Szene aus dem Film „Petit Maman“
Alamode Film
„Petite Maman"

Märchenhafte Reise in die Vergangenheit

Schon seit Jahren gilt sie als eine der wichtigsten Regisseurinnen des europäischen Independent-Films: Celine Sciamma. Mit „Petite Maman“ startet nun ein neues Werk der Französin im Kino. Darin erzählt sie eine höchst fantasievolle, märchenhafte Geschichte über Kindheit, Verlust und eine magische Mutter-Tochter-Beziehung.

In Ingmar Bergmans „Das siebente Siegel“ kommt der Tod leibhaftig zu Besuch: Ein buchstäblicher Sensenmann wird da zur Schachpartie geladen, in der nichts weniger als das Leben auf dem Spiel steht. Bergmans Schlüsselwerk (1957) ist nur einer von vielen Filmen, die aus dem Tod eine eigene Figur machten. Anders in „Petite Maman – Als wir Kinder waren“: Der Tod ist im fünften Film der Französin Sciamma zwar nicht sichtbar, aber dennoch omnipräsent.

Die Geschichte handelt von einer achtjährigen Protagonistin, die versucht, damit umzugehen, dass die geliebte Großmutter verstorben ist. „Petite Maman“ widmet sich dem Thema Verlust auf äußerst sensible Weise und ist zudem eine einfühlsame Erzählung über eine Mutter-Tochter-Beziehung geworden. Dass der Fokus des Films dabei weniger auf dem Tod selbst, sondern auf den Folgen für die Hinterblieben liegt, erschließt sich schon in der Anfangssequenz.

Die kindliche Protagonistin Nelly (Josephine Sanz) grüßt freundlich die Bewohnerinnen und Bewohner eines Alten- und Pflegeheims und wird zurückgegrüßt, sie klappert Zimmer um Zimmer ab, ehe sie zum Raum gelangt, in dem ihre Großmutter ihre letzten Lebensjahre verbrachte. Dort steht nun nur noch ein unbelegtes Krankenbett, ein allzu deutliches Symbol für die Leere, die der Verlust hinterlässt.

Szene aus dem Film „Petit Maman“
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Nelly (Josephine Sanz) und ihr Vater (Stephane Varupenne) im großmütterlichen Haus, das vollgepackt ist mit Erinnerungen

Erinnerungen im Großmutterhaus

Kurz nach dem Besuch im Alten- und Pflegeheim fährt das Einzelkind Nelly gemeinsam mit ihren Eltern zum einstigen Wohnhaus der Großmutter, in dem auch ihre Mutter Marion (Nina Meurisse) aufwuchs. Eigentlich soll das Haus einfach ausgeräumt werden; einen langen Aufenthalt plant die Familie nicht ein.

Doch Nelly ist neugierig, stöbert in Schränken, schwelgt gemeinsam mit ihrer Mutter in alten Heften, die Marion in ihrem ehemaligen Elternhaus wiederfindet. Nelly möchte mehr wissen über Marions Kindheit und ihre Beziehung zur Großmutter. Die Achtjährige liebte ihre Oma sehr und sorgt sich, ob sie selbst sich auch ordentlich von ihr verabschiedet habe.

Auch Nellys Mutter belastet der Verlust der eigenen Mutter, die nach langer Krankheit – einer Erbkrankheit, wie sich herausstellt – verstarb, sichtlich. Völlig unvermittelt verlässt sie schließlich eines Nachts das Haus. Nelly bleibt gemeinsam mit ihrem Vater (Stephane Varupenne) zurück; zusammen wollen sie das Haus alsbald auf- und ausräumen.

Freundin aus dem Wald

Als eines Tages Nelly in den angrenzenden Wald spaziert, in dem ihre Mutter als Kind selbst spielte und eine Hütte baute, geht der Film erst so richtig los: Nelly stößt im grünen Dickicht auf ein Mädchen, das sie bittet, ihr beim Schleppen eines großen Astes zu helfen, eine Abenteuerwaldhütte soll aufgebaut werden. Die beiden Gleichaltrigen freunden sich prompt an, und auch der Name des Mädchens ist leicht zu merken: Sie heißt Marion, genau wie Nellys Mutter.

Szene aus dem Film „Petit Maman“
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Gemeinsames Hüttenbauen lässt das Eis zwischen Nelly und Marion brechen

Marion lädt Nelly zu sich nach Hause ein, in ein Haus, das dem großmütterlichen geradezu gleicht, wo Nelly schließlich auch Marions Mama kennenlernt, die an einer Krankheit zu leiden scheint. Dass die beiden Mädchen sich zum Verwechseln ähnlich schauen, ist natürlich kein Zufall, wie sich schnell herausstellen wird.

Die Freundschaft mit Marion hilft Nelly jedenfalls, ihre eigene Trauer zu verstehen. Und die ihr seltsam bekannt vorkommenden Erzählungen der Familie hört sie sich mit großem Interesse an. Gespielt werden Nelly und Marion übrigens von den Zwillingsschwestern Josephine und Gabrielle Sanz, die hier in ihrer ersten Rolle zu sehen sind.

Chronistin der Kindheit und Jugend

Bereits bei ihren vorherigen Filmen war Sciamma Regisseurin und Drehbuchautorin in Personalunion; für Werke anderer Regisseure, wie etwa dem Oscar-nominierten Animationsfilm „Mein Leben als Zucchini“ lieferte sie ebenfalls das Drehbuch. Was nun auch für „Petite Maman“ gilt – in dem Sciamma einmal mehr ihre Leitthemen Kindheit und Jugend in den Vordergrund stellt.

Nur in dem vielfach ausgezeichneten „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, mit dem sie 2019 für Furore sorgte, setzte sie auf erwachsene Protagonistinnen und erzählte aus der Perspektive eines viel gelobten „Female gaze“ von einer tragischen Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen im 18. Jahrhundert.

Anleihen an „Tomboy“

In ihrem Debüt „Water Lillies“ (2007) waren es hingegen bereits drei Teenagerinnen und ihre Beschäftigung mit der aufkeimenden Sexualität, die ihren Film bevölkerten. Im Zentrum des Dramas „Girlhood“ (2014), das Themen wie Klasse verhandelte, stand wiederum eine schwarze Teenagerclique in einem Pariser Vorort.

Und ebenfalls ein Coming-of-Age-Film – diesmal rund um das Thema Geschlechtsidentitäten – war „Tomboy“, der, 2011 gedreht, wahrscheinlich am ehesten an „Petite Maman“ erinnert: Ähnlich wie bei ihrem neuen Film stand auch hier eine Protagonistin im Zentrum, die sich an einem neuen Ort zurechtfinden muss, Freundschaften knüpft und in eine Art magische, neue Welt eintaucht, in der sie entscheidende Eindrücke sammelt.

Magischer Realismus

In „Petite Maman“ packt Sciamma die filmische Trauerbewältigung in ein höchst gelungenes, fantastisches Gewand: Die in satte Herbstfarben getränkten Bilder der Kamerafrau Claire Mathon, mit der Sciamma bereits bei „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ zusammenarbeitete, untermalen perfekt die traumhafte Stimmung des Films, der in seiner Erzählweise Anleihen beim Magischen Realismus nimmt. Obwohl der Film merklich im Realismus des europäischen Independent-Kinos verhaftet ist, weist er ebenso Wendungen auf, die wie in einem Science-Fiction-Märchen daherkommen.

Auch wenn „Petite Maman“ eine eher schlanke Laufzeit von 72 Minuten aufweist, fehlt es an nichts. Besonders gelungen ist die rührende Auflösung, die diese Geschichte über wiedergefundene Erinnerungen, über familiären Zusammenhalt und über Verlustbewältigung zu einem bewegenden Gesamtkunstwerk macht – und über die aber natürlich nichts verraten werden soll.

Bei all der Trauer ist es auch eine Qualität des Films, Raum für Momente der schieren Glückseligkeit zu lassen, etwa wenn die beiden Mädchen gemeinsam Crepes backen und dabei einen Heidenspaß haben. Die Kamera ist dabei stets auf Augenhöhe der Kinder angesiedelt – ein schöner, inszenatorischer Kniff des Films.

Film voller kindlicher Fantasie

Sciamma ist mit „Petite Maman“, der bereits letztes Jahr auf der Viennale zu sehen war, wieder einmal ein überaus menschlicher und äußerst ergreifender Film gelungen, der ihren Status als eine der wichtigsten europäischen Autorenfilmerinnen weiter untermauern dürfte. Die sentimental-märchenhafte Erzählung schafft es, gelungen mit dem kindlichen Fantasiereichtum zu spielen und das Thema Trauerbewältigung unter einem ungewöhnlichen, aber umso ergreifenderen Blickwinkel zu beleuchten.