Charles Michel, Emmanuel Macron und Ursula von der Leyen
AP/Michel Euler
EU-Gipfel

„Geburt eines Europas der Verteidigung“

Am Freitag ist der zweitägige EU-Gipfel im französischen Versailles zu Ende gegangen. Die 27 Staats- und Regierungsspitzen beschlossen weitere Schritte, um den Folgen des Ukraine-Krieges zu begegnen und Europa neu aufzustellen – vor allem in den Bereichen Energieversorgung und Verteidigung. Russland gegenüber soll es neue Sanktionen geben. Die Ukraine bittet man unterdessen ins EU-Beitrittswartezimmer.

„Vor zwei Wochen hat Russland den Krieg zurück nach Europa gebracht.“ So lautet der erste Satz der „Versailles Deklaration“. Die russische Invasion stelle einen Wendepunkt in der Geschichte Europas dar, nun müsse man die Weichen neu stellen, so der Tenor. Der französische Präsident Emmanuel Macron etwa sprach von einer „Wende für unsere Gesellschaft, unsere Völker und unser europäisches Projekt“. Auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sieht eine Zeitenwende: „Dieser Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass es notwendig ist, in ganz wesentlichen Fragen noch enger zusammenzurücken als Europäische Union.“

Michel sagte: „Vor zwei Wochen sind wir in einer neuen Welt, in einem neuen Europa erwacht. Vieles ist in den letzten Tagen geschehen. Das weist alles auf die Geburt eines Europas der Verteidigung hin, die ins Leben gerufen werden muss.“ Hierbei bedürfe es nicht nur höherer Investitionen, sondern auch einer besseren Kooperation unter den Mitgliedsstaaten.

EU-Gipfel in Versailles
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Für zwei Tage kamen die 27 Staats- und Regierungsspitzen zu einem Sondertreffen im geschichtsträchtigen Schloss Versailles zusammen

Erhöhung der Verteidigungsausgaben

Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zufolge habe „Putins Krieg“ das Sicherheitsumfeld in Europa „fundamental“ geändert: „Um Europa zu verteidigen, brauchen wir viel mehr Rüstungs- und Verteidigungsinvestitionen.“ Sie zeigte sich „froh“ darüber, dass einige Staaten bereits eine Aufstockung angekündigt hätten, forderte zugleich aber einen „koordinierten Ansatz“.

Man habe sich deswegen auf eine substanzielle Erhöhung der Verteidigungsausgaben geeinigt. Zudem sollten Anreize für gemeinsame Investitionen entwickelt werden. Die EU soll demnach in die Lage versetzt werden, das gesamte Spektrum von Missionen und Operationen durchzuführen. Bisher gilt sie vor allem bei größeren Einsätzen als abhängig von den USA.

Ausstieg aus russischer Energieabhängigkeit bis 2027

Souveränität und Autonomie müsse jedoch auch im wirtschaftlichen Bereich aufgebaut werden. Ob bei Nahrungsmitteln, Gesundheitsprodukten oder kritischen Rohstoffen – es gelte, die „wirtschaftliche Basis robuster und resilienter zu gestalten“, so Michel. Vor allem aber bei der Energieversorgung sei das vorrangig. So soll die Abhängigkeit von russischen Gas-, Öl- und Kohleimporten zwar schrittweise abgebaut werden, zu einem vollständigen Energieembargo, wie es bereits die USA und Großbritannien verhängten, soll es aber nicht kommen.

Da Russland seinen Krieg großteils über seine Erdgas- und Öllieferungen an Europa finanziert, wurden im Vorfeld des Gipfels Rufe nach einem Importstopp laut – sowohl aus der Ukraine selbst als auch von EU-Mitgliedsstaaten wie Polen, Litauen und Lettland. Während Befürworter also auf starke Sanktionen drängen, wurde die Absage an ein sofortiges Embargo mit negativen Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit sowie auf die jetzt schon hohen Energiepreise argumentiert.

Von der Leyen verwies auf den „Repower-EU“-Plan, der eine Energieunabhängigkeit bis 2027 als Ziel hat. Einerseits durch den Ausbau in erneuerbare Energien und Kernkraft, andererseits durch die Diversifikation der Energieversorger. Der konkrete Vorschlag soll im Mai vorgelegt werden. Für den kommenden Winter will die Kommission zudem einen Wiederauffüllplan für die Gasspeicher erstellen.

