Altes Kriegsdenkmal mit Farben der Ukraine neu angemalt
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Nötiges Umdenken

Die Ukraine als Auftrag für Europa

Mit dem Überfall auf die Ukraine wird Europa klar, dass nichts mehr sein wird wie davor. Nicht zuletzt, dass Europa selbstständig für seine eigene Sicherheit wird sorgen müssen. Altkanzler Franz Vranitzky forderte ja im ORF eine komplett „neue Sicherheitsarchitektur“ für Europa. Und Osteuropaexperte Gerald Knaus fühlt sich momentan an das Jahr 1949 erinnert, in dem Europa aus den Erfahrungen von Weltkrieg und Kaltem Krieg entscheidende Weichenstellungen getätigt habe.

„Die Europäer müssen sich besser aufstellen, wenn sie überleben wollen“, schreibt Maximilian Popp im aktuellen Print-„Spiegel“ trocken. Und tatsächlich ist alleine in Deutschland im Schatten des Ukraine-Überfalls in der letzten Woche so viel in Bewegung gekommen wie in den letzten acht Jahren nicht. „Eigentlich sollten wir gar nicht hier sitzen und diskutieren, sondern für die Demokratie kämpfen und zu den Waffen greifen“, sagte der deutsche Historiker und Russland-Experte Karl Schlögel in der ARD-Sendung „Anne Will“ Sonntagnacht: „Endlich ist der Putin-Kitsch vorbei, ist eine Zeit vorbei, wo man uns Märchen erzählt hat wie Sahra Wagenknecht oder Gregor Gysi, der keine Ahnung hat, was in der Ukraine vor sich ging.“

„Große Wende im Denken und Handeln“

„Ich sehe gerade eine große Wende im Denken und Handeln Deutschlands“, beschreibt auch Knaus, der selbst in der Frühphase der jungen ukrainischen Republik an der Universität Czernowitz Volkswirtschaft unterrichtet hat, seine Beobachtungen. Europa sei „nach einer langen Phase der Bequemlichkeit erwacht“, dass es rasch seine eigene Sicherheit in die Hand nehmen müsse, so der Politikberater Knaus in einem Gespräch, das ORF.at mit ihm am Sonntagabend geführt hat.

Lichtermeer am Heldenplatz in Wien
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Lichtermeer für die Ukraine am Sonntagabend in Wien. 7.000 setzten ein Zeichen.

Konkret sieht Knaus, je nach Entwicklung des Ukraine-Konflikts, der noch sehr blutig werden könne, ein Zeitfenster bis 2024, sich komplett neu aufzustellen – konkret meint er die demokratische Präsidentschaft in den USA, die Europa als Chance für eine eigene Bestimmung nützen müsse. „Letztlich ist es wie im Jahr 1949, als in Europa entscheidende Weichen gestellt wurden: mit der Errichtung des Europarats, mit der Gründung der NATO und auch mit den Weichenstellungen für die europäische Kohle- und Stahlunion ein Jahr später.“

„Fünf Säulen für eine neue europäische Politik“

Knaus ortet momentan fünf entscheidende Säulen, auf die Europa seine eigenen Sicherheitsinteressen stellen müsse:

  • die Ernsthaftigkeit in der Verteidigungspolitik,
  • das Abdrehen von „importierter russischer Korrumpierung über Verträge für Ex-Politiker mit russischen Firmen“,
  • eine ernsthafte Demokratisierungspolitik der EU,
  • ein konsequentes Umsetzen der Rechtsstaatlichkeitsgrundsätze und schließlich
  • den konsequenten Ausschluss Russlands aus dem Europarat.

„Letzteres ist in der Debatte fast untergegangen, war aber ein entscheidender und wichtiger Schritt, weil es für Russland hier einfach keinen Platz geben kann mit dieser Politik“, so Knaus.

Gerald Knaus bei einer Diskussion
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„Europas Institutionen sind keine Selbstverständlichkeit, und Europa muss gegen die Feinde im Inneren wie Viktor Orban konsequent vorgehen“

Dass der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt habe, massiv mehr Geld für die Verteidigung auszugeben, sei ein signifikanter Schritt – auch dass es keine Diskussion mehr über Waffenlieferungen an die Ukraine gebe, weder auf deutscher noch europäischer Ebene, findet Knaus. Für die Lage in Kiew komme vieles spät – doch in der letzten Woche habe sich in Deutschland mehr bewegt als in vielen Jahren. Und, so fügt Knaus an, es gebe auch einen großen Konsens zwischen der jetzigen Regierung und der Union im Deutschen Bundestag.

Auch Österreich will mehr Geld für Verteidigung

Dass man nun mehr Geld für seine Sicherheit ausgeben müsse, hatte auch Österreichs Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) in der sonntägigen ORF-„Pressestunde“ gesagt, ohne aber noch konkrete Zahlen zu nennen. Im Jahr 2020 betrugen die Militärausgaben in Österreich rund 3,2 Milliarden Euro – und auch wenn diese damit gestiegen waren, ist das neutrale Österreich mit 0,8 Prozent Anteil am BIP deutlich unter den europäischen Verteidigungsausgaben, etwa den NATO-Zielen von zwei Prozent des BIP, die aber auch die westeuropäischen NATO-Staaten nie erreichen.

Einen alten „Glaubenssprech“ in den 1990ern ortete etwa Altkanzler Franz Vranitzky (SPÖ) im ZIB2-Interview darin, dass man zu lange die soziale Frage immer gegen die Sicherheitsfrage ausgespielt habe – ein Fehler, wie sich heute herausstelle.

Ex-Bundeskanzler Vranitzky zum Ukraine-Krieg

Der ehemalige Bundeskanzler Franz Vranitzky ist mit einer Analyse zur Situation im Ukraine-Krieg zu Gast im „ZIB 2“-Studio.

