Ein Mähdrescher auf einem ukrainischen Weizenfeld
APA/AFP/Anatolii Stepanov
Ukraine-Krieg

Weltweiter Agrarmarkt gerät ins Wanken

Die Ukraine ist einer der größten Getreideproduzenten der Welt mit einem entsprechend hohen Anteil an den globalen Agrarlieferungen. Die Bedrohung der Betriebe durch die russische Invasion, die Unterbrechung der Wege über die Schwarzmeer-Häfen und zahlreiche Sanktionen werden zu einem Rückgang der Exporte führen. Doch nicht nur auf diesem lebenswichtigen Markt dürfte der Konflikt zu schweren Verwerfungen führen.

Schon bevor Russlands Truppen in die Ukraine einmarschierten, litt die Weltwirtschaft unter zahlreichen Belastungen: eine hohe Inflation wie seit Jahrzehnten nicht, bröselnde Kurse an den Börsen, brachliegende Lieferketten. Die unerwartet rasche Erholung nach der CoV-bedingten Rezession hatte dazu geführt, dass Unternehmen nicht mehr genügend Rohstoffe und Komponenten für die Produktion fanden, um die Nachfrage zu erfüllen. Fabriken, Häfen und Terminals konnten nicht mehr Schritt halten – der Kreis an Engpässen, Lieferverzögerungen und höheren Preisen nahm seinen Lauf.

Beeinträchtigungen der russischen und ukrainischen Industrie könnten eine Rückkehr zu normalen Bedingungen weiter verzögern. In manchen Regionen der Welt drohen aber weitaus dramatische Konsequenzen: Mehr als die Hälfte des Getreides, die das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) in Krisenregionen verteilt, stammt eigenen Angaben zufolge aus der Ukraine. Der Preis dafür steigt mit jedem Tag, an dem der Krieg andauert.

Container in einem Hafen von Schanghai (China)
Reuters/Aly Song
Der Stau der Container in Häfen wird so bald kein Ende nehmen

Großmacht im Agrarhandel

Vor der russischen Invasion prognostizierten Analysten, dass in diesem Jahr große Anteile der Agrarlieferungen auf die Ukraine fallen würden: Zwölf Prozent der weltweiten Weizenausfuhren, 16 Prozent der Maisexporte, 18 Prozent der Gersteausfuhren und 19 Prozent der Rapsexporte, berichtete n-tv unlängst. Bei Sonnenblumenöl steht das Land im internationalen Vergleich überhaupt an erster Stelle.

Ein großer Teil der Exporte fließt in Teile des Nahen Ostens und den Norden von Afrika, in von Instabilität und Lebensmittelknappheit geprägte Länder wie Jemen und Libyen. „Das ist eine Katastrophe, die zu einer anderen kommt“, sagte WFP-Direktor David Beasley. Schon vor dem Krieg hatte sich Getreide derart verteuert, dass etwa die Lebensmittelrationen im Jemen um die Hälfte gekürzt werden mussten. In dem Land herrscht seit 2015 Bürgerkrieg, seit Jahren sind weite Teile der Bevölkerung von Unterernährung betroffen.

Jemen und Libyen sind damit nicht allein: Ägypten – mit mehr als 100 Millionen Einwohnerinnern und Einwohnern das bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt – importiert einen großen Teil seines Weizens aus Russland und der Ukraine. Gleiches gilt für Tunesien und für den Krisenstaat Libanon. Der libanesische Agrarwissenschaftler Riad Saade rechnet allerdings nicht damit, dass sein Landes etwas unternimmt: „Wahrscheinlich ist ihnen das Problem nicht mal bewusst“, zitierte ihn die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“).

„Es gibt keinen Ersatz für Brot“

Dabei sei Weizenknappheit noch schlimmer als Mangel an Treibstoff oder Strom, woran sich die Libanesen bereits gewöhnen mussten. „Es gibt keinen Ersatz für Brot“, sagte Saade, „das ist das Essen der armen Leute, das Einzige, was sie sich leisten können.“ Die weltweite Nahrungskrise der Jahre 2007 und 2008 hatte auch damit zu tun, dass die ukrainische Regierung damals vorübergehend den Export einstellte – danach wurde Brot in vielen Ländern der Welt teurer, es kam zu Hungeraufständen. „Spätestens seit dieser Zeit ist auch ausländischen Investoren klar, wie kostbar ukrainisches Land ist“, schrieb einst die „Zeit“.

