Putin in einem Aeroflot-Simulator
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Mindset Putin

Die letzten Kader der UdSSR

Die Frage, wie Russlands Präsident Putin tickt, füllt gerade ganze Artikelserien. In Russland regiert im Gegensatz zu allen demokratischen Ländern an der Westgrenze des Landes ein Kader der späten Sowjetunion, der tief geprägt ist vom ökonomischen Zusammenbruch dieses Systems und der Verhandlungsgeschichte 1989 bis 1991. Man braucht nicht psychologisch zu spekulieren, sondern in die Geschichte der UdSSR zu schauen. Und da galt immer: Das Narrativ, nicht das Ereignis bestimmt. Opferzahlen waren dabei selten eine Kategorie. Der Westen hat bei dieser Methode in den letzten Jahren konsequent weggeschaut. Oder bei selbst ernannten russischen Demokratieforen mitgemacht. Beispiel Österreich.

Die Demokratieentwicklung der Länder des ehemaligen Ostblocks, die mittlerweile Teil der Europäischen Union sind, ist ein langwieriger Prozess – und, blickt man auf die jüngsten Ereignisse in Bulgarien etwa, einer, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Dass geschlossene Kader der späten 1980er Jahre weiter ein Land regieren, diesen Zustand gibt es auf europäischem Boden freilich nur in zwei Ländern: Russland und Belarus.

Als Putin vor dem Beginn des Ukraine-Feldzugs den Nationalen Sicherheitsrat zusammenrief, gab es eine mediale Premiere, weil nicht nur die Eröffnungsstatements des Präsidenten übertragen wurden, sondern auch die Statements der anderen 14 Mitglieder dieses Gremiums. Wenig später sollte sich herausstellen, dass die Übertragung zeitversetzt und mit einigen Eingriffen abgewickelt wurde – sprich: Einige der Wortmeldungen wurden gekürzt. Erinnern durfte man sich aber an das Politbüro der KPdSU der späten UdSSR. Und wenn die UdSSR nicht zuletzt wegen ihres eigenen Wirtschaftsversagens implodiert ist, dann fiel auf, dass in diesem Gremium Putins kein einziger ausgewiesener Wirtschaftsexperte saß und sitzt.

Putin und der russische Sicherheitsrat am 21.2.2022
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Putin und der russische Sicherheitsrat: Auf Respekts- oder Virenabstand im Februar 2022

Vertiefung ins eigene Geschichtsbild

Am selben Tag durfte man im Fernsehen eine Rede des russischen Staatschefs erleben, der einen Geschichtslehrer der Nation und seiner selbst gab. Lenin und Stalin bekamen jedenfalls von Putin ihr Fett ab. Und blickt man auf die Korrekturen, die Putin am stalinschen Vorgehen, gerade im Umgang mit der Ukraine, anzubringen hatte, dann bleibt zu erinnern, dass, wie der Historiker Timothy Snyder annimmt, alleine die Hungersnot von 1932/33 als Folge des ersten stalinschen Fünfjahresplanes 3,3 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Putin interessieren aber nicht die zu beklagenden Toten, sondern der Konstruktionsfehler beim Einrichten der Ukrainischen SSR, die schon damals zu sehr historisches Territorium von Russland in Beschlag genommen habe.

Das Narrativ, nicht das Ereignis ist entscheidend

Gelernt haben dürfte Putin aber beim Blick in die Geschichtsbücher der Sowjetunion, dass nicht das Ereignis, sondern das Narrativ darüber die Sichtweise bestimmen soll. Ukrainische Bauern konnten Anfang der 1930er Jahre teilweise nach Polen fliehen und von den brutalen Geschehnissen rund um die Kollektivierung der Landwirtschaft berichten. Doch ein Nichtangriffspakt zwischen Polen und der UdSSR im Jahr 1932 ließ auch das polnische Interesse versiegen, das Versagen Stalins groß zu thematisieren und politisch auszuschlachten.

Während Stalin mit dem Triumph seines Systems prahlte, sah der britische Journalist und Chronist Gareth Jones, der davor die Anziehungskraft von Adolf Hitler in Deutschland bei den Erwerbslosen dokumentiert hatte, bei seiner Reise durch die Sowjetunion, in welchem Ausmaß die Menschen an Hunger litten. Im März 1933 erreichte Jones Charkiw und hielt seine Eindrücke in einer Reportage und in einer wenig später in Berlin einberufenen Pressekonferenz fest.

