Flüchtende auf dem Bahnhof von Kiew
AP/Emilio Morenatti
Zwei Mio. geflüchtet

Größte Herausforderungen stehen erst bevor

Von den 44 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern der Ukrainer sind mittlerweile nahezu 2,1 Millionen geflüchtet. Das teilte das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) am Dienstag mit. Das Tempo sei enorm. Das UNHCR zog einen Vergleich zu den Balkan-Kriegen: Damals seien zwei oder drei Mio. Menschen geflohen, „aber über einen Zeitraum von acht Jahren“. Jetzt seien es acht Tage. Die Lage werde noch schwieriger, denn zunehmend werden auch Menschen ohne Netzwerke in Europa erwartet.

Allein in Polen sind seit Beginn der russischen Invasion 1,2 Millionen Menschen aus der Ukraine angekommen. Am Montag überschritten rund 141.500 Personen die Grenze nach Polen, teilte der dortige Grenzschutz am Dienstag auf Twitter mit. Der Rest der Ankünfte verteilt sich vor allem auf Ungarn, Rumänien, Moldawien und in die Slowakei.

Weil Männer zwischen 18 und 60 zum Kriegsdienst verpflichtet sind, handelt es sich vor allem um Frauen, Kinder und ältere Männer. Nach Angaben der UNO-Organisation für Migration (IOM) befinden sich gut 100.000 Menschen aus Drittstaaten unter den Schutzsuchenden, oftmals handelt es sich um Studierende oder bereits zuvor Geflüchtete. Nach Angaben der Kinderrechtsorganisation Save the Children flohen geschätzt 800.000 Kinder aus der Ukraine, immer mehr würden zudem ohne Familie ankommen.

Flüchtlingsankünfte seit dem 24. Februar 2022, Stand 8. März

Menschen ohne Netzwerk

UNHCR-Chef Filippo Grandi warnte am Dienstag davor, dass die Menschen der zweiten Fluchtbewegung aus der Ukraine mehr Hilfe brauchen würden als jene der ersten. „Wenn der Krieg weitergeht, werden wir es mit Menschen zu tun haben, die weder Ressourcen noch Verbindungen ins Ausland haben“, so der UNHCR-Chef. Damit werde die Situation in den europäischen Ländern schwieriger, noch mehr Solidarität in Europa und anderen Gegenden werde nötig sein.

Flüchtlinge vor der Abfahrt in der Ukraine
Reuters/Kai Pfaffenbach
Menschen in der westukrainischen Stadt Lwiw warten auf Züge ins Ausland

Grandi lobte am Dienstag grundsätzlich die bisherige Aufnahmebereitschaft von europäischen Staaten, besonders von Ukraines Nachbarn wie Polen und Moldau. „Die Reaktion Europas ist bemerkenswert“, sagte der UNO-Diplomat. „Es ist jedoch unbedingt notwendig, dass die internationale Gemeinschaft viel mehr Unterstützung für die Flüchtlichtshilfe und die Gastgeber leistet“, sagte Grandi und forderte Länder in und außerhalb Europas zu stärkerem Engagement auf. Moldau, eines der wirtschaftlich schwächsten Länder Europas, brauche jetzt besonders viel Hilfe.

Polen als Knotenpunkt

Noch bleibt das Nachbarland Polen der wichtigste Ort für die Flucht. Viele Menschen wollen auch dort bleiben, nicht zuletzt, weil sie private oder berufliche Verbindungen in das Land haben. Seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts im Jahr 2014 gibt es dort auch wieder größere Gemeinden, seither sind rund 200.000 Menschen aus der Ukraine nach Polen gezogen. Die Solidarität mit den nun Ankommenden ist derzeit groß.

Polen: Zwischen Angst und Hilfsbereitschaft

Über eine Million Menschen sind aus der Ukraine nach Polen geflüchtet. Die Hilfsbereitschaft ist groß, aber auch die Angst vor dem Krieg im Nachbarland.

Die polnischen Grenzübergänge und Bahnhöfe sind weiterhin überfüllt, viele freiwillige Helferinnen und Helfer sind dort seit Tagen im Einsatz. Sie stellen auch zahlreiche private Unterkünfte. Die Strukturen in der staatlichen Flüchtlingshilfe wurden angesichts der restriktiven polnischen Linie in Sachen Migration und Flucht in den vergangenen Jahren hingegen stark eingeschränkt. Die Regierung hat aber ein rasches Gesetzespaket angekündigt, das den Menschen eine schnelle Aufenthaltsgenehmigung, Arbeitserlaubnis und Zugang zum Gesundheitssystem sichern soll, Kinder sollen schnell in Schulen.

