Bild aus St. Petersburg am 25. April mit Putin-Plakat
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Analyse

Putin und die Schlafwandler

„Die Freiheit Europas wird auch am Hindukusch verteidigt“, hieß es in der Begründung von militärischen Maßnahmen im Gefolge von 9/11. Jetzt, wo der Krieg in Europa angekommen ist und die Ukraine überfallen wurde, erwacht Europa langsam aus einem Traum. Und merkt, dass Appeasement-Haltungen in diesem Konflikt zu wenig sein werden. Russlands Staatschef Wladimir Putin führt nicht zuletzt den Europäern Versäumnisse der letzten 30 Jahre vor Augen. Am allermeisten den Deutschen. Und erteilt auch den Gründern der Sowjetunion eigentümliche Geschichtslektionen.

Europa darf sich in diesen Tagen an Thomas Manns großen Roman „Die Buddenbrooks“ erinnern. Ein großes Hamburger Handelshaus schlittert nach Generationen in die Krise, weil man sich auf die Frage der richtigen Richard-Wagner-Interpretation spezialisierte, anstatt sein Hauptgeschäft betreiben zu können. Manns Roman spielt vor über hundert Jahren. Und zu diesem Zeitraum analysierte zuletzt der Historiker Christopher Clark, wie sehr die Unentschlossenheit und Zögerlichkeit bestimmter Staatsmänner Europa in die Tragödie des Ersten Weltkriegs geführt hat. Wie schon damals stimmt auch heute Clarks Befund: Russland, innenpolitisch am Ende des Zarenreiches stark zerrüttet (man denke nur an die Ermordung des mächtigen russischen Premiers Pjotr Stolypin), war durch die Zahl seiner mobilisierbaren Soldaten ein entscheidender Faktor der europäischen Politik.

Wladimir Putin und Olaf Scholz an einem sehr langen Tisch
Mikhail Klimentyev / Tass / picturedesk.com
Als wäre es von Stanley Kubrick – doch es stammt aus der Gegenwart: Olaf Scholz, der letzte westliche Politiker bei Putin im Kreml

Selbstblendung durch die Wende

„Europa hat die Technologieentwicklung den USA überlassen“, konstatierte die deutsche Autorin Yvonne Hofstetter, die selbst für die Militärindustrie gearbeitet hatte, in einem ORF.at-Panel vor einigen Monaten und zielte damit auf die Haltung Europas im Gefolge des Falles der Mauer: Das Wissen der Militärindustrie sei seit dem Fall der Berliner Mauer in andere Bereiche getragen worden, Verteidigungsbudgets habe man zugunsten von Sozialbudgets reduziert (was Hofstetter per se als nichts Falsches, aber für die digitale Gegenwart Folgewirksames bezeichnete). Beschäftigte dieses Bereichs in Europa hätten das „gesamte Wissen, das sie angesammelt haben, mitgenommen und in anderen Industrien zum Einsatz gebracht“, begründete Hofstetter damals den Rückstand Europas im Digitalisierungsbereich zugunsten der Entwicklungen in den USA.

Expertin Hofstetter: „Haben uns von der Technologieentwicklung abgekoppelt“

Vernachlässigte Verteidigungsbudgets

Die Konsequenzen in der Digitalisierungsfrage sind nur ein Bruchteil für die Haltung, die vor allem Westeuropa seit dem Fall des Eisernen Vorhanges eingenommen hat. Verkürzt könnte man sagen: Wirtschaftspolitik Ost sollte auch Friedenspolitik sein. Und auch neutrale Länder wie Österreich waren gut in dieser 1990er-Bonanza. Wer freilich momentan auf die Ausgaben der NATO-Staaten für ihre Verteidigungsbudgets blickt, merkt, dass einzig die USA und einige jüngere Beitrittsstaaten zum Bündnis das Soll erfüllen oder wie im Fall der USA übererfüllen. Zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, so will es die selbstgewählte Vorgabe der NATO, hätten in Verteidigungsausgaben zu fließen. In Europa erfüllten 2020 fünf Staaten dieses Kriterium: Estland, Lettland, Litauen, Polen und die Slowakei. Alle diese Staaten haben Grenzen mit der ehemaligen Sowjetunion (und Finnland hält sich in diesen Tagen die Option eines NATO-Beitritts in der politischen Debatte offen).

Christian Wehrschütz (ORF) zur Lage in Kiew

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz befindet sich in die ukrainischen Hauptstadt Kiew. In der Nacht auf Samstag haben die russische und die ukrainische Armee erbittert um die Kontrolle über die Hauptstadt Kiew gekämpft. Sowohl Wladimir Putin als auch Wolodymyr Selenski signalisieren inzwischen Gesprächsbereitschaft.

