Schloss Versailles
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EU-Gipfel in Versailles

Vom Friedensvertrag zur Kriegsberatung

Am Donnerstag und Freitag findet der informelle EU-Gipfel im französischen Versailles statt. Jenem geschichtsträchtigen Ort, wo mit dem Versailler Vertrag einst die Weltmächte den Frieden nach dem Ersten Weltkrieg besiegelt hatten. Statt über Frieden wird diesmal jedoch über Krieg beraten. So richtet sich der Blick der 27 EU-Staats- und Regierungsspitzen vor allem auf zwei Bereiche: die Bewältigung der Folgen des russischen Einmarsches in die Ukraine und die strategische Neuaufstellung Europas.

Ursprünglich hätte es der Sondergipfel der französischen Ratspräsidentschaft für ein „neues europäisches Wachstumsmodell“ werden sollen – doch „der Ukraine-Krieg wird dieses Treffen auf jeden Fall dominieren“, sagt die Politanalystin Sophie Pornschlegel vom Brüsseler European Policy Center (EPC) gegenüber ORF.at.

Auch bei diesem Sondergipfel werden einmal mehr Sanktionen gegen Russland im Mittelpunkt stehen. So geht aus einem vorliegenden Entwurf für die Ukraine-Erklärung hervor, dass die EU-Staats- und -Regierungsspitzen der Ukraine weitere Hilfe zusagen und Russland mit neuen Sanktionen drohen: „Wir werden sicherstellen, dass alle Sanktionen vollständig umgesetzt werden. Und wir sind bereit, schnell zu agieren mit weiteren Sanktionen falls nötig.“ Von Russland wird eine sofortige Waffenruhe im Krieg in der Ukraine verlangt.

Ende der Abhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle

Auch will man die europäische Abhängigkeit von russischen Gas-, Öl- und Kohleimporten beenden. Dafür soll die Energieversorgung auf eine breitere Basis gestellt werden – unter anderem durch Flüssiggas, Biogas und Wasserstoff, aber ebenso durch den Ausbau erneuerbarer Energien. Bereits am Dienstag präsentierte die EU-Kommission entsprechende Pläne.

Vladimir Putin
AP/Sputnik/Andrei Gorshkov
Der Sorge, dass Präsident Wladimir Putin den Gashahn für Europa abdreht, will man in der EU zuvorkommen – und selbst den Ausstieg beschließen

Fonds für Sanktionsfolgen

Wie realistisch ein solcher Ausstieg ist, sei von vielen Faktoren abhängig und schwierig zu beantworten, meint Pornschlegel. Einerseits sei es zwar ein starkes Druckmittel gegen Russland, andererseits ließe sich der europäische Energiemix nicht von einem Tag auf den anderen ändern.

Um die Folgen der Sanktionen für die einzelnen Mitgliedsstaaten besser abzufedern, soll Berichten zufolge ein gemeinsamer Fonds eingerichtet werden. Laut der französischen Zeitung „Le Monde“ könnten dafür etwa kurzfristig Mittel aus dem 750 Milliarden Euro schweren CoV-Wiederaufbaufonds umgeschichtet werden. Dieser solle wieder schuldenfinanziert sein.

Appelle für unabhängiges, souveränes Europa

Auch der französische Präsident Emmanuel Macron forderte bereits des Öfteren ein Ende der Abhängigkeit Europas – nicht nur bei der Energieversorgung, sondern gleichwohl bei neuen Technologien, Rohmaterialien und nicht zuletzt bei der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Hierbei bedarf es höherer Investitionen. Als Folge dieses Krieges müssten Europa und die Souveränität gestärkt werden, so Macron.

Ähnlich äußerte sich Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), der ebenso am Gipfel teilnehmen wird: „Europa muss unabhängiger und resilienter werden, mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit und die Versorgung mit Rohstoffen sowie Energie übernehmen. Das führen uns die tragischen Ereignisse in der Ukraine drastisch vor Augen.“ Der Gipfel selbst solle ein „Zeichen des Friedens“ setzen.