Flüchtlinge nach dem Überqueren der Grenze zu Polen
Reuters/Fabrizio Bensch
Schutzsuchende beim polnischen Grenzübergang Medyka

Bedeutend weniger Menschen sind bisher in den anderen Nachbarländern angekommen. Rund 180.000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind etwa bisher nach Ungarn geflüchtet. Wie viele bleiben wollen, ist unklar. Bei der Mehrheit der Menschen soll es sich um ungarnstämmige Staatsbürger aus der ukrainischen Region Transkarpatien handeln, wo geschätzte 150.000 Angehörige der ungarischen Minderheit leben. Auch Ungarn rechnet mit wesentlich mehr Ankünften, ebenso Tschechien.

Hohe Mobilität möglich

Jedenfalls wird bereits jetzt appelliert, an die langfristige Versorgung der Schutzsuchenden zu denken. Flüchtlingsorganisationen forderten eine rasche Umsetzung der kürzlich beschlossenen EU-Richtlinie für eine unbürokratische und schnelle Aufnahme in nationales Recht. Vor allem das Thema Unterbringung stehe im Fokus. Auch andere Staaten seien gefordert. In die Kritik geriet zuletzt etwa Großbritannien, das bisher lediglich 300 Visa für Geflüchtete aus der Ukraine ausgestellt hat. Insgesamt gibt es fast 18.000 Anträge von Menschen, die Angehörige in Großbritannien haben.

Laut der Organisation International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) ist davon auszugehen, dass sich die Geflüchteten aus der Ukraine langfristig auch in Europa verteilen werden. Die größten ukrainischen Communitys gibt es in Polen, Italien, Tschechien, Spanien und Deutschland – Visafreiheit innerhalb der EU könnte dafür sorgen, dass hier bestehende Verbindungen genutzt werden. Die Menschen in der Ukraine gelten als sehr mobil, rund ein Viertel berichtete 2018 in Erhebungen, dass ein Familienmitglied oder man selbst bereits im Ausland gearbeitet habe.

Relativ wenige Ankünfte in Deutschland und Österreich

Noch konzentriert sich die Fluchtbewegung auf die unmittelbaren Nachbarstaaten. Deutschland etwa meldete bisher lediglich 64.400 Ankünfte. Aber auch dort steigt die Zahl der Menschen stark, am Montag waren noch 50.000 Personen verzeichnet worden. Ein großer Teil der Flüchtlinge kam bisher in Berlin an, dort wird auf eine bessere Verteilung auf andere Bundesländer gepocht.

Ankunft eines Zuges mit Flüchtlingen am Bahnhof von Berlin
Reuters/Lisi Niesner
Unter den Geflüchteten befinden sich zahlreiche Kinder

Für Österreich meldete das Innenministerium am Montag bisher 45.000 Grenzübertritte, allerdings wollen 75 Prozent bis 80 Prozent der Menschen weiterreisen. Der Aufbau von Notunterkünften ist in den Bundesländern trotzdem voll angelaufen. In der Steiermark etwa sind bereits mehrere hundert Flüchtlinge aus der Ukraine eingetroffen. In Graz öffnet die Bundesbetreuungsagentur ein bestehendes Großquartier, zusätzlich stehen 3.000 Privatunterkünfte bereit – mehr dazu in steiermark.ORF.at.

Aufbau von Notunterkünften läuft

Auch Niederösterreich richtet Ankunftszentren für Flüchtlinge ein. Diese sollen als Überbrückungsquartiere fungieren, bis Menschen auf andere Unterkünfte verteilt werden – mehr dazu in noe.ORF.at. Die Ankunft der Flüchtenden in Österreich konzentriert sich derzeit aber vor allem auf Wien, wo sich der Hauptbahnhof als Hotspot erwiesen hat. Er fungiert vorerst vor allem als Transitstation für Weiterreisen und Beratung. Eine Anlaufstelle für die erste Nothilfe wurde im Austria Center eingerichtet – mehr dazu in wien.ORF.at.