Niemand weiß genau, mit welcher militärischen Strategie Russland seinen Krieg gegen die Ukraine beginnen wollte. Doch internationale Militärexperten sind sich in ihrer Einschätzung recht sicher, dass Russland rasch die Lufthoheit über der Ukraine gewinnen und in wenigen Tagen mit der Einnahme Kiews das Land zur Kapitulation zwingen wollte.
Gelungen ist der „Blitzkrieg“ nicht: Noch einige Tage konnte die ukrainische Luftwaffe Angriffe fliegen, ein erster Angriff auf die Millionenstadt Charkiw wurde zurückgedrängt, und die russische Armee trifft insgesamt auf zähen Widerstand und konnte damit zunächst nur geringe Raumgewinne verbuchen.
Russland „Opfer der eigenen Progaganda“?
Von militärischen Fehleinschätzungen war die Rede – aber auch davon, dass sich der Drahtzieher verkalkuliert hatte. Viele vermuten, der russische Präsident Wladimir Putin sei ein „Opfer seiner eigenen Propaganda“ geworden, wie es der Politologe Ivan Krastev am Montag in der ZIB2 ausdrückte: Er habe wohl erwartet, dass zumindest ein Teil der Ukraine die russischen Truppen als Befreier erwarte. Das Gegenteil ist der Fall. In Reaktion darauf verstärkte Russland in den vergangenen Tagen seine Gangart deutlich: Mit immer weniger Rücksicht auf Zivilisten wurden Charkiw und andere Städte beschossen. Der Sturm auf die Hauptstadt Kiew wird seit Tagen befürchtet.
Eine Geschichte geht auf
Doch schon ein paar Tage erfolgreiche Verteidigung reichten vielleicht für die Ukraine aus, den Anfang der Geschichte dieses Krieges zu schreiben, der Geschichte eines Landes, das sich mit aller Kraft gegen die übermächtigen Invasoren stemmt, mit der Botschaft „Koste es, was es wolle“. Es ist die Erzählung von „David gegen Goliath“, eine archetypische Erzählung, in der auch klar ist, wer die Sympathie erntet und wer nicht.

Damit ist es auch eine Geschichte, die vor allem im Westen das Publikum abholt und vielleicht umso mehr einen Nerv trifft, weil zumindest im Hinterkopf das schlechte Gewissen lauert. Jahrelang hatte gerade Europa den Kampfhandlungen in der Ukraine tatenlos zugesehen. Die Annexion der Krim wurde zwar wortreich kritisiert, aber am Ende hatte man Russland dann doch gewähren lassen.
Das „David gegen Goliath“-Motiv hat aber auch große Tücken. Das wirkungsmächtige Motiv nivelliert Graustufen, Differenzierungen und zeitweise auch den Krieg an sich. Bei aller Betroffenheit, allem Engagement: Auf etlichen Social-Media-Plattformen lesen sich manche Postings und Kommentare, als ob es eher um ein Computerspiel, einen Blockbuster oder um ein Fußballmatch ginge. Auch die Verluste der russischen Truppen sehen in den ukrainischen Darstellungen wie das Scoreboard eines Computerspiels aus.
Bildschirm und Krieg
1991 wurde der Golfkrieg, also der Angriff der USA auf den Irak, als völlig neuer Medienkrieg erachtet. Der Beschleunigungstheoretiker Paul Virilio sprach vom „totalitären Zeitalter der Kommunikationswaffen“, es gehe technologisch um die „Kontrolle des Weltbildschirms“. Er meinte das Fernsehen und vor allem CNN, das die verwackelten grau-grünen Bilder von Zielen im Fadenkreuz und Detonationen in die Wohnzimmer lieferte.
Auch der Philosoph Jean Baudrillard sprach von einer „ultimativen Reality-Show“ und „Derealisierung“ und „Simulation“: Das Reale werde durch das Virtuelle ersetzt. Es ist wohl ein neues Zeitalter angebrochen, wenn über soziale Netzwerke – und zeitverzögert in klassischen Medien – Kriegsvideos mehr oder weniger ungefiltert der Weltöffentlichkeit gezeigt werden – aber gleichzeitig darüber diskutiert und von den jeweiligen „Fanlagern“ darüber gejubelt oder getrauert wird. Den Weltbildschirm gibt es heute nicht mehr, es sind Millionen kleine Screens und Displays, die das ganze Bild ergeben.
Militärische Erfolge als „Prinzip Hoffnung“
Es sind vor allem kleine Geschichten, die das Bild der heroischen Ukrainer zeichnen, tausendfach in sozialen Netzwerken geteilt. Schon zu Beginn der Invasion wurde offenbar nahe dem Flughafen Hostomel bei Kiew eine tschetschenische Sondereinheit zerschlagen und deren Kommandant, der berüchtigte General Magomed Tuschajew, getötet. Der Erfolg gilt laut Experten als Schlüssel, wieso Russland nicht schneller erfolgreich war.
