In seiner Kriegserklärung an die Ukraine bezeichnete der russische Präsident Wladimir Putin die an Russland angrenzenden Gebiete zuletzt als „eigene, historische Gebiete“, in denen „ein uns feindlich gesinntes Anti-Russland geschaffen wird“. Dieses würde von den Streitkräften der NATO-Länder „intensiv besiedelt und mit den neuesten Waffen vollgepumpt“.
Es sind Aussagen wie diese, die für Beunruhigung im NATO-Mitgliedsland Litauen sorgen. Litauens Präsident Nauseda kündigte in einer Reaktion auf Putins Aussagen die Verhängung des Ausnahmezustands an, der einen verstärkten Grenzschutz ermöglicht. Das entsprechende Dekret wurde daraufhin vom Parlament in einer außerordentlichen Sitzung verabschiedet.
Nauseda: Sicherheitsproblem für gesamte Region
„Wir haben die Möglichkeit einer russischen Aggression gegenüber den Nachbarn nie ausgeschlossen und uns immer vorbereitet“, sagte Litauens Botschafter Ramunas Misiulis zuletzt dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
„Wir sollten diese Ereignisse entlang der Grenze zur Ukraine nicht nur einzeln als ein Sicherheitsproblem der Ukraine betrachten“, sagte Nauseda unlängst im Zuge der Münchner Sicherheitskonferenz. „Natürlich sind sie ein Sicherheitsproblem für die gesamte Region.“ Litauen grenzt im Südwesten an die russische Exklave Kaliningrad und im Osten an Belarus.

Angst um Verlust der Unabhängigkeit
Die Angst vor einem russischen Einmarsch ist im Baltikum auch historisch begründet. 1940 wurden die drei unabhängigen Staaten Estland, Lettland und Litauen von der Sowjetunion annektiert. Nach deren Zerfall traten 2004 alle drei Länder der Europäischen Union und dem militärischen Bündnis NATO bei.
„Wir sind ein kleines Land“, so die estnische Premierministerin Kaja Kallas ebenfalls anlässlich der Sicherheitskonferenz in München. „Alle baltischen Länder sind das. Wir haben alle schon einmal unsere Unabhängigkeit an Russland verloren, und wir wollen nicht, dass sich das wiederholt.“
„Es ist kaum möglich, eine Familie in Litauen zu finden, in deren Geschichte dieses Regime keine traumatischen Spuren hinterlassen hat“, schreibt der Leiter des Philosophischen Instituts in Vilnius, Jonas Dagys, in einem Artikel der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.
Astrov: Ausgangslage nicht direkt vergleichbar
Für Alexander Astrov, Professor für Internationale Beziehungen und Politikwissenschaft an der Central European University, ist eine Invasion der baltischen Staaten durch Russland zwar nicht per se ausgeschlossen. Im Gespräch mit ORF.at warnt er jedoch davor, die Ausgangslage in der Ukraine und den baltischen Staaten direkt zu vergleichen.
„Das einzige, was sie in diesem Zusammenhang gemeinsam haben, ist, dass sie an Russland grenzen“, so Astrov. „Wenn man die Rede Putins aufmerksam liest, in der er die Invasion rechtfertigt, dann ist der gefährlichste Teil dieser Rede, dass er sagt, dass sich Politik und Wirtschaft ändern – aber dass es eine Sache gibt, die sich nicht ändert, und zwar Geografie.“
Gerade diejenigen, die gegen den Krieg seien, dürften nicht in die Falle dieses Arguments tappen: dass die baltischen Staaten und die Ukraine in der Nähe Russlands liegen, eine sowjetische Vergangenheit teilen und deshalb dasselbe seien. Dadurch würde man sich geopolitischer Argumente bedienen, die besagen, dass man Politik lesen kann, indem man nur auf die Karte schaut.
„Ob es zu einem Krieg kommt oder nicht, hängt nur von den politischen Entscheidungen der Machthaber ab“, so Astrov. „Es ist kein natürlicher, automatischer Prozess – wenn A, dann B. Aber so stellt es Putin dar, das ist Teil seines Weltbildes.“
Verstärkter Schutz durch NATO
„Als NATO-Mitglied fühlen wir uns zwar sicher, aber angesichts der Ereignisse halten wir es für notwendig, nicht nur die Sicherheit der baltischen Länder, sondern Gesamteuropas zu stärken“, so der Botschafter Litauens gegenüber RND. „Deshalb haben wir auch um Konsultationen der NATO gemäß Artikel vier gebeten.“
Dieser besagt, dass sich die NATO-Mitgliedsstaaten beraten, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist. Laut NATO wurde Artikel vier vor der russischen Invasion in die Ukraine in 70 Jahren lediglich sechsmal aktiviert.

Die NATO hat zuletzt ihre Truppen an der Ostflanke – zu der Estland, Lettland, Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien zählen – enorm aufgestockt. Rund 6.000 amerikanische, 1.000 britische, 350 deutsche Soldatinnen und Soldaten und weitere Nationen sollen dort in den nächsten Tagen für Sicherheit sorgen.
Ein Viertel der baltischen Bevölkerung russisch
Wie in der Ukraine gibt es auch im Baltikum russische Minderheiten, gesamt machen sie dort gut ein Viertel der Bevölkerung aus. Allerdings seien nicht alle, die kulturelle und sprachliche Bindungen an Russland hätten – etwa, weil sie russischsprachige Medien konsumieren – automatisch für Putin.
„Sehen sich diese Menschen überhaupt als Russen? Ich würde sagen, bei vielen von ihnen ist das nicht so“, so Astrov. „Sie mögen Russisch sprechen, und sie haben sicherlich auch einige Beschwerden über estnische oder lettische Regierungen, aber wenn man sie fragt, ob sie in Russland leben wollen – was sie könnten – würden viele Nein sagen.“
Wie spannungsgeladen das Verhältnis zur Mehrheitsbevölkerung dennoch sein kann, zeigt sich jedoch in Hinblick auf die kommunistische Vergangenheit: So hatte die Entfernung des Bronzesoldaten aus der Stadtmitte Tallinns 2007 Ausschreitungen zufolge, die 70 Verletzte und ein Todesopfer forderten. Für die einen stand das Denkmal für die „Befreiung“ Estlands, für die anderen markierte es den Beginn einer totalitären Zwangsherrschaft.

Risiken durch politische Entscheidungen vermeiden
„Die Menschen haben seitdem erkannt, dass hier ein gewisses Risiko besteht“, so Astrov über die unterschiedlichen, identitätsstiftenden Erinnerungsmuster. „Und dass dieses Risiko durch politische Entscheidungen vermieden werden muss.“
So sei etwa das Einstellen einiger russischsprachiger TV-Kanäle nach Kriegsbeginn eine der ersten politischen Handlungen in Estland gewesen. Möglich sei das vor allem deshalb, weil es auch lokale russischsprachige Alternativen, wie den öffentlich-rechtlichen Sender ETV+, gebe.
Aktuell ist nicht abschätzbar, welche strategische Bedeutung die baltischen Staaten für Putin haben – und welche Schritte dort folgen könnten. „Das ist das Problem mit Autokratien – es gibt keine formalen politischen Prozesse“, so Astrov. „Wenn es um Russland geht, muss man Zugang zu Putins Gedanken haben – in seinen Kopf hineinzuschauen, ist unmöglich.“