Russischer Präsident im Fernsehen, Kameras im Vordergrund
APA/AFP/Sputnik/Alexey Nikolsky
Propaganda

Putins Nazi-Erzählung über die Ukraine

Krieg geht immer, und das hat sich in den vergangenen Tagen wieder gezeigt, mit selektiver Information, Desinformation und wohl auch Propaganda der Konfliktparteien einher. Spannend ist in diesem Zusammenhang die Strategie des russischen Präsidenten Wladimir Putin, seinen Landsleuten den Angriff auf die Ukraine zu erklären. Immer wieder betont er dabei, die Ukraine „entnazifizieren“ zu wollen.

In seiner Rede von in der Nacht zum Donnerstag skizzierte Putin für die russische Bevölkerung die Gründe für den Angriff auf die Ukraine. Viele Argumente davon waren zuvor in der russischen Rhetorik immer wieder zu hören – und in kremlnahen Medien zu sehen und lesen gewesen.

Kurz zusammengefasst: Die Ukraine bedrohe mit Hilfe westlicher Kräfte und der NATO Russland und betreibe einen „Völkermord“ in den „Volksrepubliken des Donbass“. Die Offensive sei also ein Akt der Verteidigung und eine Hilfeleistung für diese „Volksrepubliken“.

Konstruierte Parallelen zum Zweiten Weltkrieg

Wörtlich sagte er: „Zu diesem Zweck werden wir uns um die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine bemühen und jene vor Gericht stellen, die zahlreiche blutige Verbrechen an Zivilisten, einschließlich Bürger der Russischen Föderation, begangen haben.“ Und wenig später sagte er: „Ich muss mich an die Soldaten der ukrainischen Streitkräfte wenden. Liebe Genossen! Eure Väter, Großväter, Urgroßväter haben nicht gegen die Nazis gekämpft und unser gemeinsames Vaterland verteidigt, damit die heutigen Neonazis die Macht in der Ukraine übernehmen.“

Putin versucht damit Parallelen zum Zweiten Weltkrieg zu ziehen und vergleicht die vom Westen unterstützte Ukraine mit Nazi-Deutschland. Er stellt damit auch in den Raum, dass Neonazis in der Ukraine an der Macht seien oder diese übernehmen könnten. Auch wenn die Botschaft auf einem winzigen tatsächlich realen Kern aufbaut, konstruiert Putin damit eine Konstellation, die es so nicht gibt. Die Erzählung ist nicht neu: Schon bei der Krim-Krise war das Motiv immer wieder zu hören und zu sehen – auch auf Plakaten vor dem Referendum der Krim 2014. Doch damals hatte es noch ein bisschen mehr Wahrheitsgehalt.

Rechtsextreme Strömungen in der Ukraine

Tatsächlich gab und gibt es in der Ukraine Knotenpunkte für die internationale Neonazi-Szene. Und tatsächlich gab und gibt es in der ukrainischen Politik und dem ukrainischen Militär mehrere rechtsextreme Gruppierungen, die allerdings, vor allem politisch, in den vergangenen Jahren stark an Einfluss verloren haben.

Der politische Arm der ultranationalistischen und großteils rechtsextremen Szene ist die Partei Swoboda, ein Sammelbecken für mehrere Gruppen. 2012 erreichte die Partei mehr als zehn Prozent bei der Parlamentswahl. 2013 war die Partei maßgeblich bei den Euromaidan-Protesten gegen den russlandtreuen Präsidenten Wiktor Janukowitsch beteiligt, gemeinsam mit der proeuropäischen UDAR von Witali Klitschko und der Allukrainischen Vereinigung „Vaterland“ von Julija Tymoschenko bildete man ein Zweckdreierbündnis.

Auch „Rechter Sektor“ wieder marginalisiert

Nach dem Sturz von Janukowitsch stellte die Partei sogar mehrere Kabinettsmitglieder in der Übergangsregierung – genau daran knüpft Putin an. Es folgte aber der rasche Abstieg: 2014 scheitere die Partei an der Fünfprozenthürde, 2019 erreichte die Partei bei der Parlamentswahl nur mehr 2,15 Prozent, trotz Wahlallianz mit einigen anderen extrem rechten Gruppen.

Dazu gehörte auch der „Prawyj Sektor“ („Rechter Sektor“). Während der Euromaidan-Proteste übernahm die Gruppierung dort auch dank straffer Organisation schnell das Kommando. Ein weiterer politischer Aufschwung gelang der Gruppe aber nicht. Ab 2014 gab es immer wieder Konfrontationen mit Behörden und Sicherheitskräften. Nach dem Tod eines ihrer Anführer umstellten 2014 Hunderte Rechtsradikale das Parlament in Kiew und forderten den Rücktritt von Innenminister Arsen Awakow. Er ist heute noch im Amt.

Unterstützer der Pravji Sektor, 2014
APA/AFP/Genya Savilov
Mitglieder des Rechten Sektors bei der Blockade des Parlamentsgebäudes 2014

Rechtsextremes Regiment als Neonazi-Magnet

Während die extreme Rechte politisch mittlerweile praktisch bedeutungslos ist und vor allem mit der Regierung nichts zu tun hat, sind es einige militärische und paramilitärische Gruppen, die weiter in Aktion sind, allen voran das Bataillon Asow. Als Freiwilligenbataillon wurde es 2014 von rechtsextremen Politikern gegründet, um das ukrainische Militär beim Kampf gegen prorussische Einheiten im Osten zu unterstützen. Die damalige ukrainische Regierung gliederte die Truppe als Regiment in die Nationalgarde ein. Aus militärischer Sicht war das vielleicht verständlich, politisch stellte sich das aber als großer Fehler heraus.