Vor allem in den ersten Tagen häuften sich Bilder zerstörter und brennender russische Panzer, abgeschossener Hubschrauber und gefangen genommener russischer Soldaten, die vor laufenden Handykameras beteuern, sie hätten nicht gewusst, dass sie in den Krieg geschickt werden. Von ohne Treibstoff liegen gebliebenen Panzern war die Rede, und einige Militärexperten meinten, Russland habe auf die Nachschubrouten „vergessen“. Es herrschte eine Mischung psychologischer Kriegsführung, des Prinzips Hoffnung und von Durchhalteparolen.

Information im Nebel des Krieges
Eine Gruppe Grenzsoldaten auf der Schlangeninsel bedachte vor dem sicher scheinenden Tod mit laufenden Handykameras die Feinde noch mit den Worten „Russisches Kriegsschiff, f… dich“. Fast enttäuscht wirkten manche Kommentare in den Netzwerken, als Tage später bekanntwurde, dass die Soldaten leben, aber gefangen genommen wurden. Und dann ist da noch die Geschichte des „Geists von Kiew“, eines angeblichen Kampfpiloten, der mehr als ein Dutzend russische Gegner abgeschossen haben soll. Videos entpuppten sich als Animationen von Flugsimulatoren.
Ob es den „Geist“ gibt oder je gab? Im Informationsnebel des Krieges ist das nicht zu beantworten. Faktenchecker internationaler Medien entlarvten bisher vor allem einige Fotos von Politikern in Kampfmonturen als nicht authentisch, weil schon älter. Fest steht aber, dass die Bilder eine Wirkung hatten – auf Beobachter im Westen, auf die kämpfenden Truppen und die ukrainische Zivilbevölkerung.
Heldengeschichten von Zivilisten
Denn diese trugen genauso viel zum bisherigen Heldenepos bei – und wieder sind es Videos, etwa von einzelnen Menschen, aber auch von ganzen Gruppen von Dorf- und Stadtbewohnern, die sich den russischen Panzern in den Weg stellen. Von Männern, die Frauen und Kinder auf die Flucht schicken und selbst zurückbleiben, um das Land zu verteidigen. Zehntausende Männer haben sich bei der Generalmobilmachung gemeldet, um ihr Land zu verteidigen – sehr viele ohne Erfahrung im Kampf oder Umgang mit Waffen.
Um die Welt ging das Video eines Mannes, der eine Tretmine mit bloßen Händen und Zigarette im Mund entsorgt. Tausendfach verbreitet wurden die Bilder von jungen Leuten, die Molotowcocktails für die erwarteten Straßenschlachten herstellen – und auch einsetzen wie eine junge Frau, die aus einem Auto ein russisches Militärfahrzeug im Vorbeifahren in Brand steckt.

Mit der errungenen Deutungshoheit lassen sich aber auch andere Bilder nutzen: Not, Leid und Zerstörung sind dann nämlich kein Zeichen für eine Niederlage, sondern eines für die Bösartigkeit und Brutalität des Gegners. Vor allem aber: Natürlich sammeln und verbreiten ukrainische Accounts alle diese Bilder und Videos, sie wirken dennoch nicht wie ein von Behörden oder Agenturen inszenierter Propagandafeldzug, sondern echt und authentisch.
Kriegsberichterstattung auf TikTok
Viele der verbreiteten Videos stammten von TikTok, eigentlich einem Gute-Laune-Videonetzwerk, und wurden später in anderen Social-Media-Kanälen verbreitet. Überhaupt herrscht auf TikTok eine wilde und durchaus verstörende Mischung aus Frontvideos, tanzenden Unterstützern und Videocollagen. Einige ukrainische Influencer, sonst eher mit Mode und Reisen beschäftigt, nutzen den Kanal aktiv zur Kriegsberichterstattung.
Am Montag forderte die russische Regulierungsbehörde Roskomnadsor, TikTok-Posts mit militärischen Inhalten zu stoppen, da sie zum großen Teil antirussischen Charakters seien. Auch vor den Auswirkungen auf Kinder wurde gewarnt. TikTok ist in diesem Konflikt so einflussreich geworden, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski in einer Rede an russische „TikToker“ appellierte, sie könnten helfen.
Selenskis wichtigste Rolle
Und das ist nur ein kommunikatives Puzzleteil, der Selenskis Rolle in den vergangenen Tagen illustriert. Denn ohne sein Auftreten wäre das Bild des ukrainischen Heldenepos kaum so erfolgreich. Der ehemalige Schauspieler und Komiker ist spätestens in den vergangenen Tagen, da sind sich fast alle Beobachter einig, zum Staatsmann, zur Identifikationsfigur und zum Anführer eines Landes im Krieg geworden. Selten waren in internationalen Zeitungen – von der „Süddeutschen“ bis zum „Atlantic“ – derart bewundernde und lobende Worte für einen Politiker zu lesen.