Abhängigkeit von den USA

Die NATO-Ausgaben von Europa und Kanada beliefen sich 2020 auf 1,75 Prozent des BIP, erst wenn man den 3,75-Prozent-BIP-Anteil der USA heranzieht, ergibt sich ein Wert von 2,77 Prozent des BIP. Auf die NATO-Staaten entfällt beinahe die Hälfte des weltweiten BIP. Besonders drastisch wird es, wenn man sich die NATO-Unterstützung der größten Volkswirtschaft Europas, Deutschlands, ansieht. Mit umgerechnet 3,8 Billionen US-Dollar ist das deutsche BIP zweieinhalbmal so groß wie das russische (und nicht umsonst titelte die „FAZ“ zuletzt in einer Analyse zu Russland treffend: „Arm und gefährlich“).

Deutschland ist aber mit seinen Verteidigungsausgaben deutlich unter zwei Prozent (2020: 1,53 Prozent) und hätte im Moment Probleme, etwa an Luftschlägen des Bündnisses teilzunehmen (wie einst beim Balkan-Konflikt), weil die Nachbeschaffung der überalterten Tornado-Jäger immer noch nicht geklärt ist. Im Jänner versprachen der deutsche Kanzler Olaf Scholz und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht die baldige Klärung der Tornado-Nachfolge. Lambrechts Vorgängerin hatte den Weg in Richtung der Bestellung von 40 F-18-Jägern frei gemacht. Nach wie vor ist Deutschlands nukleare Teilhabe, also das Tragen von nuklearen US-Sprengköpfen an Ziele, offen, weil der Eurofighter dafür nicht zertifiziert ist.

Stoltenberg: „Brutaler kriegerischer Akt“

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnet den russischen Einmarsch in die Ukraine als „brutalen kriegerischen Akt“. Die NATO will ihre Truppen an der Ostflanke des Bündnisses verstärken.

Das innergrüne Dilemma

Ohnedies galt Deutschland in allen Fragen des Russland-Ukraine-Konflikts, nicht nur durch die „Nord Stream 2“-Beteiligung als der zögerlichste NATO-Partner und so etwas wie die Spitze europäischer Appeasement-Politik. Blickt man auf die neue Ampelkoalition, dann gehen die Auffassungsunterschiede zu den Maßnahmen bis tief in die Parteien hinein. Komplett gespalten in der Handlungsfrage ist etwa die Spitze der Grünen. Über den Grünen schwebe „das Trauma von 1999“ spielte „SZ“-Autorin Constanze von Bullion auf die Auseinandersetzung der grünen Basis mit dem damaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer rund um den NATO-Einsatz zum Kosovo an. Vorausgegangen war diesem Einsatz ja das tatenlose Zusehen bei den Massakern in Bosnien-Herzegowina. Kurz: Wer heute Kiew sagt, muss sich auch an Srebrenica erinnern.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ist für „Deeskalation mit hartem Tonfall“. Ihr Koalitionskollege, Vizekanzler Robert Habeck, kann sich Waffenlieferungen an Kiew vorstellen. „Deutschland ist aufgewacht – in Putins Schreckenswelt“, schreibt die „FAZ“ am Samstag, um eine rhetorische Frage nachzuschieben: „Begreifen wir wirklich schon, was das bedeutet?“ Am Samstagabend kam die Nachricht, dass Deutschland die Ukraine aus Beständen der Bundeswehr auch mit Waffen unterstützen werde.

Gerhard Schröder mit Gazprom und Putin
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Der Deutsche Ex-Kanzler Gerhard Schröder mit der Gasprom-Spitze und „dem lupenreinen Demokraten“ Putin, 2011

Knaus: „Europa war schon 2014 mutlos“

Für den Migrationsexperten und Ukraine-Kenner Gerald Knaus, er unterrichtete in der Frühphase der ukrainischen Unabhängigkeit Politik und internationale Beziehungen an der Universität Czernowitz, ist das Versagen der EU im Umgang mit Russland schon viel früher als in der momentanen Gegenwart begründet. „Dass die Europäische Union nach 2014 nicht wirklich mit Mut darauf reagiert hat, als Menschen mit der blauen Fahne der EU neben der blau-gelben Fahne der Ukraine ihr Leben riskiert haben, war ein Versagen“, so Knaus in einer ZDF-Diskussion bei Markus Lanz, an der auch der Grünen-Politiker Jürgen Trittin teilnahm. Knaus attestierte den Europäern auch mangelnde Vorstellungskraft für die Situation in Russland. Er bekomme oft zu hören, dass sich ein Diktator nicht halten könne, wenn „sehr, sehr viele Menschen“ auf der Straße stünden.