Karl Nehmammer und Emmanuel Macron
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Nehammer und Macron gemeinsam in Versailles

Hilfe für Ukraine, aber nicht in Form von EU-Beitritt

Unterdessen soll die Militärhilfe für die Ukraine verdoppelt werden. Die EU werde weitere 500 Millionen Euro für die Lieferung von Waffen und Ausrüstung an die ukrainischen Streitkräfte zur Verfügung stellen, kündigte Michel an. Österreich als neutraler Staat werde diese Entscheidung zwar nicht verhindern, ihr aber auch nicht zustimmen und daher ein „konstruktives Veto“ einlegen, meinte Nehammer dazu.

Was einen schnellen EU-Beitritt betrifft, wie er im Vorfeld nicht nur von der Ukraine, sondern auch von einigen EU-Mitgliedsstaaten gefordert wurde, so kam eine klare Absage. Es sei ein geregeltes und langes Verfahren, dem man nicht vorgreifen wolle, so die Argumentation. Dennoch sei die Ukraine „Teil der europäischen Familie“, dessen Mut man bewundere. Die Kommission sei jedoch beauftragt, sich mit den Anträgen zu beschäftigen. Neben der Ukraine stellen auch Georgien und Moldawien ein Beitrittsgesuch.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski zeigte sich unterdessen enttäuscht über die Absage: „Die Europäische Union sollte mehr tun. Sollte mehr tun für uns, für die Ukraine. Und für sich. Wir erwarten das. Alle Europäer erwarten das“, sagte er in einer Videobotschaft.

Staats- und Regierungschefs am EU-Gipfel
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Geschlossen will man Russland entgegentreten – die Ukraine sieht man als Teil der „europäischen Familie“

Von der Leyen spricht von neuen Sanktionen

Russland gegenüber kündigte von der Leyen neue Sanktionen an. Mit den westlichen Partnern soll ein viertes Sanktionspaket auf den Weg gebracht werden. Neben dem Importstopp für Luxusgüter sieht das neue Sanktionspaket vor, die Einfuhr bestimmter Produkte der russischen Eisen- und Stahlindustrie zu untersagen. Das sei ein Schlag gegen einen zentralen Sektor des russischen Systems und bringe das Land um Ausfuhrerlöse in Milliardenhöhe, teilte die Kommissionspräsidentin mit.

Zudem sei ihren Angaben zufolge ein umfassendes Verbot neuer Investitionen in den gesamten russischen Energiesektor geplant, und Russland sollten handelspolitische Vergünstigungen gestrichen werden, die es eigentlich als Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) hat. Konkret soll Russland dabei der „Meistbegünstigtenstatus“ entzogen werden. Nach Angaben von der Leyens wird man sich ferner dafür einsetzen, Russlands Rechte als Mitglied in wichtigen multilateralen Finanzinstitutionen, einschließlich des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, auszusetzen.

Rückkehr zum Frieden als Ziel

All diese Maßnahmen seien getroffen worden, um Sicherheit, Wohlstand und Frieden innerhalb Europas zu garantieren. Von der Leyen fügte hinzu: „Die Zukunft der Ukraine und die Zukunft unserer Demokratie wird derzeit gestaltet. Unsere Schicksale hängen zusammen.“ Die Art und Weise, wie nun auf den Angriff Russlands geantwortet wird, bestimme nicht nur die Zukunft der Ukraine, sondern auch jene der EU und des europäischen Kontinents.

Macron meinte vorab: „Wir werden alles tun, was effizient ist und einen nützlichen Effekt hat, um Russland auf dem Weg der Aggression zu stoppen“, sagte Macron. „Wir haben gezeigt, dass wir Sanktionen treffen können und uns beschützen können.“ Man hoffe, dass die Sanktionen dazu beitrügen, den Krieg schneller zu beenden. „Unser Ziel ist die Rückkehr zum Frieden und der Rückzug der russischen Truppen.“ Zwar sei geplant, weiterhin Druck auszuüben, aber auch den Dialog zu unterstützen. Und: „Wir müssen den Mut haben, historische Entscheidungen zu treffen.“

Nehammer zufolge handle es sich bei den Sanktionen um einen schmalen Grat: „Das ist ein permanentes Abwägen, wie weit man gehen soll und wie weit man gehen muss.“ Die derzeitigen Sanktionen, die beschlossen wurden, würden aber bereits eine „sehr intensive“ Wirkung zeigen.