Volodymyr Selenski, Präsident der Ukraine
AP/Ukrainian Presidential Press Office
Ukraine

„Sicherheit Europas wird hier entschieden“

Die Lage in der Ukraine ist weiter enorm angespannt. Angesichts der Furcht vor einem russischen Angriff forderte am Mittwoch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski Sicherheitsgarantien für sein Land. Die Lage in der Ukraine hätte auch Auswirkungen auf Europa: „Wir teilen die Überzeugung, dass die Zukunft der europäischen Sicherheit gerade jetzt entschieden wird, hier in unserer Heimat, in der Ukraine“, sagte Selenski.

„Die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien. Klar, konkret und sofort“, so Selenski am Mittwoch nach einem Treffen mit seinem polnischen Kollegen Andrzej Duda und dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda in Kiew. „Ich glaube, dass Russland zu den Ländern gehören muss, die klare Sicherheitsgarantien geben.“

„Ich habe schon oft vorgeschlagen, dass sich der russische Präsident zu Gesprächen an den Verhandlungstisch setzen sollte“, sagte Selenski weiter in Richtung Moskau. Die weiteren Schritte der Ukraine hingen von den weiteren Aktionen Russlands ab.

Der Ukrainische Präsident Volodymyr Zelenskiy mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda und dem Lithauischen Präsidenten Gitanas Nauseda
Reuters/Umit Bektas
Bei einem Treffen zwischen Ukraine, Polen und Litauen forderte Selenski Sicherheitsgarantien

Laut Polen und Litauen sollte die Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten. Nicht zuletzt aufgrund der derzeitigen Sicherheitslage habe die Ukraine diesen Status verdient. Litauen und Polen unterstützten das, teilen Duda und Nauseda in einer gemeinsamen Erklärung mit, die auch von Selenski unterschrieben wurde.

Guterres warnt vor weiterer Eskalation

Mit eindringlichen Worten warnte auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba die UNO-Vollversammlung in New York vor einem Einmarsch Russlands. „Der Beginn eines großangelegten Krieges in der Ukraine wird das Ende der Weltordnung sein, wie wir sie kennen“, sagte Kuleba vor dem größten Gremium der Vereinten Nationen. Auch UNO-Generalsekretär Antonio Guterres wies dort auf die Gefahren einer Eskalation hin: „Unsere Welt befindet sich in einem Moment der Gefahr.“ Sollte sich der Konflikt ausweiten, könnte das zu einer Krise führen, deren „Ausmaß und Schwere“ die Welt seit Jahren nicht erlebt habe.

Wieder zahlreiche ukrainische Websites ausgefallen

Unterdessen dürfte es erneut eine Distributed-Denial-of-Service-Attacke (DDoS-Attacke) auf ukrainische Websites gegeben haben. Die Server des ukrainischen Parlaments, der Regierung, des Außenministeriums in Kiew und anderer staatlicher Einrichtungen waren am Nachmittag nicht erreichbar. Das gab der ukrainische Digitalisierungsminister Mychajlo Fedorow bekannt. Auch Banken sollen von den Ausfällen betroffen sein.

Die Ukraine wurde bereits in der Vergangenheit Ziel von Cyberattacken, für die die Regierung Russland verantwortlich macht. Moskau bestreitet eine Beteiligung. Bei DDoS-Attacken werden vereinfacht gesagt durch zu viele gleichzeitige Anfragen Netzwerke überlastet und damit Server von der Außenwelt abgeschnitten.

EU-Sanktionen abgesegnet, Sondergipfel kommt

Die EU beschloss am Mittwoch auch formell die tags zuvor angekündigten Strafmaßnahmen gegen Russland. Diese wenden sich nicht nur gegen Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu, sondern auch gegen jene 351 Abgeordnete des russischen Parlaments, die für die Anerkennung der selbst ernannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk gestimmt haben. Hinzu kommen Strafen gegen 27 weitere Personen und Organisationen. Angesichts der Eskalation kündigte EU-Ratspräsident Charles Michel einen Sondergipfel der Staats- und Regierungsspitzen für Donnerstag an.

Die EU kündigte auch ein zweites Sanktionspaket gegen Russland für den Fall an, dass russische Truppen über die von Separatisten gehaltenen ukrainischen Regionen hinaus vordringen. „Wenn es zu einer weiteren russischen Aggression und einem weiteren Eindringen in das ukrainische Territorium kommt, sind wir bereit, unsere Reaktion auch in Bezug auf Sanktionen zu verstärken“, sagte der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, der Nachrichtenagentur Reuters.

US-Sanktionen gegen „Nord Stream 2“

Die USA verhängen angesichts der Eskalation auch Sanktionen gegen die Betreibergesellschaft der deutsch-russischen Erdgaspipeline „Nord Stream 2“. US-Präsident Joe Biden gab die Strafmaßnahmen gegen die in der Schweiz ansässige Nord Stream 2 AG und deren Geschäftsführung am Mittwoch bekannt. Deutschland hatte das höchst umstrittene Projekt am Dienstag auf Eis gelegt.

Bericht über Konvois mit Militärgütern

Während Russland mit der Stationierung von Truppen an der Grenze zur Ostukraine fortfährt, weiten sich in der Konfliktzone die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Separatisten aus. Am Mittwochabend berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass zwei Konvois mit Militärgütern von der russischen Grenze in Richtung Donezk fuhren.