In der „New York Times“ schrieb er: „Ich sah eine Hungersnot gewaltigen Ausmaßes. Viele Menschen waren aufgequollen vor Hunger. Überall hörte ich Sätze wie ‚Wir warten auf den Tod‘. Ich schlief neben verhungernden Kindern auf dem Lehmboden. In Charkow sah ich Menschen, die sich um zwei Uhr früh vor Geschäften anstellten, die nicht vor sieben öffneten. An einem Durchschnittstag standen 40.000 Menschen nach Brot an. Manche waren so schwach vor Hunger, dass sie nicht ohne Hilfe anderer stehen konnten.“

Artikel zur Hungersnot in Russland 1933
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Die Reportage über den Hunger in der Ukraine sollte eine heftige Debatte auslösen

Mediale Diskussionen über den Holodomor

Jones’ Einschätzung des Holodomor, also der Tötung durch Hunger, wurde Gegenstand einer heftigen medialen Kontroverse, die am Ende zuungunsten von Jones ausging. Viele warfen ihm Übertreibungen vor, die Führung in Moskau bestritt alle erhobenen Vorwürfe und versuchte, ihre Politik einer Annäherung an den Völkerbund fortzusetzen. Westliche Regierungen ihrerseits suchten eine Annäherung an die Sowjetunion und halfen mit, Aufdeckerartikel über den Hunger in der Ukraine infrage zu stellen. Seit ihrer Unabhängigkeit versucht die Ukraine, den Holodomor als Völkermord einzustufen, ein Unterfangen, das bis in die Gegenwart Gegenstand heftiger Kontroversen ist.

zeit.geschichte: Das Erbe einer Weltmacht – Geopolitik auf den Trümmern der Sowjetunion

Russlands Präsident Putin hat den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Es war vor 30 Jahren, als die Sowjetunion aufhörte zu existieren, ein sang- und klangloser Untergang. Seitdem gehen 15 Staaten zwischen Ostsee und Pamir-Gebirge ihre eigenen Wege. „Weltjournal Spezial“ zeigt das postsowjetische Leben im Baltikum, wo Demokratie nach westlichem Zuschnitt funktioniert, und im bürgerkriegsgeplagten Kaukasus.

„Ein typischer Geheimdienstler“

Für Putin mag aber genau diese Phase der russischen Geschichte ein Lehrbeispiel dafür sein, wie sehr die Wahrnehmung von Ereignissen gerade durch die Erzählung darüber bestimmt wird. Die Darstellung des Überfalls der Krim und der Ostukraine folgt diesem Lehrbeispiel. „Putin“, sagt der ehemalige Leiter der CIA in Moskau, „ist ein typischer KGB-Agent, und Geheimdienstler kennen auf der ganzen Welt das Gleiche. ‚Nichts zugeben, alles leugnen und Gegenattacke‘, das stand auch bei uns bei der CIA auf einem Schild im Office.“

Schon vor dem russischen Ukraine-Krieg hatte John Sipher Putin in einem Twitter-Post daran erinnert, dass die Body-Bags aus Afghanistan die Wende in der russischen Offensive am Hindukusch brachten. Doch möglicherweise erinnert sich die Elite um Putin noch an eine andere Erfahrung der Sowjets aus den 1970er Jahren: die Schwäche der USA im Gefolge des gescheiterten Vietnam-Kriegs und des Watergate-Skandals. Hatte man in den frühen 1970er Jahren, etwa in Deutschland unter Willy Brandt, eine Ostannäherung gesucht, so schien diese Tauwetterphase 1974 vorbei: Der Westen, allen voran die USA, mit sich selbst beschäftigt, sah, wie die Sowjetunion trotz Verhandlungen ihre Aufrüstung fortsetzte.

zeit.geschichte: Putin – Russlands neuer Zar

Seit dem Jahr 2000 regiert Wladimir Putin in Russland. Der ehemalige KGB-Agent will sein Land wieder zur Supermacht machen. Aber im ganzen Land wächst der Unmut, Putin ist geschwächt. Er hat die Opposition mundtot gemacht und seine Macht im Innern gefestigt. Doch die Menschen prangern den wirtschaftlichen Niedergang ihres Landes an. Seit die Ölpreise fallen, verarmt das russische Volk zunehmend. Viele fordern Putins Rücktritt. Der Herrscher im Kreml verschanzt sich und beschuldigt den Westen, sich gegen ihn verschworen zu haben.

