. „Alle reden nur, keiner tut etwas“, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Erdogan. Frankreichs Präsident Macron und der deutsche Kanzler Olaf Scholz seien in Moskau gewesen, auch US-Präsident Biden rede immer davon, dass man im Gespräch mit Russland sei. „Aber dabei ist nichts rausgekommen“, so Erdogan. Nun liege es an der NATO, etwas zu unternehmen. Welche Aktionen er damit meinte, ließ Erdogan jedoch offen.

TV-Hinweis

ORF III widmet dem Ukraine-Konflikt heute einen dreiteiligen Themenabend: Um 20.15 Uhr gibt es in ORF III AKTUELL einen Überblick über die neuesten Entwicklungen. Anschließend folgen die Dokus „Wladimir Putin – Rückkehr des russischen Bären“ (21.05 Uhr) und „Russland: Wie Putin die Geschichte sehen will“ (22.00 Uhr).

Selenski fordert „Sicherheitsgarantien“

Der ukrainische Präsident Selenski forderte angesichts der Furcht vor einem russischen Großangriff Sicherheitsgarantien für sein Land. „Die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien. Klar, konkret und sofort“, sagte Selenski am Mittwoch nach einem Treffen mit seinem polnischen Kollegen Andrzej Duda und dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda in Kiew. „Ich glaube, dass Russland zu den Ländern gehören muss, die klare Sicherheitsgarantien geben.“

Der Konflikt mit Russland hat nach Einschätzung des ukrainischen Präsidenten entscheidenden Einfluss auf die Zukunft Europas. „Wir teilen die Überzeugung, dass die Zukunft der europäischen Sicherheit gerade jetzt entschieden wird, hier in unserer Heimat, in der Ukraine“, sagte Selenski.