Das Buch „Wilderer“ liegt auf einem Waldboden
ORF
Kaiser-Mühlecker-Roman

Tinder auf dem Bauernhof

Mit seinen Landwirtschafts- und Dorfgeschichten gilt Reinhard Kaiser-Mühlecker als der große „unzeitgemäße“ Autor im deutschen Sprachraum. In seinem neuen spannungsgeladenen Roman „Wilderer“ geht es raffiniert und ziemlich düster zu. Ein Bauer kämpft mit Existenzsorgen, der Familie und mit sich selbst. Und im Hintergrund tut sich ganz viel Gegenwart auf – und nicht zuletzt die Frage, wieweit sich Stadt- und Landlebenswelten zusammenbringen lassen: Kann Tinder eine Brücke zwischen Bauer und „Bobo“ schlagen?

Die Großstadtwelt kommt über die Medien auf den Hof. „Im Radio lief eine Sendung über die Bedeutung des Nichtstuns.“ Und ebenfalls dort „hörte er in letzter Zeit häufig das Wort ‚Mindset‘, laut Google ‚Denkweise‘ oder auch ‚Geisteshaltung‘, und dass man das verändern könnte, wenn man daran arbeite“. Die großstädtischen Lebensweisheiten, sie taugen einfach gar nichts für das Bauernhofleben, ja klingen fast zynisch, das stellt Kaiser-Mühlecker mit solchen Sätzen klar. Wie sich insgesamt die Lebenswelten stark unterscheiden.

Hier rackern sich die Protagonisten ab, während der städtische Unruhepuls sie nur ganz am Rande, quasi gefiltert, erreicht, etwa in Form der nervigen „Seuche“, um die sich hier kaum etwas dreht, wie Kaiser-Mühlecker gekonnt beiläufig zu verstehen gibt. „Eine ganz andere Realität“ sei das Bauernleben, das sei „nur äußerst schwer zu vermitteln“, so der Autor dazu im ORF-Interview. Und genau das, dieses „Vermitteln, was sich schwer vermitteln lässt“, hat sich der 39-Jährige, der selbst auf dem elterlichen Hof im oberösterreichischen Eberstalzell aufwuchs und heute auch als Landwirt arbeitet, ganz grundsätzlich zu seiner literarischen Aufgabe gemacht.

Sound mit hypnotischer Wirkung

Schon seit dem Debüt „Der lange Gang über die Stationen“ 2008 ergründet Kaiser-Mühleckers Werk das bäuerliche und ländliche Leben und widersetzt sich damit allen gängigen Marktanforderungen wie etwa einer schnellen, griffigen Plot-Entwicklung. Seine mittlerweile acht Romane haben ihm den Respekt renommierter Autoren – etwa von Peter Handke und Siegfried Lenz –, eine wachsende Fangemeinde und auch viele Preise eingebracht.

Reinhard Kaiser-Mühlecker
Jürgen Bauer
Für seine Bücher wurde Kaiser-Mühlecker bereits vielfach ausgezeichnet: „Fremde Seele, dunkler Wald“ stand 2016 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, 2020 erhielt er den Anton-Wildgans-Preis

Mit dem Label Antiheimatliteratur, mit dem er bisweilen in Verbindung gebracht wird, kann der Autor wenig anfangen: „Das haben schon andere geschrieben.“ Seine Geschichten handeln von Schuld und Schicksal, von wortkargen, zögerlichen Menschen. Mit schlichten Sätzen versucht er einzufangen, worauf seine Protagonisten keinen sprachlichen, intellektuellen Zugriff haben, und entwickelt dabei einen Sound, der mit der Zeit eine geradezu hypnotische Wirkung entfaltet. Was auch unbedingt für den „Wilderer“ gilt.

Russisches Roulette

Der Einstieg in die diesmalige Bauernhofwelt ist dabei durchaus heftig – und alles andere als erbaulich: Gleich auf Seite eins drückt sich der Jungbauer Jakob einen Revolver zum Russischen Roulette an die Schläfe. Was auch diesmal scheitern wird, ist schon seit Jahr und Tag regelmäßiger Zeitvertreib des stark Gebeutelten, der mit seinen 22 Jahren bereits um vieles älter wirkt.

