Fahnen vor dem Schloss Versailles
Reuters/Sarah Meyssonnier
EU-Gipfel

Kein Importstopp für russisches Gas und Öl

Nach dem ersten Tag des zweitägigen EU-Gipfels im französischen Versailles zeichnet sich ab, dass zwei zentralen Forderungen, die im Vorfeld gestellt wurden, wohl eine Absage erteilt wird: Weder soll es zu einem sofortigen EU-Importstopp für russisches Gas und Öl kommen noch zu einem schnellen EU-Beitritt der Ukraine. In der EU selbst will man nichts Geringeres, als die Weichen neu zu stellen und mehr in Energieunabhängigkeit sowie Verteidigung zu investieren.

Die EU wird laut dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban russisches Gas oder Öl nicht mit Sanktionen belegen. Die Entscheidung zu dem wichtigsten Thema sei gut ausgefallen. „Es wird keine Sanktionen auf Gas oder Öl geben, die Energielieferung an Ungarn ist also sicher“, sagte Orban in einem Video, das auf seiner Facebook-Seite gepostet wurde.

Der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, verteidigte den bisherigen Verzicht auf einen kompletten Stopp russischer Energieimporte. Zwar lägen jetzt alle Optionen auf dem Tisch, sagte er am Freitag im Deutschlandfunk. „Aber wir müssen noch die Möglichkeit haben, weitere Sanktionen zu treffen. Der Krieg hat jetzt wirklich barbarische Formen angenommen.“ Wenn etwa Krankenhäuser bombardiert würden, müsse es noch die Möglichkeit weiterer Verschärfungen geben.

Staatsoberhäupter beim Gipfeltreffen in Versaille
APA/AFP/Ludovic Marin
Die 27 Staats- und Regierungsspitzen trafen sich, um über die Folgen des Ukraine-Krieges zu beraten

Unterschiedliche Ansichten über „Verantwortung“

In dem Entwurf der Gipfelerklärung heißt es: „Der russische Angriffskrieg stellt eine tektonische Verschiebung in der europäischen Geschichte dar. Bei unserem Treffen in Versailles haben wir erörtert, wie die EU ihrer Verantwortung in dieser neuen Realität gerecht werden kann, um unsere Bürger, Werte, Demokratien und unser europäisches Modell zu schützen.“ Darüber, was diese Verantwortung genau bedeutet, gehen innerhalb der EU die Meinungen aber auseinander.

So soll die Abhängigkeit von russischen Gas-, Öl- und Kohleimporten zwar schrittweise abgebaut werden, zu einem vollständigen Energieembargo, wie es bereits die USA und Großbritannien verhängten, soll es aber nicht kommen. Da Russland seinen Krieg großteils über seine Erdgas- und Öllieferungen an Europa finanziert, wurden im Vorfeld des Gipfels Rufe nach einem Importstopp laut – sowohl aus der Ukraine selbst als auch von EU-Mitgliedsstaaten wie Polen, Litauen und Lettland.

EU berät über neue Sanktionen

Auf einem Sondergipfel im französischen Versailles beraten die Staats- und Regierungschefs der EU über den Krieg in der Ukraine. Weitere Sanktionen gegen Russland stehen im Raum.

Appell: „Alles tun, um Putin zu stoppen“

Der lettische Regierungschef Krisjanis Karins rief die EU zu furchtlosen Schritten auf: „Wir sollten Energieimporte aus Russland stoppen, um (Präsident Wladimir, Anm.) Putin an den Verhandlungstisch zu bringen“, sagte Karins. Die Europäer müssten alles tun, „um Putin und seinen Neo-Imperialismus zu stoppen“.

Ähnlich äußerte sich die finnische Premierministerin Sanna Marin: „Es ist eine sehr schwierige Situation. Auf der einen Seite haben wir diese sehr harten finanziellen Sanktionen, aber auf der anderen Seite unterstützen und finanzieren wir Russlands Krieg, indem wir Öl, Gas und andere fossile Brennstoffe von Russland kaufen.“ Man müsse „so schnell wie möglich“ von russischen Energieimporten unabhängig werden.

