„Eines der verhängnisvollsten Dinge in der Politik ist immer, wenn man das Opfer seiner eigenen Propaganda wird: Putins Russland hat sich vorgestellt, in der Ukraine als Befreier empfunden zu werden, stattdessen wurden sie als Besatzer empfangen.“ So analysierte der bulgarische Politologe Krastev die Fehlwahrnehmung des russischen Präsidenten wenige Tage nach Start des Überfalls in der ZIB2.
Putin selbst habe letzten Juli einen Essay geschrieben, in dem er zum Schluss kommt, die Russen und die Ukrainer seien ein und dasselbe Volk, so Krastev. Und er habe daran erinnert, dass das historische Russland auf Teilen der heutigen Ukraine und des heutigen Belarus lag. „In diesem Sinn sah er sich als Vereiner eines historischen Russlands. In seinem Kopf, der ja 1989 nicht in der Sowjetunion, sondern in Ostdeutschland erlebt hat, war die Ukraine ein Land, das nur darauf gewartet hat, mit Russland wiedervereint zu werden“, so Krastev.
Kreml-Kritiker Chodorkowski über Putins Fehlprojektionen
Der Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski analysiert im Interview unter anderem die derzeitige Position der russischen Oligarchen im Russland-Krieg in der Ukraine und erklärt, warum Putins Position in der russischen Bevölkerung langsam schwinden könnte.
Sehnsucht nach einem vereinheitlichenden Russland-Bild
Dass man für diese Projektion einiges an Mystagogie benötigt, ist auch für den Politologen Philipp Ther nicht ungewöhnlich: Die russische Geschichtsschreibung bis hinein in die Zarenzeit habe ja ausgeblendet, wie sehr sie immer schon ein Russland-Bild vereinheitlichen wollte. Als sich die Polen gegen den Zaren erhoben hätten, so Ther, habe man die ukrainische Sprache im Zarenreich auch gleich verboten. Das Ausblenden der Ukraine ist auch der jüngeren Geschichtsschreibung nicht fern. Selbstkritisch räumte der UdSSR-Kenner Karl Schlögel 2015 ein, dass er sich zwar eingehend mit der russischen Geschichte und der der Sowjetunion beschäftigt habe, die ukrainische Geschichte aber immer ausgeblendet habe.
Schlögel schrieb das im Schatten der Krim-Annexion während eines Forschungsaufenthaltes in Wien, wo man ja seit dem Zusammenbruch des Kommunismus die Wiederentdeckung der Bukowina, der Kultur der Orte Lemberg (Lviv) und Czernowitz zelebrierte, dem einstigen Ost-Ende des Habsburger Reiches. Getrieben waren diese Vorstellungen von einer Mitteleuropa-Ideologie, die selbst nie genau ihren inneren Antrieb abseits einer gewissen konservativen Sentimentalität definierte und bald, gerade um die Vielfalt der Identitäten des Raumes miteinzubeziehen, auf Betreiben des Kulturwissenschaftspioniers Moritz Csaky vom Begriff „Zentraleuropa“ abgelöst wurde.
Eine notwendige Vertiefung des Ukraine-Bildes gab es in Österreich, sosehr man nach der untergegangenen jüdischen Kultur, den Ursprüngen von Paul Celan oder Rose Ausländer suchte, nicht zwangsläufig. Wohl hat Österreich stark zur Forschungsförderung im Raum der Ukraine, auch mit Austauschprogrammen, beigetragen.

Konsequentes Wegschauen nach 2014
Dennoch war eigentlich erst die Annexion der Krim Anlass für manche, wie auch Schlögel einräumte, ihren Blick auf die Ukraine zu schärfen. Für den Politologen und Historiker Gerald Knaus wurde seit den Ereignissen auf dem Kiewer Maidan und der Annexion der Krim in den politischen Eliten Europas, speziell im Herzen der EU und gerade auch in Österreich, bewusst weggeschaut bei dem, was sich in der Ukraine zutrug.
Bis zur Annexion der Krim, so resümiert Schlögel im Buch „Entscheidung in Kiew“, „existierte die Ukraine in den Köpfen der Intelligenzija nicht als eigene Nation mit einer eigenen Staatlichkeit, sondern als eine Landschaft mit einem irgendwie besonderen Dialekt. Darüber hinaus gab es so etwas wie einen Generalverdacht, dass jedes Bestehen auf einer ukrainischen Identität von Übel sei.“
Joseph Brodsky, der 1972 aus der UdSSR ausgewiesen wurde und als eine der zentralen Stimmen der US-Moderne in der Literatur gilt, quittierte die Unabhängigkeit der Ukraine mit einem Gedicht, das sich liest, als hätte es Putin als Triebmittel für alle seine Reden herangezogen. In einem der Verse heißt es im englischen Original:
„It’s over now. Now hurry back to your huts
To be gang-banged by Krauts and Polacks right in your guts.
It’s been fun hanging together from the same gallows loop,
But when you’re alone, you can eat all that sweet beetroot soup.“

