Pier Paolo Pasolini 100

Italiens verfemter Prophet

Als Filmemacher, Schriftsteller und politischer Intellektueller polarisierte er im Nachkriegsitalien wie kein Zweiter: Pier Paolo Pasolini war seiner Zeit voraus – und fasziniert mit seinem umfangreichen Werk, das die Grenzen zwischen den künstlerischen Disziplinen ignorierte, auch 100 Jahre nach seiner Geburt und 47 Jahre nach seiner Ermordung. Besonders in seinen späten politischen Recherchen erwies er sich als hellsichtig.

Unkeuscher Heiliger, marxistischer Renegat, homosexueller Frauenrechtsgegner: Die vielen Zuschreibungen, die Pasolini durch seine Filme und öffentlichen Interviews provozierte, finden bis heute ihr Echo, wo immer über ihn geschrieben und gesprochen wird.

Geboren am 5. März 1922 in Bologna als Sohn eines Offiziers aus verarmtem Adel und einer Volksschullehrerin aus dem Friaul, liest sich Pasolinis Biografie wie eine Folie für die Entwicklung des Landes zwischen dem Faschismus und den „Anni di Piombo“, der Zeit, in der Gewalt von links und rechts das gesellschaftliche Klima in den 1970er Jahren beherrschte.

Pasolini, dessen frühe Jahre von den Kinder- und Jugendorganisationen des italienischen Faschismus, Opera Nazionale Ballila (ONB) und Gioventu italiana del Littorio (GIL), geprägt waren – eine Generationenerfahrung für die die Beschreibung „lange Reise durch den Faschismus“ populär wurde –, erzählte in Interviews der späten 1960er Jahre, er habe den Druck des Faschismus nicht wahrgenommen, „wie ein Fisch nicht wahrnimmt, dass er im Wasser schwimmt“.

Pier Paolo Pasolini 1970
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Pasolini mit Maria Callas bei den Dreharbeiten für „Medea“ 1969

Er habe aber durch die Lektüre von Klassikern wie Fjodor Michailowitsch Dostojewski, William Shakespeare und Arthur Rimbaud – dessen Selbststilisierung als von der Gesellschaft ausgestoßener „Poete maudit“ (dt. „verfemter Dichter“) für Pasolini eine Steilvorlage war – zu einem „kulturellen Antifaschismus“ gefunden. Ein solcher Antifaschismus, beeinflusst vom Dichter Antonio Rinaldi, der Pasolini ab 1937 im Bologneser Liceo Galvani unterrichte, wurde neben der mythischen Überhöhung der Partisanen zur kulturellen Grundlage des Nachkriegsitaliens.

Vom Dialektdichter zum Ausgestoßenen

Pasolini verbrachte die letzte Phase des Krieges im friaulschen Geburtsort seiner Mutter, Casarsa della Delizia, wo er auch seinen ersten Gedichtband im friaulschen Dialekt schrieb, den er sich, wie er Jahrzehnte später bekannte, gewissermaßen durch seine Gedichte erst aneignen musste.

Neuerscheinungen und Neuauflagen zum Jubiläum

  • Pasolini: Kleines Meerstück. Folio.
  • Pasolini: Teorema. Wagenbach.
  • Pasolini: Amado mio. Wagenbach.
  • Pasolini: Nach meinem Tod zu veröffentlichen. Späte Gedichte. Suhrkamp.
  • Gaetano Biccari (Hg.): Pier Paolo Pasolini in persona, Gespräche und Selbstzeugnisse. Wagenbach.
  • Valerio Curcio: Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen – Fußball nach Pier Paolo Pasolini. Edition Converso.

In dieselbe Zeit fiel auch die Arbeit an seinen „roten Heften“, einem Projekt, in dem er sich mit seinen homoerotischen Beziehungen zu jungen Männern der Gegend auseinandersetzte, das auch in den erst postum veröffentlichten Roman „Amado mio“ einfloss, welchen der Wagenbach Verlag gerade mit vielen weiteren Werken zum Jubiläum wieder aufgelegt hat.

Schon hier tauchten für das spätere Werk charakteristische Themen wie die Glorifizierung von Figuren aus dem einfachen Volk, aus dem bäuerlichen Milieu und später aus dem Subproletariat auf, die Pasolini als unverfälscht und auf quasireligiöse Art als rein wahrnahm.

Während sein Bruder Guidoalberto im Februar 1945 als Mitglied der Resistenza von rivalisierenden kommunistischen Partisanen ermordet wurde, versuchte Pasolini in einer improvisierten Schule die Kinder der Gegend zu unterrichten. 1949 endete seine Tätigkeit als Volksschullehrer und Mitglied der kommunistischen Partei (PCI) abrupt, als er homosexueller Beziehungen mit Dorfjugendlichen bezichtigt wurde.