„Nur Druck von außen wird helfen“

In Russland, so Knaus, bestimme aber nur der Staat, was gesagt werden könne. Dennoch habe es dort immer Proteste gegeben, beispielsweise infolge der Verhaftung des Oppositionellen Alexej Nawalny. Knaus betonte, wie „unglaublich“ dieser Mut sei, jetzt in Russland auf die Straßen zu gehen und die eigene Existenz zu riskieren. „Am Ende wird das, was Russlands Führung stoppen wird, nicht der Protest auf den Straßen sein“, sondern der Druck müsse „massiv von außen“ kommen, „der in den Eliten dazu führt, dass Brüche entstehen“.

Der europäische Druck baut sich im Moment langsam auf. Einzig Frankreich scheint in diesen Tagen unter Präsident Emmanuel Macron noch in der Lage innerhalb der EU, den Gesprächsfaden in den Kreml aufrechterhalten zu können. Bei der NATO-Ankündigung von Freitag, die schnelle Eingreiftruppe an den Außenflanken der NATO zu verstärken, war man mit den Zahlen der Einsatzstärke vorsichtig. Doch in Polen und im Baltikum wächst verständlicherweise die Ungeduld.

„Europa wird das nicht überleben“

Die ukrainische Autorin und Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk schilderte am Freitagabend in einer ZIB2 Spezial eindringlich die Lage ihrer Freunde und Verwandten in der Ukraine. „Im Moment gibt es keinen sicheren Ort in der Ukraine“, so ihre Schilderung der Situation. „Keiner wird das Land aufgeben“, sagte Maljartschuk, die verkündete: „Es wird hart sein. Es geht um die Existenz dieses Landes. Es ist jetzt die Stunde des großen Widerstandes. Wenn dieses Land fällt, werden wir das nicht überleben, und Europa wird das nicht überleben.“

Autorin über Situation in Ukraine

Tanja Maljartschuk ist ukrainische Autorin und Bachmann-Preisträgerin. Sie spricht über das Leben in der Ukraine und Berichte von ihren Bekannten und Verwandten. Es gebe keinen sicheren Ort mehr im Land.

Putins Blick ins Geschichtsbuch

Auch Knaus warnte im ZDF davor, die Brutalität Putins zu unterschätzen. Putin selbst hatte ja am Anfang dieser Woche in einer Rede sein Geschichtsbild dargelegt und die Ukraine als einen von Anfang an fehl konstruierten Staat bezeichnet. Lenin und Stalin warf Putin dabei Konstruktionsfehler bei der Schaffung der Teilrepubliken vor. Gerade bei der Ukraine habe man komplett willkürliche Teile nach dem Frieden von Brest-Litowsk (1918) an die Ukraine angefügt.

Offenkundig will er, mit Blick auf die eigene Rolle in den Geschichtsbüchern (so eine Einschätzung des Politologen Gerhard Mangott im aktuellen „News“ zu den Aktionen Moskaus), weit über die Schmach des Falls der Sowjetunion und eine von ihm konstatierte Fehlbehandlung durch den Westen hinaus. Möglicherweise entdeckt er Kiew noch als Kern der russischen Orthodoxie und muss zurück bis in das elfte Jahrhundert in seiner Identitätskonstruktion. Die Rede vom Montag, gerade auch in dem breiten Geschichtsexkurs, hatte viele erschreckende Züge, die an die Spätphase von Diktaturen erinnert. Europa aber wird mit Appeasement und langsamem Aufwachen nicht aus dieser Krise kommen.

Lwiw ist näher als Lustenau

Wien darf sich daran erinnern, dass die Stadt Lwiw, einst Lemberg, näher an der Hauptstadt liegt als etwa Lustenau. Die Politik, aber alle Staatsbürger dürfen sich aber auch daran erinnern, was alle Gedenkgesten vor Erinnerungsdenkmälern wert sind, wenn die Demokratie, egal wie man zu der jeweiligen Führung und ihrer Politik stehen mag, nicht mehr verteidigt wird. Unschuldige „Nie wieder“-Appelle wird es nach dem Überfall der Ukraine jedenfalls nicht geben, wenn Europa nicht mehr Entschlossenheit in dieser Krise aufbieten kann. „Europa“, so Knaus am Freitag, „hat sich im Umgang mit brutalen Diktatoren vor der Haustüre an eine Friedhofsruhe gewöhnt.“