Während Befürworter also auf starke Sanktionen drängen, verweisen Kritiker der Maßnahme wie Deutschland und Österreich auf negative Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit und auf die jetzt schon hohen Energiepreise.

Nehammer: Ausstieg „braucht Zeit“

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) etwa verwies Donnerstagnacht darauf, dass Österreich derzeit noch auf russisches Gas angewiesen sei. „Das wollen wir verändern, aber das braucht Zeit“, so Nehammer. Die Union sei hier gefordert, Diversifizierung der Energielieferungen sicherzustellen. Wichtig sei zudem, nun Gas einzuspeichern, um für den nächsten Winter vorzusorgen.

Sowohl die Energiekosten als auch generell die Preissteigerungen nehme man „sehr ernst“, die Lage beobachte man „genau“. Man sei wieder in einer Krise angelangt, das heißt, „wir müssen in den Krisenmodus gehen und ausloten, was wir auf einer europäischen und einer nationalstaatlichen Ebene tun“, so Nehammer.

Von der Leyen sieht EU am „Scheidepunkt“

Für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron gehe es bei der Frage der Energieversorgung um eine strategische Weichenstellung. Europa müsse sich auf alle Szenarien einstellen, zeigte sich Macron „besorgt und pessimistisch“. Die Frage sei, wie schnell die Abhängigkeit von Gas und Öl aus Russland verringert werden kann, sagte er vor Beginn des Gipfels. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte vorab, die EU sei an einem „Scheidepunkt“. Die Europäer müssten ihre Abhängigkeit von russischen fossilen Energieträgern wie Erdgas, Öl und Kohle beenden.

Im Moment noch stärker von russischem Gas abhängigen Ländern müsse Macron zufolge geholfen werden, nötig sei europäische Solidarität. Zur Debatte steht hierbei ein neuer EU-Hilfsfonds nach dem Vorbild des Coronavirus-Wiederaufbaufonds. Durch ein schuldenfinanziertes Unterstützungsprogramm solle nicht nur die Energieversorgungssicherheit, sondern auch die europäische Verteidigung gestärkt werden. Nehammer zeigte sich einem solchen Investitionspaket gegenüber offen: „In einer Krise ist es immer notwendig, gegen die Krise zu investieren.“ Investitionen seien nun „notwendig und wichtig“ – auch müsse man sie gemeinschaftlich durchführen.

Frankreichs Emmanuel Macron und Bundeskanzler Karl Nehammer
APA/AFP/Ludovic Marin
Macron empfängt Nehammer im Schloss Versailles

Ukraine im EU-Wartezimmer

Die Hoffnung auf einen schnellen EU-Beitritt der Ukraine wurde unterdessen gedämpft. Zwar verlangten vor allem östliche EU-Staaten wie Polen und Slowenien eine umgehende Beitrittsperspektive, der Großteil der Mitgliedsstaaten zeigte sich jedoch skeptisch. Es sei ein klar geregeltes Verfahren, dem man nicht vorgreifen wolle, so die Argumentation.

Nehammer etwa unterstrich, dass man die Ukraine unterstützen werde, gleichzeitig herrsche allerdings eben Klarheit, dass es sich bei der Aufnahme um einen „langen Prozess“ handle. Was die Ukraine jetzt brauche, sei Solidarität, Partnerschaft und humanitäre Hilfe, so Nehammer, der den Widerstand der Ukraine als „bewundernswert“ lobte. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sprach ebenso von einem langen Prozess, die Vertiefung der Beziehungen zur Ukraine werde aber schnell kommen.