Literaturskandal in der Ewigen Stadt

Schon damals, Jahre vor dem künstlerischen Durchbruch, zeigte sich die Spannung, die Pasolinis Leben und Öffentlichkeitswirkung durchzog: Als bekennender marxistischer Intellektueller und mit einem gefallenen Helden des Widerstandes als Bruder war er prädestiniert für eine steile Karriere in seiner Zeit – seine Homosexualität und seine unorthodoxen Ansichten isolierten ihn immer wieder davon.

Veranstaltungen zum Jubiläum

  • Die Ausstellung „Pasolini. I disegni nella laguna di Grado“ („Pasolini. Die Zeichnungen in der Lagune Grados“) mit 20 Zeichnungen Pasolinis in der Casa Colussi in Casarsa della Delizia läuft bis zum 3. April
  • Das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien veranstaltet am 10. März den Workshop „Pasolini vive“
  • Das Burgkino Wien zeigt am Samstag zum 100. Geburtstag Pasolinis „Salo – Die 120 Tage von Sodom“ um 18.00 Uhr

Der Ausgestoßene ging mit seiner Mutter, der wichtigsten Bezugsperson seines Lebens, nach Rom, wo er sich als Lehrer durchschlug und in den Jugendlichen des städtischen Subproletariats das Personal seines Debütromans „Ragazzi di vita“ fand, mit dem er berühmt wurde und sofort einen Literaturskandal ersten Ranges provozierte. Vorwürfe gegen den Roman mit seinen Dialektpassagen kamen sowohl vonseiten der kommunistischen Presse als auch von der christdemokratischen Regierung.

Der Roman wurde wegen seines „pornografischen Charakters“ bei der Mailänder Staatsanwaltschaft angezeigt und beschlagnahmt. Während des Prozesses wurde Pasolini vom einflussreichen Dichter Giuseppe Ungaretti und seinem Freund Alberto Moravia in Schutz genommen.

Die „Borgate“ auf Film

Die Jugendlichen der römischen „Borgate“, sie waren nicht nur die Inspiration für „Ragazzi di vita“ und den folgenden Roman „Una vita violenta“ (1959), sondern auch für Pasolinis erste Regiearbeiten „Accattone“ (1961) (dt. Untertitel „Wer nie sein Brot mit Tränen aß“) und „Mamma Roma“ mit Anna Magnani (1962).

Zum Film war Pasolini während der Arbeit an „Ragazzi di vita“ aus der Not heraus gekommen, Freunde wie der Kritiker und Autor Giorgio Bassani boten ihm die Mitarbeit an Drehbüchern an, etwa an dem Luis-Trenker-Film „Flucht in die Dolomiten“ (1955). In einem Brief schrieb er dazu: „Als ich das erste Drehbuch angenommen habe, war ich wortwörtlich am Verhungern.“

Pier Paolo Pasolini 1970
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Ein beliebtes Sujet auf Roms Straßen: Pasolini trägt sich in Anlehnung an Pieta-Darstellungen selbst als sterbenden Jesus

Mythen und Christentum treffen Gesellschaftskritik

Der Film wird das Medium, mit dem man Pasolini besonders außerhalb Italiens wahrnimmt. Neben kritischen Dokumentationen und Filmessays wie 1963 „La rabbia“ (dt. „Die Wut“) und im Folgejahr „Comizi d’amore“ (dt. „Gastmahl der Liebe“) fand er im Spielfilm zu einer ganz eigenen Form, die Märchenhaftes und Absurdes mit Provokation und politischem Kommentar verbindet.

Etwa in „Uccellacci e uccellini“ (Dt. „Große Vögel, kleine Vögel“), in der ein sprechender Rabe einem Vater und Sohn mit christlicher Heilslehre und Kritik an ihrer kleinbürgerlichen Moral so lange auf die Nerven geht, bis sie ihm den Hals umdrehen.

Neben Arbeiten die christliche und archaische Mythen bearbeiten („Il Vangelo secondo Matteo“, 1964, „Edipo Re“, 1967, „Medea“, 1969, „Il Decamerone“, 1971) und diese mit der Pasolini faszinierenden Lebensfreude ursprünglicher Menschen verbinden, die auch Erotik einschließt, veröffentlichte Pasolini gesellschaftskritische Parabeln wie „Teorema“ (1968), in dem ein Fremder nach und nach alle Mitglieder einer gut bürgerlichen Familie verführt.

In „Porcile“ (Dt. „Schweinestall“) (1969) fühlt sich der Sohn eines deutschen Industriellen mit Nazi-Vergangenheit von Schweinen angezogen, die ihn schließlich auffressen. Der nur wenig verhohlene Subtext laut Pasolini: „Die Gesellschaft frißt nicht nur ihre ungehorsamen Kinder, sondern auch die unbestimmbaren, geheimnisvollen Kinder, also die, die weder gehorsam noch ungehorsam sind.“

Ein Freibeuter gegen alle

Die Faszination für Archaisches, die Verklärung von Armut, das Schwelgen in katholischen Formen des bekennenden Atheisten, das alles war Teil einer umfassenden gesellschaftlichen Analyse Pasolinis, die er in allen Formen gleichzeitig bearbeitete und die ebenso wie Stoffe zwischen Essays, Filmen, Gedichten und Theaterstücken wanderte. Bei „Teorema“ existiert etwa neben dem Film ein Roman, der auf einer Umsetzung des Stoffes in Versen einige Jahre zuvor beruht.

