Proteste in Cherson
EVN
Bevölkerung trotzt russicher Armee

Friedliche Proteste als Problem für Besatzer

So unklar die Lage angesichts von unüberprüfbaren Angaben der beiden Kriegsparteien ist – eines ist wohl klar: Russland hat nicht mit einem derart ausdauernden militärischen und politischen Widerstand der Ukraine gerechnet. Dazu kommt der Widerstand der Zivilbevölkerung in jenen Städten, die die russische Armee bisher erobert hat.

Die friedlichen Proteste, bei denen sich Menschen teils einzeln Panzern entgegenstellen, sind für Russland auf der symbolischen Ebene verheerend. Die Bilder von Demos etwa in Cherson, Melitopol und Berdjansk zeigen oft Hunderte Menschen, die vor russischen Panzern ukrainische Fahnen schwingen und die Nationalhymne singen. Videos von den Protesten machen seit Tagen die Runde in sozialen Netzwerken.

Vor allem im Süden des Landes leisten die Menschen friedlich Widerstand. Sie demonstrieren in zahlreichen Städten und auch kleineren Orten gegen die Besatzer.

Demonstration in Cherson

In der ukrainischen Stadt Cherson haben etwa am Dienstag erneut zahlreiche Menschen gegen die russische Besatzungsmacht demonstriert. Sie trugen eine lange ukrainische Flagge durch die Stadt, während russische Panzer an ihnen vorbeifuhren.

Appelle von Selenski

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski rief die Bevölkerung wiederholt zu Protesten und Widerstand auf. „Alle die können, müssen ihre Stadt verteidigen. Müssen. Denn wenn alle flüchten, wessen Stadt wird es sein?“

Es kursieren auch einige Videos, in denen noch funktionierende Panzer und andere Fahrzeuge der russischen Invasoren von Ukrainern mit Traktoren abgeschleppt und weggebracht werden. Außerdem wurden in vielen Teilen des Landes auch Verkehrsschilder abmontiert, um vorrückenden russischen Truppen die Orientierung zu erschweren.

Dokumentation als Widerstand

Außerdem gibt es viele Initiativen, die versuchen, mutmaßliche russische Kriegsverbrechen in der Ukraine zu erfassen, zu sammeln und zu dokumentieren. Der Internationale Strafgerichtshof hat bekanntlich bereits Ermittlungen gestartet. So haben sich etwa auch Filmemacherinnen und Filmemacher in der Ukraine organisiert, um den Krieg zu dokumentieren. Die proukrainische Website Euromaidanpress.com wiederum sammelt Videos von Protesten der Zivilbevölkerung.

Russische Truppen – noch – zurückhaltend

Bisher verhalten sich die russischen Truppen großteils zurückhaltend. Nur vereinzelt wurde bisher von Schüssen auf Protestierende berichtet. Unklar ist, ob diese Zurückhaltung von oben vorgegeben ist oder ob die Soldaten aus eigenem Antrieb oder Skrupel nicht auf Zivilisten schießen.

Die meisten Fachleute im Westen befürchten freilich, dass Russland seine Angriffe auf zivile Ziele – bisher durch Artilleriebeschuss aus der Distanz, nicht im Nahkampf – noch deutlich verstärken wird. Bereits in den letzten Tagen wurden in mehreren Städten, insbesondere Charkiw, Mariupol und Irpin bei Kiew, gezielt Wohngebäude und – laut WHO – auch mindestens 18 medizinische Einrichtungen beschossen. Ziel ist es offenbar, die Zivilbevölkerung zu demoralisieren und möglichst viele in die Flucht zu treiben.

Proteste in Cherson
Reuters
Zivilisten stellen sich russischen Soldaten entgegen

Grosny als doppelte Warnung

Als Extrembeispiel dieser Taktik gilt das russische Vorgehen in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Der brutale Militäreinsatz dort im zweiten Tschetschenien-Krieg, den Wladimir Putin als Ministerpräsident anfing und der ihm die Macht als Präsident sicherte, richtete sich in weiten Teilen direkt gegen die Zivilbevölkerung. Grosny wurde völlig zerbombt, um den Widerstand zu brechen.

Die eigentliche militärische Phase des Krieges dauerte vom 1. Oktober 1999 bis zum Frühjahr 2000. Der weitere Verlauf des Tschetschenien-Krieges freilich dürfte Putin auch als warnendes Beispiel dienen für das, was ihm in der Ukraine drohen könnte. Denn den Krieg in Tschetschenien konnte Putin erst neun Jahre später für beendet erklären: Die tschetschenischen Rebellen gingen in den Untergrund und verlegten sich auf eine Guerillataktik mit überfallsartigen Angriffen und Anschlägen in Gruppen von maximal 50 Mann. Erstmals traten in dem Krieg Frauen als Selbstmordattentäterinnen in Erscheinung.

Die Ukraine zu erobern dürfte, so die weitgehend übereinstimmende Einschätzung von Fachleuten, für Russland angesichts der militärischen Überlegenheit längerfristig kein Problem sein. Aber die eroberten Gebiete auch zu halten würde ungleich schwieriger werden. Auch dafür ist der sich formierende friedliche zivile Ungehorsam wohl ein warnendes Signal.