Russische Sehnsuchtsorte
Die Krim, so erinnert Schlögel, sei einer der zentralen Sehnsuchtsorte der russischen Kultur gewesen. Eine unabhängige Ukraine passte da nicht ins Bild. Andererseits weiß die russische Literatur: In Sehnsuchtsorten und -regionen ist die eigene Identität gerne bedroht. Zwar mag man in Odessa heimisch sein und schwelgen, spätestens am Kaukasus ging der russische Held, wie etwa bei Lermontow, unter.
„Putin glaubt wirklich, dass die Ukraine von einer vom Westen gesteuerten Elite angeführt wird und die Westorientierung eine Lüge ist, der Rest der einfachen Bevölkerung wartet, von der russischen Armee befreit zu werden“, erinnert Krastev, der schon jetzt meint, Putin habe nicht nur den Krieg, sondern vor allem sein Verständnis davon, was die Ukraine ist, verloren.
Die Ukraine und das Langzeitgedächtnis gegenüber Moskau
Für die Ukraine bleiben im Langzeitgedächtnis dieses Landes wiederum viele Eingriffe, gerade aus der Zeit der Sowjetunion und der Kollektivierungen, die mit Erfahrungen von Identitätsauslöschung verbunden sind, so als würden sich Maßnahmen des zaristischen Russland unter verschärften Vorzeichen wiederholen. Der US-Historiker Timothy Snyder erinnert in seinem Buch „Bloodlands“ an die Hungersnöte der frühen 1930er Jahre im Zusammenhang mit Stalins Kollektivierungspolitik, unter denen die Ukraine besonders zu leiden hatte. „Mehr noch in Sowjetrussland, wo es eine Tradition des gemeinschaftlichen Ackerbaus gab, waren die Bauern in der sowjetischen Ukraine über den Verlust ihres Bodens verzweifelt“, so Snyder.
Snyder erinnert auch daran, dass die ländliche Bevölkerung der Ukraine ganz im Gegensatz zum staatlichen Atheismus überwiegend religiös war. Tausende Bauern flüchteten damals nach Polen und brachten erst die Nachricht von den Hungersnöten in der Sowjetunion in die Welt. Für Stalin und das Politbüro sei das zur internationalen Peinlichkeit geworden, hätten die polnischen Behörden, die gerade eine Annäherung an die ukrainische Minderheit suchten, nun die Folgen von Stalins Kollektivierungspolitik mitbekommen.

Stalins damalige Reaktion auf die Hungersnot und Probleme der Kollektivierung mögen sehr an die Gegenwart erinnern. Stalins „erster Impuls und seine bleibende Tendenz war es ", so Snyder, den Hunger der ukrainischen Bauern als Verrat von ukrainischen KP-Mitgliedern zu sehen. Er konnte nicht die Möglichkeit zugestehen, dass seine Kollektivierungspolitik schuld war.“ 1932 bezeichnete Stalin die Hungersnot in der Ukraine als „ein Märchen“, als eine von Feinden verbreitete Verleumdung. Mehr noch, so Snyder: „Stalin hatte eine interessante Theorie entwickelt: Der Widerstand gegen den Sozialismus wächst, je größer seine Erfolge werden, weil seine Feinde ihm mit immer größerer Verzweiflung Widerstand leisten, wenn sie ihre endgültige Niederlage schon vor sich sehen.“ Historische Entwicklung und politische Narrative standen sich auch damals schon unversöhnlich gegenüber. Und die Menschen blieben daneben auf der Strecke: 1932/33 starben rund 3,3 Millionen Menschen in der Ukraine an Hunger und Folgekrankheiten. Solche Erfahrungen rissen jedenfalls auch tiefe Gräben in das Verhältnis zwischen Randrepubliken und einer Zentrale, die hinter der sowjetischen Politik eine russiche Politik betrieb, auch wenn im Zentrum wie im Fall von Stalin ein gebürtiger Georgier stand.

„Wer klaren Kopf bewahrt hat, stellt sich zum hundertsten Mal dieselben quälenden Fragen: Was ist nur mit uns passiert? Wie können gebildete, kultivierte Menschen voller Euphorie ‚Die Krim gehört uns!‘ rufen“, zitiert Schlögel in seinem Ukraine-Buch die russische Verlegerin Irina Prochorowa. „Wie konnten wir zulassen, dass zwei befreundete Völker zu Todfeinden wurden?“
Das bedrohliche Vakuum zwischen 1989 und 1991, schreibt Schlögel in seinem 2017 erschienenen Tausendseitenwerk „Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt“, habe eher den Republiken am Rand des Sowjetreiches geholfen – und das russische Selbstverständnis erschüttert: „Dieses Vakuum aufzufüllen schien in den nichtrussischen Republiken leichter, da sich dort die wieder errungene Geschichte als Ersatz für eine von außen – namentlich von ‚den‘ Russen – verhängte Geschichte anbot, der alle Fehlentwicklungen und Tragödien zugeschrieben werden konnten, während die Russen mit ihrer sowjetischen Erbschaft alleine zurückblieben.“
Das Ende der Sowjetunion sei mehr als ein Dekorationswechsel, schreibt Schlögel in seinem älteren Buch „Grenzland Europa“ (Hanser, 2003), „nicht nur das Ende von politischen Institutionen und administrativen Strukturen, sondern die Auflösung einer Lebensform“.