Ein hochrangiger US-Verteidigungsbeamter sagte unterdessen laut Medienberichten am Abend, dass Russland einen Großteil der Truppen für eine Invasion positioniert hätte. „Wir haben gesagt, dass es jeden Tag so weit sein kann, und es ist sicherlich möglich, dass heute dieser Tag ist“, so der Beamte. 80 Prozent der um die Ukraine zusammengezogenen Truppen seien in Angriffsstellungen. Offenbar soll auch eine Warnung des US-Geheimdienstes an die Ukraine ergangen sein, die vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff warnt, wie der „Guardian“ schreibt.

OSZE meldete über 1.000 Verstöße in Luhansk

Untertags meldete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), dass die Region Luhansk mit 1.224 „Verstößen gegen den Waffenstillstand“ besonders betroffen war, darunter 1.149 Explosionen. In der Region Donezk lag die Zahl bei 703 Verstößen, darunter 332 Explosionen.

Die Regierungstruppen verzeichneten nach eigenen Angaben einen Toten und sechs Verletzte. Die von Russland nun auch offen militärisch unterstützten Separatisten meldeten einen Toten und fünf verletzte Kämpfer. Zudem seien fünf Zivilisten getötet worden. Unabhängig überprüfen ließen sich diese Angaben nicht.

Der ukrainische Sicherheitsrat kündigte am Mittwoch die Ausrufung des Ausnahmezustands für das ganze Land an. Das beziehe sich zunächst auf die kommenden 30 Tage, sagte der Sekretär des Sicherheitsrates, Olexij Danilow, in Kiew. Möglich seien unter anderem Ausgangssperren. Darüber hinaus ist der Aufenthalt in der Nähe der Grenzen zu Russland, Belarus und den ostukrainischen Separatistengebieten zur Nachtzeit verboten, wie die Behörde mitteilte.

Ukraine beginnt mit Einberufung von Reservisten

Gleichzeitig wurde mit der Einberufung von Reservisten begonnen. Betroffen seien Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, heißt es in einer Erklärung der Streitkräfte. Die maximale Dienstzeit betrage ein Jahr. Präsident Selenski hatte die Einberufung am Dienstag per Dekret angeordnet, eine generelle Mobilmachung aber ausgeschlossen.

Grafik zu russischen separatistischen Regionen in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at

Die ukrainische Regierung rief zugleich alle Landsleute dazu auf, Russland zu verlassen. Das Außenministerium in Kiew veröffentlichte einen entsprechenden Hinweis, in dem auch vor Reisen nach Russland gewarnt wird.

Putin: Moskaus Interessen „nicht verhandelbar“

Erst am Mittwoch hatte Russlands Präsident Wladimir Putin in einer TV-Ansprache gesagt, dass er noch zur Suche nach „diplomatischen Lösungen“ bereit sei – gleichzeitig aber die Interessen seines Landes als „nicht verhandelbar“ bezeichnet. In der Rede anlässlich des Tages des Verteidigers des Vaterlandes bezeichnete er auch die „Sicherung der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes“ als „wichtigste staatliche Aufgabe“.

Russland kündigte auch harte Gegenmaßnahmen als Reaktion auf die von den USA verhängten Sanktionen in der Ukraine-Krise an. „Es sollte kein Zweifel daran bestehen, dass es eine harte Antwort auf die Sanktionen geben wird, die nicht unbedingt symmetrisch, aber wohlkalkuliert und schmerzhaft für die amerikanische Seite sein wird“, so das russische Außenministerium.

Unklarheit über russische Truppen im Donbass

Auch die britische Regierung rechnet mit einem russischen Angriff auf die Ukraine. Eine tatsächliche Invasion durch Russland halte sie „für sehr wahrscheinlich“, so die britische Außenministerin Liz Truss. Noch immer ungewiss sei, ob russische Truppen bereits in den Donbass eingerückt sind oder nicht. „Wir haben noch keine verifizierten Beweise dafür, dass dies stattgefunden hat“, sagte Truss LBC Radio.

Russische Fahrzeuge nahe Donezk gesichtet

An der Grenze zur selbst ernannten „Volksrepublik" Donezk sind russische Militärfahrzeuge gesichtet worden. Zudem wurden neue Satellitenbilder veröffentlicht, die auf weitere militärische Aktivitäten Russlands hinweisen.

Das russische Militär wird einem Vertreter der russischen Regierungspartei zufolge nur in die beiden Separatistengebiete in der Ostukraine einmarschieren, wenn es darum gebeten wird. Das geschehe dann zur Friedenssicherung, sagte Andrej Turtschak, ein hochrangiges Mitglied der Partei Geeintes Russland.

USA befürchten fünf Millionen Menschen auf der Flucht

Die USA befürchten bei einem Krieg in der Ukraine, dass bis zu fünf Millionen Menschen flüchten müssen oder vertrieben werden. „Wenn Russland diesen Weg weitergeht, könnte es nach unseren Schätzungen eine neue Flüchtlingskrise auslösen, eine der größten, mit der die Welt heute konfrontiert ist – mit bis zu fünf Millionen weiteren vertriebenen Menschen“, sagte die UNO-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield.