Menschen auf der Flucht aus der Ukraine passieren die Grenze zu Polen
Reuters/Bryan Woolston
Erste Ankünfte

Nachbarländer erwarten viele Flüchtlinge

In Rumänien sind am Donnerstagvormittag die ersten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine eingetroffen. Auch Moldawien und Polen melden erste Ankünfte. Die Nachbarländer der Ukraine hatten sich schon vor Tagen darauf eingestellt, dass viele Menschen auf der Flucht sein könnten. In Österreich versprachen Kanzler Karl Nehammer und der Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner (beide ÖVP) Aufnahme von Flüchtlingen. Hilfsorganisationen erwarten einen großen Bedarf.

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine sind nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) rund 100.000 Menschen in dem Land auf der Flucht. Mehrere tausend Menschen seien zudem bereits aus dem Land geflüchtet, sagte UNHCR-Sprecherin Shabia Mantoo am Donnerstag. „Wir können noch keine genauen Zahlen bestätigen, aber es ist klar, dass es erhebliche Bewegungen innerhalb des Landes und einige Bewegungen über die Grenzen hinweg gegeben hat“, sagte Mantoo.

UNO-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi hatte zuvor umfassende Schutzmaßnahmen für die Zivilbevölkerung sowie die zivile Infrastruktur in der Ukraine gefordert. „Die humanitären Folgen für die Zivilbevölkerungen werden verheerend sein“, warnte er. Das UNHCR und seine Partner in der Ukraine seien „bereit, humanitäre Unterstützung zu gewähren, wo es nötig und möglich ist“, fügte Grandi hinzu. Dafür müsse aber der humanitäre Zugang garantiert sein. Die Nachbarländer der Ukraine forderte er dazu auf, ihre Grenzen für Schutzsuchende offen zu halten.

„Noch kein großer Flüchtlingsstrom“ in Rumänien

Der nordrumänische Grenzübergang Sighetu Marmatiei meldete die Einreise Dutzender Personen aus der Ukraine, bei denen es sich teils um ukrainische Bürger, teils um Staatsangehörige anderer Länder handelt, die sich bis dato in der Ukraine aufgehalten hatten. Erste Bilder der rumänischen Nachrichtensender zeigen, dass die meisten Flüchtlinge an Bord von Personenkraftwagen anreisen, etliche jedoch auch zu Fuß am Grenzübergangspunkt Sighetu Marmatiei eintreffen.

Der rumänische Innenminister Lucian Bode teilte mit, dass es sich vorerst noch um keinen großen Flüchtlingsstrom handelt und sämtliche nordrumänischen Kommunalbehörden auf die Aufnahme von Flüchtlingen vorbereitet sind. Bode hatte erst in den vergangenen Tagen bekanntgegeben, dass Rumänien im Notfall bis zu 500.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen kann. Staatspräsident Klaus Johannis sagte am Donnerstag laut der Nachrichtenagentur Reuters, Rumänien sei bereit, die humanitären und wirtschaftlichen Konsequenzen einer langfristigen Krise zu tragen.

Medien: Andrang an ungarischer Grenze

Unterdessen sind auch an den ukrainisch-ungarischen Grenzübergängen die ersten Flüchtlinge eingetroffen. Es herrscht ein großer Andrang von Bürgern aus der Ukraine, berichtete das Onlineportal Telex.hu. Dabei soll es sich zumeist um Angehörige der ungarischen Minderheit aus dem Karpatenbecken handeln.

Unter den Flüchtlingen seien viele junge Männer, die vor einem Einberufungsbefehl flüchten würden. Laut der ungarischen Nachrichtenagentur MTI handelt es sich jedoch um den „üblichen Grenzverkehr“. Der ungarische Verteidigungsminister Tibor Benkö hatte am Mittwoch gesagt, Ungarn müsse sich auf die Aufnahme von mehreren zehntausend Flüchtlingen einrichten.

Flucht aus Kiew

Moldawien meldete Donnerstagmittag, dass bereits mehr als 2.000 Flüchtlinge aus der benachbarten Ukraine im Land eingetroffen sind. Auch an der Grenze zu Polen sind erste Geflüchtete eingetroffen, wie Videos zeigen. Der polnische Innenminister Mariusz Blaszczak sagte, sein Land bereite sich seit Wochen auf die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine vor. So trafen Krankenhäuser Vorbereitungen zur Aufnahme von Verletzten. Es würden Betten bereitgestellt, teilte das Gesundheitsministerium in Warschau mit.

Verzweifelte Menschen flüchten nach Polen

Nach dem Angriff von Russland sind einige Ukrainer und Ukrainerinnen bereits nach Polen geflohen.

In Kiew versuchten seit den Morgenstunden viele Menschen die Stadt zu verlassen. Am Vormittag kam der Verkehr auf der vierspurigen Hauptstraße in die westliche Stadt Lwiw zum Erliegen. Die Autos stauten sich über Dutzende von Kilometern, wie Zeugen der Nachrichtenagentur Reuters berichten.

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Familie bringt sich in Kiewer U-Bahnstation in Sicherheit
APA/AFP/Daniel Leal
In Kiew bringen sich Menschen in U-Bahn-Stationen vor Explosionen in Sicherheit
Menschen bringen sich in Kiewer U-Bahnstation in Sicherheit
APA/AFP/Daniel Leal
Auch in Kiew sind Explosionen gemeldet worden
Stau in Kiew
AP/Emilio Morenatti
Die Flucht aus Kiew hat eingesetzt
Mann am Weg zum Flughafen in Kiew
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Die meisten Fluglinien haben Flüge in die Ukraine eingestellt
Menschen mit Koffern warten vor Flughafen Kiew
Reuters/Umit Bektas
Einige versuchen doch auf dem Luftweg, das Land zu verlassen
Menschenschlange vor Bankomat in Kiew
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Vielerorts bilden sich Warteschlangen vor Bankomaten
Betende Frau in Kiew
APA/AFP/Daniel Leal
Eine Frau betet in Kiew

Österreich zur Aufnahme bereit

In Österreich sagte der Vorarlberger Landeshauptmann als aktueller Vorsitzender der Landeshauptleutekonferenz die Bereitschaft der Bundesländer zu, Flüchtlinge aufzunehmen. „Falls notwendig, werden alle Bundesländer ukrainische Kriegsflüchtlinge aufnehmen. Zudem muss auch die Energieversorgung für die Bevölkerung weiterhin garantiert werden“, so Wallner in einem auf Social Media veröffentlichten Statement. Auch die ÖVP-Landeshauptleute Johanna Mikl-Leitner (Niederösterreich) und Thomas Stelzer (Oberösterreich) betonten, dass Europa geeint auftreten müsse.

Nehammer hatte wenige Stunden vor Beginn der russischen Angriffe gesagt, dass Österreich zur Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge bereit sei. „Bei der Ukraine verhält es sich anders als bei Ländern wie Afghanistan. Da reden wir von Nachbarschaftshilfe“, sagte Nehammer am Mittwochabend in der ZIB2. „Wenn ein Nachbarstaat (…) bedroht wird, dann gilt es solidarisch zu helfen. Das hat Österreich immer getan“, verwies er etwa auf die Jugoslawien-Kriege in den 1990er Jahren. Doch dürften Polen, die Slowakei und Ungarn die wichtigsten Zielländer sein.

Bundeskanzler: „Ukraine näher als Bregenz“

Österreich sei zwar ein militärisch neutrales Land, aber solidarisch innerhalb der EU. Dementsprechend werde sich die Bundesregierung bei den Sanktionen gegen Russland verhalten, sagte ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer in der ZIB2. Was die Abhängigkeit von russischem Erdgas betrifft, sei die Versorgung für diese Heizperiode gesichert. Die Ukraine sei geografisch näher zu Wien als Bregenz – daher werde man auch im Falle von Flüchtlingsbewegungen „Nachbarschaftshilfe leisten“.

Wiens Bürgermeister und Landeshauptmann Michael Ludwig (SPÖ) betonte in einer Aussendung, man werde Menschen, die nun in Not gerieten, helfen. „Noch heute werden erste Hilfslieferungen von medizinischem Material von Wien aus in die Ukraine aufbrechen, und das wird weiter fortgesetzt.“ Der SPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, Andreas Schieder, forderte „umfassende humanitäre Hilfe“ für die ukrainische Zivilbevölkerung und ukrainische Flüchtlinge in der EU.

Von der Leyen sieht Europa gerüstet

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sieht Europa für eine mögliche Fluchtbewegung aus der Ukraine gerüstet. „Wir hoffen, dass es so wenige Flüchtlinge wie möglich geben wird, aber wir sind voll und ganz auf sie vorbereitet, und sie sind willkommen“, sagte die deutsche Politikerin am Donnerstag in Brüssel. Es gebe für die EU-Staaten an den Außengrenzen Notfallpläne, um Flüchtlinge aufzunehmen und unterzubringen. Auch Binnenflüchtlingen innerhalb der Ukraine werde geholfen, so von der Leyen. Zudem solle die Finanzhilfe für das Land ausgeweitet werden.

In Deutschland verstärkte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) die Vorbereitungen für eine Reaktion auf mögliche Flüchtlingsbewegungen und Cyberangriffe. „Wir werden die betroffenen Staaten – vor allem unser Nachbarland Polen – massiv unterstützen, sollte es zu großen Fluchtbewegungen kommen“, sagte Faeser am Donnerstag nach Beratungen mit den Landesinnenministern. Die Sicherheitsbehörden hätten zudem „die Schutzmaßnahmen zur Abwehr etwaiger Cyberattacken hochgefahren“.

Slowakei meldet Einreisestaus an Grenze

Der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala verurteilte die russische Eskalation im Ukraine-Konflikt aufs Schärfste und berief den nationalen Sicherheitsrat zu einer Sondersitzung ein. Bei dieser dürfte es um die Sorge vor einer möglichen Flüchtlingswelle aus der weniger als 400 Kilometer entfernten Ukraine gehen.