Jakob ist ein prototypischer Kaiser-Mühlecker-Protagonist, ein Verschlossener, Sich-auf-Distanz-Haltender, der ein scheinbar alternativloses Leben führt. Schon sehr früh, „mit zwölf, dreizehn, vierzehn Jahren“ hat die Familie den geschickten und fleißigen Buben den Hof quasi alleine führen lassen. Der Vater brachte zwar viele waghalsige Ideen, aber keine Standfestigkeit mit.

Wetterextreme und Geldsorgen

Nicht nur der Vater, auch der Rest der Familie lastet scheinbar wie ein Fluch auf Jakob und hält seinen Radius und seine Handlungsmöglichkeiten klein. Die altersschwache Großmutter, mit der Jakob längst nicht mehr reden will, plant ihr Vermögen einer „rechten Partei“ zu spenden, die unstete Schwester kommt nur bisweilen auf den Hof und stiftet Unruhe. Für das Übrige sorgen Wetterextreme („Die Zukunft war für alle so ungewiss, wie sie es für die Vorfahren nie gewesen war“) und eine gescheiterte Beziehung in der Vergangenheit, die Jakob misstrauisch gemacht hat. Die latente Spannung, die die ganze Szenerie überschattet, lässt dieses Buch einen intensiv-düsteren Sog entwickeln. „War all das nichts als eine Prüfung?“, fragt sich Jakob selbst.

Das Buchcover von „Wilderer“
S. Fischer Verlag
Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer. S. Fischer, 352 Seiten, 24,95

Dass diese Geschichte bei allen Widrigkeiten nicht durch und durch von einer Patina der Verzweiflung überzogen ist, liegt daran, dass Kaiser-Mühlecker seinen Jakob selten hinterfragen, sondern vielmehr tun lässt. Er schupft eine Zeit lang den Hof eines anderen Bauern mit, als dieser ins Krankenhaus muss, versucht sich mit teils findigen, nicht immer fruchtenden Ideen, etwa mit Fischteichen, Mastkühen und Hühnerställen, neu zu erfinden, und stellt sich Alltag und Familienkonstellationen. Letztlich ist es aber vor allem die junge Malerin Katja, mit der sich so etwas wie eine Zeitwende ankündigt, gegen die sich der reservierte Jakob zunächst stemmt.

„Wollte sie nur mal einen Bauern haben?“

Die Frau, die er eben noch auf Tinder zur Seite gewischt hatte, hat im Dorf eine dreimonatige Künstler-Residency angetreten und versucht, ihn aus der Reserve zu locken. Das Eis bricht, als sie als Praktikantin auf dem Hof aushilft, und Katja entpuppt sich als Lichtblick für ihre Umgebung. Als „Anpackerin“ charakterisiert, bringt sie sich gestaltend und hochkommunikativ in Betrieb und Leben ein.

Dass diese starke Frau in der Geschichte dennoch blass und konturlos bleibt, ist insofern nur schlüssig, als sich aus Jakobs Perspektive ihr Innenleben kaum erschließen lässt. Die gänzlich andere Herkunft schürt immer wieder Misstrauen – und, das schwebt schon von Anfang an in der Luft, Jakob kann letztlich nicht aus seiner Haut heraus. Über die Monate wachsen die Zweifel und damit auch die Wut, selbst als bessere Zeiten auf dem Hof anbrechen: „Hat Katja ihn getäuscht, wollte sie nur mal einen wie ihn haben, einen Bauern?“ Die Beziehungsprobleme zwischen dem ungleichen Paar sind übrigens auch der Schlüssel zu dem vieldeutigen Titel „Wilderer“, steht Katja doch im Verdacht, im Leben des Landwirts nur gewildert zu haben.

Gegen die Versimplifizierung der Welt

„Wenn ich gegen etwas anschreibe, dann gegen die Versimplifizierung der Welt und der Beschreibungen, gegen das Schwarz-Weiß-Denken und gegen das Instagram-Hochglanzzeug. Dass wir alle wie zwanghaft nur das Schönste herzeigen wollen“, so der Autor im ORF-Gespräch. Dass diese Geschichte trotz eines vergleichsweise ereignisarmen Plots eben so spannend ist, liegt auch daran, dass es Kaiser-Mühlecker ganz bemerkenswert gelingt, die Brüche seiner Protagonisten auszuleuchten. Mit einer Sprache, die oft simpel daherkommt, aber raffiniert transportiert, wozu diese selbst teilweise keinen Zugang haben.