EU „mit brutaler Realpolitik konfrontiert“

Vorhaben, die europäische Außen- und Verteidigungspolitik voranzubringen, gebe es bereits seit Längerem, konstatiert Pornschlegel. Diese wären bisher an dem Willen einzelner Mitgliedsstaaten gescheitert. Durch den Ukraine-Krieg habe sich die Situation aber drastisch geändert: „Jetzt bewegt sich etwas, weil die Europäer mit dem Ukraine-Krieg mit einer sehr brutalen Realpolitik konfrontiert werden."

Eine verstärkte militärische Zusammenarbeit sei „natürlich gut“, allerdings gelte es auch weiterhin, auf diplomatischem Wege Antworten zu finden, „um wieder zum Frieden zu kommen“, so Pornschlegel. Auch dürfe man nicht vergessen, dass europäische Souveränität bis vor Kurzem noch im Hinblick auf China verstanden wurde. „Es ist verständlich, dass wir aktuell stark auf Russland schauen, allerdings bleiben andere außenpolitische Themen, beispielsweise die Beziehung zu China, weiterhin problematisch.“

Französischer Präsident Emmanuel Macron
Reuters/Piroschka Van De Wouw
Macron fordert ein unabhängiges und souveränes Europa

Debatte über EU-Beitritt von Ukraine

Auf der Agenda des Sondertreffens steht ein weiteres Thema: die EU-Beitrittsanträge von Moldawien, Georgien und der Ukraine. Die Anträge werden zwar von der EU-Kommission geprüft, über eine Aufnahme entscheiden dann aber die 27 Staats- und Regierungsspitzen. Pornschlegel zufolge gebe es hierbei zwei Perspektiven: Geopolitisch gesehen handle es sich vor allem um ein „symbolisches Zeichen, dass man diese Verhandlungen startet“.

Aus einer innenpolitischen Sichtweise sei die Wirksamkeit „in Hinblick auf die Lösungsfindung von diesem Krieg“ jedoch zu hinterfragen. Ihrer Meinung nach seien effektive Sanktionen gegen Russland gerade wichtiger – und hätten stärkere Auswirkungen als „dass die Ukraine schnell der EU beitritt“.

Dazu kommt: Die Kriterien für die Aufnahme seien streng. Und gerade bei Rechtsstaatlichkeit, Korruption und Marktwirtschaft gebe es noch viel zu tun. „Tatsächlich habe ich ein bisschen die Befürchtung, dass man hier falsche Versprechungen machen könne“, so Pornschlegel. Die Anträge würden aber eine positive Sichtweise auf die EU zeigen, ein Symbol für etwas, „wo Länder noch beitreten möchten“. Seitens der EU hieß es vorab, dass die Ukraine sehr wohl Teil der europäische Familie sei und man unabhängig von einer Beitrittsprüfung die Beziehungen stärken und die Partnerschaft mit dem Land vertiefen wolle.

Expertin gegen überstürzte symbolische Schritte

Generell hoffe die Politanalystin, „dass man nicht die Ruhe verliert, auch, wenn die Situation natürlich katastrophal ist“. Politische Entscheidungen müssten bedacht getroffen werden: „Man sollte aufpassen, dass man nicht überstürzt symbolische Schritte setzt, die in dieser Krise nicht hilfreich sind.“

Derzeit habe sie allerdings das Gefühl, „dass Entscheidungsträger sich doch sehr stark auch beeinflussen lassen von einer sehr sensationalistischen Öffentlichkeit. Ohne zu überlegen, was das für langfristige Konsequenzen hat.“ Sei es, was die EU-Beitrittsdebatte oder die Sperre des ukrainischen Luftraums für Russland betrifft.

„Entschlossen und schnell gehandelt“

Nichtsdestotrotz stellt Pornschlegel der EU jedoch ein gutes Zeugnis aus. In den vergangenen zwei Wochen habe man tatsächlich sehen können, dass Europa nicht nur schnell entschlossen, sondern auch geeint auftrat, etwa beim Umgang mit ukrainischen Geflüchteten.

Doch egal ob Flüchtlingskrise, Krieg, Pandemie oder Klimakatastrophe: „Im Endeffekt hängt es von der Politik ab, ob wir erfolgreich aus der Krise kommen oder nicht. Deswegen ist es so wichtig, dass Entscheidungen getroffen werden, die überlegt sind.“