Der geschwächte Westen und die Antwort der UdSSR

Mehr noch: Moskau war „offenbar zu der Einschätzung gelangt“, so der Historiker Manfred Görtemaker, „die Schwächung der westlichen Führungsmacht biete in Verbindung mit der gewachsenen Stärke der UdSSR neue Möglichkeiten für die Ausweitung des sowjetischen Einflusses in der Welt“. 1974 unterstütze man die KP in Portugal im Zuge der dortigen Revolution, intervenierte in den ehemaligen Afrikakolonien Portugals von Angola bis Mocambique. 1979 interpretierte man die Fixierung von US-Präsident Jimmy Carter auf Menschenrechtsfragen und sein Schwanken in nahezu allen Rüstungsfragen als Einladung, in Afghanistan einzumarschieren. Vom damaligen NATO-Doppelbeschluss und fünfmaligen Warnungen aus Washington ließ sich der sowjetische KPdSU-Generalsekretär (und gebürtige Ukrainer) Leonid Breschnjew jedenfalls in der Afghanistan-Frage nicht beeindrucken.

Jimmy Carter und Leonid Breshnew beim Unterzeichnung des SALTII-Abkommens im Juli 1979 in Wien
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Wie viel zählt ein Kuss? Jimmy Carter und Leonid Breschnjew im Juli 1979 in Wien bei der SALT-II-Unterzeichnung

„Die Regierungen der Welt müssen der Sowjetunion klarmachen, dass sie nicht weiter den Weltfrieden gefährden kann, ohne ernstliche politische Konsequenzen zu fürchten“, erklärte sich Carter in einem Interview zur Jahreswende 1980. Was wie eine Erinnerung an die Gegenwart klingt, war damals das Ende der Entspannungspolitik und der Eintritt in eine neue Phase des Kalten Krieges, die, um es verkürzt zu sagen, ja nicht militärisch, sondern wirtschaftlich durch den ökonomischen Kollaps der UdSSR beendet wurde. Und an diesem Punkt setzt die vielleicht entscheidende Erfahrung des KGB-Mannes Putins, aber auch die seines engsten Umfeldes, das ja teils von ähnlichen Biografien geprägt ist, an.

1990 als Jahr der Kränkung

Das Nichtverkraften des Kollapses der UdSSR ist in vielen Analysen hinreichend behandelt worden. Freilich bleibt ein Detail der Verhandlungen rund um die Einigung Deutschlands für den ja damals in Deutschland stationierten KGB-Mann Putin zentral: das Nachgeben von Michail Gorbatschow in der Frage der Stationierung von NATO-Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Der Punkt einer NATO-Mitgliedschaft eines möglicherweise vereinigten Deutschlands blieb im Frühjahr 1990 eine der Schlüsselfragen der „Zwei plus vier“-Gespräche, also den Verhandlungen der beiden Teile Deutschlands samt den vier früheren Besatzungsmächten.

Während etwa der französische Staatschef Francois Mitterrand vor allem wirtschaftliche Gründe rund um ein neu erstarktes Deutschland fürchtete und seine Zustimmung zur D-Mark-Währungsunion nur unter der Prämisse gab, die deutsche Währung würde alsbald unter dem Schirm einer gemeinsamen europäischen Währung aufgehen, wollten die Sowjets darauf beharren, dass keine NATO-Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden dürften. Die ostdeutschen Verhandler hatten von einem bündnisfreien gemeinsamen Deutschland geträumt, ein Plan, der sowohl von der BRD-Regierung Kohl-Genscher als auch den USA abgelehnt wurde.

Helmut Kohl, Mikhail Gorbachev), foreign minister Hans-Dietrich Genscher und Eduard Shevardnadze im Juli 1990 in Russland
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Am Baumstamm im russischen Wald im Sommer 1990. Das Glück von Gorbatschow und Edward Schewardnadse an diesem Abend des Durchbruchs in Richtung deutsche Einigung konnte die Generation Putin und Auslands-KGB nicht teilen

Ende Februar 1990, so erinnert etwa der Historiker Ian Kershaw, änderten die Amerikaner jedoch ihren Kurs und bestanden nun in Absprache mit Helmut Kohl darauf, dass der Zugriff der NATO, wenn die Sicherheit Deutschlands gewährleistet werden sollte, auf das Territorium der ehemaligen DDR ausgeweitet werden müsse – „was Washington sehr wahrscheinlich von Anfang an im Sinn gehabt hatte“. Obwohl es nie ein formales Versprechen gegen eine Ostausdehnung gegeben habe, so Kershaw, habe dieser Kurswechsel dem Einverständnis von davor widersprochen und in Russland das Gefühl entstehen lassen, „dass der Westen nicht aufrichtig gewesen sei und seine Versprechen gebrochen habe“.