Die Gruppe hantiert offen mit Nazi- und Neonazis-Symbolik, wurde zur Anlaufstelle für die militante rechtsextreme Szene in Europa, auch und vor allem aus Deutschland. Gleichzeitig schlossen sich ideologisch einschlägig orientierte Söldner aus aller Welt der Truppe an – übrigens auch aus Russland, wie der kanadische Journalist Michael Colborne und Autor unlängst in einem Interview mit der Onlineplattform Belltower festhielt.

Waffenschulungen für Zivilisten

Ohne den Krieg würde es Asow nicht geben, und der würde ihnen nun auch in die Hände spielen, meinte Colborne. Die Schätzungen der Truppenstärke variierten in den vergangenen Jahren stark: Einerseits werden Truppenstärken von rund 1.000 Mann genannt, andererseits wird auch geschätzt, dass der Bewegung, wie sie Colborne nennt, mit diversen Subgruppen mehrere Tausende Kämpfer angehören. In gewisser Weise zugehörig zu Asow ist auch der „Nationalen Corps“ – als Partnerorganisation und politischer Arm. 10.000 bis 15.000 Mitglieder soll er haben. Im militärischen Gesamtkontext spielen sie quantitativ dennoch eine eher untergeordnete Rolle.

Freiwillige des Regiment Asov
APA/AFP/Sergei Supinsky
Das Regiment Asow bei einem Aufmarsch 2020 in Kiew

In den vergangenen Wochen trat die Gruppe vor allem mit Waffenschulungen für Zivilisten in Erscheinung und erregte damit auch mediale Aufmerksamkeit. Dass internationale Medien darüber berichteten, aber den ideologischen Hintergrund oft wegließen, war wiederum ein gefundenes Fressen für staatsnahe russische Medien, die den Berichten vorwarfen, Nazis zu hofieren.

Gegen Neonazis, aber für Ultrarechte in Europa

Überhaupt wurde das Narrativ nicht nur von der Kreml-Führung, sondern auch, wenig überraschend, von ihr nahestehenden Medien vorangetrieben. Und auch in sozialen Netzwerken stieg die Zahl der kremlfreundlichen Postings mit der Verknüpfung von Ukraine mit Nazis ab November sprunghaft an, berichtet das Monitoringunternehmen Logically laut BBC.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Putin einerseits das Schreckgespenst der Nazis an die Wand malt, der Kreml und seine Partei Geeintes Russland in den vergangenen Jahren aber beste Kontakte zu rechten und ultrarechten Parteien quer in Europa hatten und diese auch über verschlungene Wege unterstützten.

Hartes Durchgreifen gegen Friedensdemonstrationen

Unklar ist, wie die russische Öffentlichkeit diese und andere Erzählungen für die Invasion aufnehmen wird. Die allermeisten Medien hängen gleichgeschaltet am Gängelband des Kreml, werden also kaum kritische Anmerkungen haben. Wie Russland mit Protesten umgeht, zeigte sich erst am Donnerstagabend wieder. Demonstrationen gegen den Krieg, zu denen via soziale Netzwerke aufgerufen wurden, wurden etwa in St. Petersburg und Moskau von einem Großaufgebot der Polizei aufgelöst. Alleine in Moskau wurden 1.800 Menschen verhaftet.

Demonstrant wird festgenommen, Moskau, 2022
AP/Dmitry Serebryakov
Zahllose Verhaftungen bei einer Friedensdemo in Moskau

Dennoch regt sich – zumindest im Kleinen – Widerstand. Mit scharfen Worten wandten sich prominente Russen gegen den Angriff. „Der von Russland begonnene Krieg gegen die Ukraine ist eine Schande. Das ist unsere Schande, aber leider wird die Verantwortung dafür noch von unseren Kindern, einer ganz jungen Generation und von noch nicht einmal geborenen Russen getragen werden müssen“, heißt es in einer von Schriftstellern, Filmemachern und anderen Künstlern sowie von Medienschaffenden unterschriebenen Erklärung. Der populäre russische Moderator Iwan Urgant sagte emotional „Angst und Schmerz. Nein zum Krieg“. Seine Abendshow im Staatsfernsehen wurde für Freitagabend abgesetzt.

Wirtschaftliche und soziale Lage als Unsicherheitsfaktor

Allerdings: Nach der Annexion der Krim konnte Putin enorme Zustimmungswerte erringen. Die Euphorie verflog aber bald. Die westlichen Sanktionen setzten dem Land zu, die Milliardenkosten für Prestigeprojekte auf der Krim rissen große Löcher ins Budget. Die Zustimmungswerte für die Anerkennung des Donbass lagen zuletzt bei 73 Prozent, und zwar nur 73 Prozent, wenn man bedenkt, dass die Erhebung durch das staatliche Meinungsforschungsinstitut Wziom erfolgte.

Auch Putins Darstellung von der Ukraine als bitterarme Gegend mit hohen Lebenshaltungskosten mag viele Russinnen und Russen eher an ihre eigene Lage erinnert haben. Nach zwei Jahren Pandemie und schwieriger wirtschaftlicher Lage könnte die Bevölkerung den Angriffskrieg Putin vor allem aus Kostengründen übel nehmen. Nächster Wahltermin für die Präsidentschaft ist 2024.