Vom „Clown“ zum Staatsmann und Kriegsherrn
Auch aus der Ukraine war zuletzt oft zu hören, dass Skeptiker es nie erwartet hätten, dass aus dem „Clown“ ein Anführer wird. Auch wenn Umfragen aus einem Kriegsgebiet höchst fraglich sind: Laut diesen hat Selenski in seinem Land Zustimmungswerte von weit über 90 Prozent – im Vergleich zu rund einem Drittel ein paar Wochen zuvor.
Spätestens mit der Antwort, er brauche „Munition und keine Mitfahrgelegenheit“, auf die US-Frage, ob er das Land verlassen wolle, brachte er sein Wirken auf den Punkt. Vom Anzug wechselte er in olivgrüne Militärshirts, in kurzen Botschaften sprach er der Bevölkerung Mut zu – und ging als einer von ihnen voran.
Erfolgreiche Diplomatie
Selenski zeigt sich auf allen Ebenen als Anti-Putin, und wiewohl er als Schauspieler jetzt die Rolle seines Lebens hat, wirkt er authentisch – und das offenbar auch in der Diplomatie: Beobachtern zufolge war auch seiner per Video zugeschalteten Botschaft auf dem EU-Gipfel vergangene Woche geschuldet, dass die EU in Sachen Sanktionen wirklich aus dem Vollen schöpft.
Medienberichten zufolge ist das Handy nicht nur bei Selfievideos Selenskis beste Waffe: Er habe in den vergangenen Tagen jeweils gut ein Dutzend Staats- und Regierungschefs durchtelefoniert, heißt es etwa im „Guardian“.
Putin medial auf verlorenem Posten
Dass Russland diesen Krieg der Bilder nicht gewinnen kann, war von vornherein klar. Denn dass die ukrainischen Bilder und Erzählungen den Rest der Welt eher erreichen, war vielleicht nur für die überraschend, die das Land als Anhängsel Russlands sehen. Und Putin setzte auf die alte, zentralistische „Variante“ und bedachte vorrangig die eigene Bevölkerung: Seine Version der Geschichte wurde in den gleichgeschalteten russischen Staatsmedien präsentiert – mit dem Zusatz, dass es sich nicht um einen Krieg, sondern nur um eine begrenzte Militäroperation handle.
Die westlichen sozialen Netzwerke waren zuletzt in Russland nur erschwert erreichbar, das soziale Netzwerk VK.com ist in kremlnahen Händen. Die sonst treue Dienste leistende russische Trollarmee in den sozialen Netzwerken war mit ihren Fake-Accounts bei der Einmischung in „fremde“ internationale Angelegenheiten wie Brexit und US-Wahlen wesentlich erfolgreicher. Aber einen Angriffskrieg als humanitären Akt zu verkaufen, daran scheitern auch sie, nebst dem Faktor, dass sie sich offenbar auf das in der Hinsicht kaum noch relevante Facebook konzentrieren und andere Kanäle eher vernachlässigen.
„Historische Niederlage“ für Putin?
Der bekannte israelische Historiker Juval Noah Harari ließ sich in einem Text, der unter anderem im „Guardian“ und auf Deutsch im „Freitag“ erschien, dazu hinreißen zu schreiben, dass Putin auf eine „historische Niederlage“ zusteuere. „Selbst wenn er alle Kämpfe gewinnt, wird er den Krieg verlieren.“ Und weiter: „Nationen basieren letztlich auf Geschichten. Jeder Tag, der vergeht, bringt weitere Geschichten, die die ukrainische Bevölkerung nicht nur in den vor ihr liegenden dunklen Tagen erzählen wird, sondern noch in den kommenden Jahrzehnten und Generationen.“ Der Mut der Ukrainer sei „der Stoff, aus dem Nationen gemacht werden. Langfristig zählen diese Geschichten mehr als Panzer.“
Das mag stimmen. Aber kurzfristig? Was passiert, wenn Goliath, und das ist ein sehr wahrscheinliches Szenario, doch gewinnt? Wenn es kein Happy End gibt wie in Hollywood-Blockbustern? Für die Beobachterinnen und Beobachter von außen auf Twitter, TikTok und Co. steht wenig auf dem Spiel. Doch was ist mit den Menschen in der Ukraine, für die der Krieg mehr ist als ein Bildschirmflimmern? Was ist mit den Zehntausenden Zivilisten, die sich, von Patriotismus und Hingabe beseelt, zum Dienst an der Waffe meldeten? Die mediale Dramaturgie des eigenen Dramas am Anfang zu schreiben mag für Geschichten und die Geschichte gut sein. Doch am Ende ist Krieg, am Boden des Realen, Zerstörung und Tod.