Dass Gorbatschow in dieser Frage so rasch eingelenkt habe, zeige, wie sehr die Sowjetunion damals geschwächt gewesen sei, immerhin habe Gorbatschow auch nicht mit einem derart raschen Zerfall des Warschauer Paktes gerechnet. „Die sowjetische Wirtschaft brauchte dringend westliche Finanzhilfe, und Westdeutschland bot im Gegenzug für die sowjetische Kooperation bei der Wiedervereinigung die benötigten Kredite an.“

Langfassung: Politologe Krastev zum Ukraine-Krieg

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev berät Politiker in ganz Europa. Er spricht über die bisherigen Kämpfe der russischen Armee sowie über die Sanktionen der EU-Staaten.

Putin habe diese Vorgänge, wie der Politologe und Osteuropaexperte Ivan Krastev zuletzt in der ZIB2 erwähnte, als KGB-Mann in Deutschland erlebt – „er war damals nicht in der Sowjetunion, sah also auch nicht direkt den Zustand des Landes in dieser Übergangsphase“. Dass der Westen Russland zunehmend auf den Status einer „Regionalmacht“ (US-Präsident Barack Obama im Rahmen seines ersten Zusammentreffens mit Putin) reduzierte, hat das Umfeld von Putin und die ihn stützenden Oligarchen erzürnt. Einer, der darüber offen spricht, ist der mutmaßliche Ex-KGB-Mann und Oligarch Wladimir Jakunin. „Wir sind die einzige Nuklearmacht auf der Welt, die ähnlich stark ist wie die USA. Sollte Barack Obama das anders sehen, sollte er wenigstens so klug sein und das für sich behalten“, so Jakunin in einer zuletzt auch im ORF wieder gezeigten Dokumentation über Putins politische Einstellung.

Jakunin, Moskau und Österreich

Jakunin, dem engen Freund Putins und ehemaligen Präsidenten der Russischen Staatsbahnen, kommt möglicherweise auch eine andere Rolle in der aktuellen Klimaverschlechterung zwischen Moskau und Wien zu. Dass sich Moskau am Wochenende über das russische Außenministerium über „die einseitigen, antirussischen Aussagen“ des offiziellen Österreich, wie man selbst formulierte, empörte, liegt auch an der von Moskau empfundenen Störung der offenbar gegenseitigen Interpretation des neutralen Österreich auf internationaler Bühne.

Wladimir Jakunin bei der Präsentation eines neuen Ordens 2021
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Wladimir Jakunin: Ex-Präsident der Russischen Staatsbahnen und Putins Master of Ceremony: Er ist der Stifter zahlreicher Preise zur Verständigung der Völker. Und will wie andere im Umfeld Putins der Welt beweisen: Wir sind keine Regionalmacht.

Österreich sagt zurzeit: Wir sind militärisch, nicht politisch neutral angesichts des Überfalles auf die Ukraine. Russland wiederum stützt sich auf eine Auslegung der Neutralität Österreichs, die von hochrangigen Proponenten der heimischen Innenpolitik durchaus auch „politisch“, aber eindeutig russlandfreundlicher ausgelegt wurde. 2002 hatte Jakunin ja den Dialog der Zivilisationen (DOC) gegründet, der seinen Sitz auch in Wien hatte. Das Forum vergab Preise, veranstaltete große Diskussionsveranstaltungen, etwa das „Rhodos Forum“. 2016 wurde es in Berlin neu gegründet. Eines der Mitgründungsmitglieder war der ehemalige Generalsekretär des Europarates und Ex-Parlamentarier Walter Schwimmer (ÖVP).

Die Preisträger des Forums waren nicht selten hochrangige Politiker, die man in verschiedenen Foren an sich zu binden vermochte, darunter auch der ehemalige Bundeskanzler Alfred Gusenbauer (SPÖ), der bereits 2008 vom DOC ausgezeichnet worden war. Moskau war auch gewohnt, dass in Österreich bis zuletzt die Losung die Erhaltung der „Gesprächsfähigkeit“ war. Diese Gesprächsfähigkeit nutzten aktive wie ehemalige österreichische Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker in unterschiedlicher Form. Auf einem Jakunin-Forum in St. Petersburg im Jahr 2014 trat der frühere FPÖ-Politiker Johann Gudenus auf und referierte über die „Homosexuellenlobby“, die Österreich regiere. Hauptthema dieses St. Petersburger Forums war die Ukraine „in der Hand des Faschismus“. Es war das Frühjahr der Maidan-Bewegung.