Sonnenblumenfeld
APA/AFP/Anatolii Stepanov
Kein anderes Land exportiert mehr Sonnenblumenöl als die Ukraine

Begehrte Schwarzerde

Die Bedeutung der Ukraine als Getreideproduzent ist zwei Faktoren geschuldet: Zum einen ist es die schiere Dimension: Mit einer Fläche von 603.700 Quadratkilometern (ohne die von Russland annektierte Krim 576.800 Quadratkilometer) ist sie der größte Staat, dessen Grenzen vollständig in Europa liegen, nach Russland das zweitgrößte Staatsgebiet auf dem Kontinent. Über 30 Millionen Hektar davon werden bewirtschaftet – das ukrainische Ackerland entspricht damit gut einem Drittel bis Viertel der Flächen, die es in der gesamten Europäischen Union gibt.

Zum anderen liegt es daran, dass die Ukraine über rund ein Drittel der weltweiten Schwarzerde (Tschernosem) verfügt – einer der fruchtbarsten Böden, die es gibt: Mehr als die Hälfte der Landesfläche ist davon bedeckt.

Grafik zum Agrarhandel Österreich – Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: WIFO

Köstinger garantiert „Versorgungssicherheit“

Auch für die Europäische Union ist die Ukraine ein wichtiger Partner im Agrarhandel. „Die Ukraine ist der viertgrößte externe Lebensmittellieferant der EU und beliefert die EU mit einem Viertel ihrer Getreide- und Pflanzenölimporte“, teilte der europäische Bauernverband COPA-COGECA mit. In wenigen Tagen beginne die Frühjahrsaussaat, überschattet von den Militäraktionen auf ukrainischem Gebiet. Das werde sich stark auf die Ernte im Sommer auswirken. „Die Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln ist in Österreich auf jeden Fall gewährleistet“, beruhigte Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP).

Nicht nur bei den Agrarexporten ist die Ukraine in den Top Ten weltweit vertreten: Auch bei den Eisen- und Stahlexporten rangiert das Land an der Spitze, wie die internationale Handelsorganisation Worldsteel berichtet. Stahl aus der Ukraine macht rund zehn Prozent der europäischen Importe aus. Zu den wichtigsten Herstellern in der Ukraine gehört Metinvest, das über Anlagen im industriellen Kernland des Landes im Osten verfügt. Das Unternehmen verlor mehrere Werke in den Regionen Donezk und Luhansk, als ein Teil der Provinzen von den von Russland unterstützten Separatisten eingenommen wurde.

Automatisierte Autofertigung
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Der Krieg in der Ukraine treibt die Metallpreise weiter nach oben

Kaum ein Bereich ist nicht betroffen

Von einer Knappheit und einem weiteren Preisanstieg bei Rohmaterialien ist jedenfalls auszugehen, das betrifft vor allem Neongas, Palladium, Titan und Nickel. Laut Moody’s Analytics produzieren Russland und die Ukraine zusammen 70 Prozent des weltweiten Neons, das für die Herstellung von Halbleitern – und in weiterer Folge Computerchips – entscheidend ist. Chips sind bereits jetzt Mangelware, Automobilhersteller und Maschinenbauer leiden derzeit am meisten darunter und mussten teilweise ihre Produktion einstellen.

Selbst unter Ausblendung des größten Druckmittels Russlands gegenüber dem Westen, Gas und Öl, betreffen die Kriegshandlungen in der Ukraine nahezu jeden wirtschaftlichen Bereich – teils eben auch lebensnotwendige. Die Dimensionen sind noch kaum zu erahnen. Einer aktuellen Untersuchung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) und des Österreichischen Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) zufolge würde Russland deutlich schlimmer als der Westen unter anhaltenden Sanktionen und einer möglichen vollständigen Entkopplung leiden. Zuversicht spenden diese Zahlen aber nicht.