Deutschland hat am Sonntag jedenfalls für die Bundeswehr ein Aufrüstungsprogramm von historischem Ausmaß aufgelegt: Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll für Investitionen in die Truppe und ihre Ausrüstung gebildet werden. Der Verteidigungsetat wird von jetzt an jedes Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Gegen dieses Zweiprozentziel der NATO haben sich SPD und Grüne lange Zeit gesträubt. Jetzt wurde es quasi im Handstreich beschlossen.

Vieles, so Knaus, habe ohnedies zu lange gedauert, erinnert Knaus an die Kritik des Dissidenten Boris Nemzow an der Politik Putins. Nemzow wurde dafür erschossen.

„Aus für Putins Korrumpierungspolitik“

Entscheidend, so Knaus, sei auch die Einstellung jener Formen von Korrumpierung, die Putin nach Europa getragen habe, indem man europäische Politiker in Aufsichtsräte russischer Betriebe gesetzt habe. „Putin hat damit geschickt Abhängigkeiten geschaffen, denn stets waren es Politiker, die sehr rasch nach ihrem Ausscheiden in diese Funktionen kamen. Das ist mit dieser Krise untragbar geworden“, so Knaus. Ein positives Signal sei auch der Rückzug von BP von seinen Rosneft-Beteiligungen.

Nachhaltig wirksam für Knaus ist aber auch eine ernsthafte Demokratisierungspolitik Europas auf dem Balkan wie auch gegenüber Moldawien. „Europa hat da sehr viel Kapital verspielt“, so Knaus, der erinnert, dass es für verschiedene Länder zunächst einmal Binnenmarktperspektiven mit der EU geben könne. „Die EU war hier in den letzten Jahren leider unseriös“, kritisiert Knaus.

Das deutsche Kanzler Olaf Scholz bei einer Sondersitzung des deutschen Bundestages
Reuters/Michele Tantussi
Olaf Scholz verkündete am Sonntag ein riesiges Investitionspaket für die deutsche Bundeswehr

„Europas Institutionen sind keine Selbstverständlichkeit“

Eng verbunden sieht Knaus mit dieser Frage die Umsetzung der Rechtsstaatlichkeit. Wenn etwa jetzt die Krise eine Annäherung Polens mit der EU befördere, dürfe zugleich nicht das eine mit dem anderen Prinzip abgetauscht werden. „Europas Institutionen sind keine Selbstverständlichkeit, und Europa muss gegen die Feinde im Inneren wie Viktor Orban konsequent vorgehen“, so der österreichische Politologe: „Europa war in gewisser Weise auch der stumme Geldautomat für Politiker wie Orban.“

Wichtig für alle Mitgliedsstaaten sei, dass Russland nicht mehr Teil des Europarates sei, so Knaus: „Eigentlich habe sich das auch schon viel länger abgezeichnet, dass ein Land mit dieser Politik nicht Teil dieser Institution sein kann.“

Für Österreich sieht Knaus im Moment die Frage, wie sich das Land mit seiner Neutralität definieren wolle. Wolle man eine Neutralität nach Schweizer Modell oder eher nach dem Vorbild Schwedens oder Finnlands? Er glaube ja, dass die europäische Beistandspflicht ohnedies einer Neutralität wie dem Schweizer Modell widerspreche.

„Dringende Neubesinnung“

Ex-Kanzler Vranitzky riet jedenfalls eindrücklich zu einer „Neubesinnung“ Europas. Es gehe, wie der Altkanzler sagte, um „eine neue europäische Ordnung, sogar eine neue Weltordnung“, die man „unter den gegenwärtigen dramatischen Umständen und Einflüssen aufbauen kann und muss“. Für Vranitzky kommt auch ein europäisches Heer ins Spiel: „Nicht, dass man eine Armee aufbaut, die gegen Russland ins Feld zieht, aber eine bewaffnete und uniformierte Einheit, die man in einem aufzubauenden gesamteuropäischen System herzeigen kann.“ Daran könne sich auch das neutrale Österreich beteiligen.

Nehammer: „Von der jetzigen Situation profitiert China“

Dem Vorschlag einer europäischen Armee erteilte der amtierende Bundeskanzler eine Absage. Eine solche „sehe ich derzeit nicht“, so Nehammer im ORF. Jetzt brauchte es eine Weiterentwicklung der EU und einen demokratischen Prozess. Allerdings werde die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU „wichtiger denn je“. Die Amerikaner hätten einen anderen Schwerpunkt, nämlich im pazifischen Raum. Von der aktuellen Situation profitiere in Wahrheit China, so Nehammer.

Nehammer zur Eskalation im Ukraine-Krieg

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sieht Österreich als möglichen Friedensverhandler, Gespräche vonseiten Russlands und der Ukraine zur Deeskalation der Situation könnten in Österreich stattfinden.

Nehammer sah am Sonntag die Verpflichtung, einen Krieg zu verhindern, und sprach sich weiter für die Neutralität aus, fügte in der ORF-„Pressestunde“ aber hinzu: Österreich sei militärisch neutral, „aber nicht in der Frage der Wertehaltung, wenn Verletzungen des Völkerrechts passieren“, und sah damit auch einen Unterschied zur Schweiz. Erneut solle sich Österreich ja als Ort für Friedensverhandlungen „anbieten, aber nicht anbiedern“.

Österreich, findet der in Berlin lebende Österreicher Knaus, dürfe bei seinem Wunsch, die Gesprächsfähigkeit aufrechtzuerhalten, nicht den Fehler begehen, in eine Politik des Wegschauens zu verfallen, wie man sie in den letzten Jahren lange habe sehen können. „Man hat eben auch gute Geschäfte machen wollen“, so Knaus.