Auch Eduard Heger, der Ministerpräsident der direkt an die Ukraine grenzenden Slowakei, sprach von einer „unentschuldbaren, barbarischen Tat“ und einer „groben Verletzung des internationalen Rechts“. Die Slowakei müsse sich auf Flüchtlinge aus dem Nachbarland vorbereiten, so Heger.

Am Donnerstagnachmittag wurde ein zunehmender Andrang von Menschen aus der Ukraine festgestellt. Am Grenzübergang Vysne Nemecke sei mit bis zu achtstündigen Wartezeiten zu rechnen, teilte die slowakische Zollverwaltung am Abend mit. Konkretere Angaben über die Zahl der Einreisenden wollten Polizei und Innenministerium am Freitag veröffentlichen. Noch zu Mittag hatten sie die Lage an den Grenzübergängen zur Ukraine als ruhig bezeichnet.

IOM: Insgesamt bereits mehr als 1,4 Mio. Vertriebene

Auch die UNO-Organisation für Migration (IOM) sorgte sich um die humanitäre Lage in der Ukraine. Im Land seien nach acht Jahren Konflikt bereits mehr als 1,4 Millionen Menschen Vertriebene, teilte IOM-Generaldirektor Antonio Vitorino in Genf mit. „Die Eskalation wird die humanitären Bedürfnisse noch verstärken und das Leid von Millionen von Familien verschlimmern“, teilte er mit. Die Organisation stehe bereit, um in enger Absprache mit Regierungen und Partnern den Menschen zu helfen, die Hilfe brauchten.

Hilfsorganisationen bereiten sich auf großen Einsatz vor

Die Hilfsorganisationen erwarten großen Hilfsbedarf in der Ukraine, wie sie am Donnerstag in Aussendungen mitteilten. Das Rote Kreuz weite nach der Eskalation des Konflikts in der Ukraine seine Aktivitäten aus und bereite sich intensiv auf einen größeren Hilfseinsatz vor. Alleine in den Gebieten von Luhansk und Donezk in der Ostukraine leben laut Rotem Kreuz rund 3,5 Millionen Menschen.

„Zehntausende mussten ihr Zuhause bereits verlassen und es werden laufend mehr. Eine Million Menschen hat nach der Zerstörung von zwei Pumpstationen in Donezk keine Wasserversorgung mehr“, sagte Rotkreuz-Generalsekretär Michael Opriesnig. Unabhängig von den aktuellen Entwicklungen würden bereits jetzt Hunderttausende Menschen in der Ostukraine darum kämpfen, gesund durch den Winter zu kommen.

Aufruf für Spenden

Die Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen, Laura Leyser, sagte: „Angesichts der aktuellen Ereignisse in der Ukraine sind wir äußerst besorgt über die Auswirkungen der Kämpfe auf die Bevölkerung und die Gesundheitsversorgung. Der Zugang zu medizinischer Hilfe muss dringend gewährleistet bleiben.“ Die Organisation sei seit Jahren in mehreren Landesteilen der Ukraine tätig und leiste Hilfe für die Bevölkerung.

Aufgrund der jüngsten Ereignisse stellte die Caritas deshalb in den vergangenen Tagen bereits 300.000 Euro für Soforthilfe aus Österreich zur Verfügung. Klar sei, dass der Hilfsbedarf weiter stark steigen werde. „Das ist auch ein Appell an die politischen Verantwortungsträger, den Zugang zur Hilfe weiterhin sicherzustellen“, sagte Michael Landau, Präsident der Caritas Österreich und von Caritas Europa.

Die Diakonie Katastrophenhilfe startet mit ihren Projektpartnern in den Nachbarländern Polen, Ungarn und Moldawien die Nothilfe für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, wie die Hilfsorganisation in einer Aussendung ankündigte. SOS-Kinderdorf rief ebenfalls zu Spenden für die Projekte mit Kindern in der Region auf, die von den Kampfhandlungen bereits vor der Eskalation betroffen waren. Auch die Volkshilfe bat um Spenden: Sie ist nach eigene Angaben seit 16 Jahren in der Ukraine tätig. „Gemeinsam mit der Partnerorganisation ‚Narodna Dopomoha‘ haben wir bisher Tausende von Menschen auf der Flucht unterstützt“, hieß es in einer Aussendung. Einen Spendenaufruf gab es auch vom Hilfswerk: „Die Menschen haben alles zurückgelassen. Die oberste Priorität ist es jetzt, Menschenleben zu retten. Sie benötigen dringend Nahrungsmittel, Decken und Hygienemittel“, appellierte Elena Smirnova, Hilfswerk-International-Regionalmanagerin für Osteuropa.

Spendenmöglichkeiten

  • Nachbar in Not: IBAN AT21 2011 1400 4004 4003, Kennwort: Hilfe für die Ukraine
  • UNICEF: IBAN AT46 6000 0000 0151 6500, Kennwort: Nothilfe Ukraine