Macron betonte vorab, die EU sollte ein Signal senden, müsse aber dabei genau abwägen. „Können wir heute einen Beitrittsprozess mit einem Land eröffnen, das sich im Krieg befindet? Das glaube ich nicht. Sollten wir die Türe zuschlagen und sagen: niemals? Das wäre ungerecht.“ Europa müsse nun sehen, wie es sich geografisch neu definiere. „Die Architektur Europas wird sich verändern.“

„Teil unserer europäischen Familie“

Von der Leyen formulierte vage: „Wir werden sicher auch über die Ukraine als Teil unserer europäischen Familie diskutieren.“ Man wolle eine freie und demokratische Ukraine, mit der man ein gemeinsames Schicksal teile.

Die Nachrichtenagentur AP schreibt dazu: „Es wird erwartet, dass sich die Staats- und Regierungschefs der EU bestenfalls auf eine Formulierung einigen werden, die den ukrainischen Beitrittsantrag zur europäischen Familie unterstützt“ – in den Prozess weiter eingegriffen soll aber nicht werden. Neben der Ukraine stellten auch Moldawien und Georgien einen Beitrittsantrag.

Französische Flagge über Versailles mit EU-Sternen
AP/Michel Euler
Im Innenhof des Prunkschlosses wehte die französische Flagge, dahinter die europäische, deren Sterne durch die Trikolore schimmerten

Debatte über höhere Ausgaben für Verteidigung

Am zweiten Gipfeltag wollen die EU-Staats- und -Regierungsspitzen auch darüber sprechen, wie sie ihre Verteidigungskooperation verbessern können. „Wir diskutieren die Dringlichkeit, mehr für Verteidigung auszugeben, bei Verteidigung besser zu kooperieren“, sagte der niederländische Premier Rutte. „Bei mehr Investitionen in unsere Verteidigung bin ich absolut einverstanden“, so der belgische Premier Alexander De Croo. „Ich glaube, alle sind sich einig, dass sich die Dinge seit dem 24. Februar geändert haben“, sagte die estnische Regierungschefin Kaja Kallas.

Unterdessen will die EU nach Angaben ihres Außenbeauftragten Josep Borrell ihre Militärhilfe für die Ukraine verdoppeln. Die EU-Kommission habe daher vorgeschlagen, weitere 500 Millionen Euro bereitzustellen, sagte Borrell am Rande des zweiten Tages des EU-Sondergipfels.

Weitere Sanktionen, „falls nötig“

Am Freitag endet der Sondergipfel. Am frühen Nachmittag wollen die Staats- und Regierungschef die Gipfelerklärung bekanntgeben. Eine Hintertür in der Konfrontation mit Russland scheint man sich in der EU dennoch offenhalten zu wollen. Neben den vier bisher geschlossenen Sanktionspaketen heißt es in einem Entwurf für die Ukraine-Erklärung, man sei bereit, „schnell zu agieren mit weiteren Sanktionen, falls nötig“. Außenbeauftragter Borrell bekräftigte am Freitag, die EU erwäge weitere Sanktionen gegen russische Oligarchen und die russische Wirtschaft.

Nehammer verwies auf die bereits in Kraft getretenen Sanktionen, die derzeit evaluiert würden. Deren Wirksamkeit sei sichtbar: Man sehe, wie der Rubel verfalle, die Inflation steige und der Druck auf die russische Wirtschaft spürbar werde. Gleichzeitig sei es notwendig, weiterhin das „Gespräch zu suchen und Dialogbrücken zu bauen“, so Nehammer.

Selenski fordert von EU mehr Unterstützung

Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenski forderte indes die EU auf, mehr für sein Land zu tun. „Man muss stärker vorgehen. Das ist nicht das, was wir erwarten“, sagte Selenski am Freitag in einem über Telegram veröffentlichten Video. „Die Entscheidungen der Politiker müssen mit der Stimmung unserer Völker, der europäischen Völker übereinstimmen“, sagte der ukrainische Präsident. „Die Europäische Union muss mehr für uns tun, für die Ukraine.“