Am meisten Kritik handelte sich Pasolini – der über 20 Gerichtsprozesse wegen seiner Werke führte – dort ein, wo er am deutlichsten wurde, in einer Reihe von Beiträgen für die konservative Tageszeitung „Corriere della Sera“. Der auf Deutsch als „Freibeuterschriften“ erschienene Band beinhaltete Pasolinis paradoxes Ankämpfen gegen ein Gesetz, das die Abtreibung in Italien legalisierte.

Er hielt es für falsch, weil die Abtreibung das Leben zu einer Ware mache, überhaupt sah er dort, wo die Konsumkultur auf dem Vormarsch war, einen „neuen Faschismus“ am Werk, schlimmer als den alten, unter dem er einst aufwuchs.

Die Urheber dieses neuen Faschismus seien die deklariert antifaschistischen Machthaber der Democrazia Cristiana (DC) wie Aldo Moro und Giulio Andreotti. Mit seinen Thesen handelte sich Pasolini Kritik von allen Seiten ein, von seinen linken Freunden wie Alberto Moravia und von Umberto Eco genauso wie von konservativer, neofaschistischer und klerikaler Seite.

Pier Paolo Pasolini 1970
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In „Salo – Die 120 Tage von Sodom“ setzte Pasolini noch einmal zur Kritik am Faschismus an

Eine „Kraft aus der Vergangenheit“

Passenderweise bezeichnete sich Pasolini in einem Gedicht als „Kraft aus der Vergangenheit“, darin heißt es: „Ich komme aus den Ruinen, den Kirchen mit ihren Altarbildern, den verlassenen Dörfern der Voralpen oder der Apenninen, von dort, wo die Brüder zu Hause waren.“ Er wollte die Vergangenheit gegen die Gegenwart, die er mit der ökonomischen Durchdringung aller Lebensbereiche als bedrohlich empfand, aufwiegen.

Gleichzeitig sah er, hellsichtig wie kaum ein anderer, den Hintergrund der Spannungen der „Anni di piombo“, in denen Gewalt von links und rechts Italien beherrschte. Neben Gedichten wie „Patmos“ und „La raccolta die cadaveri“ über den Bombenanschlag auf der Mailänder Piazza Fontana im Dezember 1969 ist sein Beitrag „Der Roman von den Massakern“ aus den Freibeuterschriften berühmt, in denen es immer wieder heißt: „Ich weiß. Aber mir fehlen die Beweise.“

Nachdem Moro, damals Parteisekretär der DC am 16. März 1978 von der linksterroristischen Gruppierung Rote Brigaden (Brigate Rosse) entführt und nach 55 Tagen Geiselhaft ermordet wurde, veröffentlichte Leonardo Sciascia eine Studie über die Briefe Moros aus der Geiselhaft, in der er folgerte, dass dessen Parteigenossen ihn absichtlich nicht gerettet hätten. Die Analyse nimmt ihren Ausgang von Pasolinis Texten aus dem „Freibeuterschriften“. Bis hinauf zu Roberto Saviano (in „Gomorrha“) bezogen sich italienische Intellektuelle beim Aufdecken dubioser Machenschaften immer wieder auf Pasolinis Vorhersagen.

Der lange Schatten von Pasolinis Nachlass

Diese Wirkung erlebte er freilich nicht mehr. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete Pasolini an „Salo – Die 120 Tage von Sodom“, einer filmischen Abrechnung mit dem historischen Faschismus, in der er Marquis de Sades „Die 120 Tage von Sodom“ in die Zeit des von Hitler unterstützten Marionettenstaates „Repubblica Sociale Italiana“ versetzte.

Sein letzter Roman „Petrolio“ blieb Fragment und erschien erst 1992. Darin untersuchte er die Geschichte der italienischen Erdölgesellschaft ENI und deren 1962 von der Mafia ermordeten Vorstandes Enrico Mattei. Pasolinis gewaltsamer Tod am 2. November 1975 wurde spekulativ immer wieder mit den Recherchen dieser letzten Jahre in Verbindung gebracht.

Nachdem man Pasolini erschlagen und mit dem eigenen Auto überfahren am Strand der Küstenstadt Ostia nahe Rom fand, gestand der siebzehnjährige Prostituierte Pino Pelosi, er habe Pasolini aus Notwehr getötet. 2005 widerrief Pelosi sein Geständnis. Auch seine Ermordung trug noch zu Pasolinis Verklärung bei – und erscheint so manchen wie eine Vorausdeutung, die erst im Nachhinein Stück für Stück verständlich wird.