Schauspieler Sarah Victoria Frick und Markus Hering im Stück „Adern“
Matthias Horn
Prämierte Uraufführung

Im Akademietheater weint der Berg

Die Auswirkungen von Kriegen sind unüberschaubar. Die 27-jährige Tiroler Autorin Lisa Wentz reüssiert am Sonntag mit der Uraufführung ihres prämierten Stücks am Wiener Akademietheater. „Adern“ erzählt vom Schweigen der Nachkriegsjahre, von unmenschlichen Bedingungen im Bergbau und der Stärke einer stillen Liebe.

Acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trifft die junge Niederösterreicherin Aloisia Aigner auf dem Bahnhof in Brixlegg ein. An der Hand führt sie ihre Tochter Frieda, ein Besatzungskind, in zwei Koffern all ihr Hab und Gut. Friedas Vater ist verschwunden, Aloisias Suche nach ihm war vergeblich.

Die Heiratsannonce des verwitweten Rudolf aus Brixlegg, der selbst fünf Kinder mitbringt, hat sie und ihre Tochter nach Tirol geführt, wo sie auf einen Vater für Frieda und auf ein neues Zuhause hofft. Bald verbindet Rudolf und Aloisia das Verantwortungsgefühl für ihre Nachkommen, das unausgesprochene Einverständnis, ihnen und einander ein besseres Leben zu bieten.

Würfelzucker und Kaiserschmarrn gegen das Fremdsein

Zart fächert sich in Wentz’ Stück die Zuneigung dieses – aufs Erste so unterschiedlich wirkenden – Paares auf. Behutsam erzählt die Autorin, die bis 2017 an der Wiener Schauspielschule Elfriede Ott studierte und in Berlin aktuell szenisches Schreiben studiert, von der Sehnsucht der jungen Aloisia, die – wenn das Fremdsein und die Einsamkeit nicht mehr zu ertragen sind – sich mit drei Stück Würfelzucker und die Familie mit Kaiserschmarrn tröstet.

Schauspieler Elisa Plüss, Sarah Victoria Frick und Markus Hering im Stück „Adern“
Matthias Horn
In der Mitte: Viktoria Frick als warmherzige Aloisia, rechts: Markus Hering als Bergarbeiter Rudolf, links: Elisa Plüss als personifizierter Berg

Am Akademietheater ist Sarah Viktoria Frick als stille, warmherzige Aloisia zu sehen, eine pragmatische Frau, die über ihren Schatten springt, wenn es ums Zusammenhalten geht. Als sie sich zu Rudolf auf den Küchenboden legt, beklagt er, dass „das aber nicht gemütlich ist“. „Nein. Aber so ist das Leben halt“, antwortet sie ebenso heiter wie zielstrebig, denn es muss bald geheiratet werden. Je diffuser die sozialen und politischen Verhältnisse, umso klarer müssen die privaten sein.

In der Regie von David Bösch, dem Frick seit Beginn ihrer Karriere künstlerisch eng verbunden ist, überzeugt ihre Darstellung einer starken und zugleich verletzlichen Frau, deren innere Konflikte und deren Ringen um die Kontrolle der Gefühle stets mitschwingen. Als sie etwa einen Brief der Behörde erhält, der über den Verbleib ihres ehemaligen Geliebten, Friedas Vater, Bescheid gibt, wird sichtbar, welche Kraft es der Figur abverlangt, sich für das mutmaßlich richtige Leben zu entscheiden.

Kampfflugzeuge im Silberberg

An Aloisias Seite ist Markus Hering als Bergarbeiter Rudolf zu sehen. Dem frisch Verwitweten machen weniger Trauer um seine verstorbene Frau oder die Härte des kargen Lebens zu schaffen als die Traumatisierungen durch die mit- und am eigenen Leib erlebten NS-Verbrechen. In Alpträumen jagt ihn die Stimme eines auf dem Berg verunfallten Zwangsarbeiters: „Einer, der geht mir nimmer aus’m Kopf. Kein Schuhwerk. Kein richtiges Gewand.“

Schauspieler Sarah Victoria Frick und Markus Hering im Stück „Adern“
Matthias Horn
Tröstlicher Zusammenhalt im kargen Bühnenbild: Lisa Wentz’ prämierte Geschichte am Wiener Akademietheater

Hier dringt reale Geschichte in das Stück: Der 30 Autominuten entfernte Eiblschrofen, der aufgrund des Erz- und Silberaufkommens auch Silberberg genannt wurde, wurde von den Nazis für die Produktion von Kampfflugzeugen genutzt. In einem ehemaligen Bergwerksstollen mussten die Arbeiter unter unmenschlichen Bedingungen den Düsenjäger Messerschmitt Me 262 fertigen. Die Produktionsstätte ist auch als „Messerschmitthalle“ bekannt.

In Böschs Inszenierung lässt das (imaginierte) Sprengarbeitenecho Rudolf und seinen Kumpel Danzel auch noch Jahre nach dem Krieg aufschrecken. Waren sie an den Verbrechen selbst beteiligt oder sind sie Opfer, die nur durch Zufall überlebt haben?

Rätselhaft und voller Aussparungen bleiben die Dialoge zwischen Rudolf und Danzel, der seine Erinnerungen in Alkohol ertränkt. Dem am Burgtheater viel zu selten in anspruchsvollen Rollen besetzten Daniel Jesch gelingt eine präzise Charakterstudie dieses psychisch beschädigten Bergarbeiters, der mit aller Kraft seine Verzweiflung zu verbergen sucht.

Retzhofer Dramapreis für „Adern“

Wentz lässt vieles offen, und genau darin liegt die Stärke des Stückes, mit dem die Autorin im vergangenen Jahr den Retzhofer Dramapreis, den österreichischen Nachwuchspreis für dramatisches Schreiben, gewann. Sie arbeitet mit der Sprachlosigkeit der Figuren, ist doch das Schweigen der Angelpunkt dieses Stücks, das auch als Generationendrama gelesen werden kann.

„Euer Blut fließt in meinen Adern“, sagt Rudolfs Tochter Theres, die sich den bitteren Zorn ihres Vaters zuzieht. Nicht weil sie unehelich schwanger wird, sondern weil sie mit Mann und Kind nach Schwaz in unmittelbare Nähe zum Silberberg zieht. In den Augen des Vaters gilt es diesen aber zu meiden, denn von dort werfen nicht nur die getöteten Männer lange Schatten. Der Berg fordert weiterhin seine Opfer. Da helfen weder die heilige Barbara als Schutzpatronin der Bergleute noch der Bergmannsgruß „Glück auf!“.

Mythos Silberberg

Geht es in „Adern“ um den Berg, dann driftet das Stück allzu sehr ins Mythologische ab. Der Eiblschrofen spricht und atmet, seine Stollen sind Adern, er tropft, schwitzt und weint. Im unschuldig-weißen Kleid und mit staubigem Haar ist Elisa Plüss als personifizierter klagender Berg zu sehen, der von den Wunden erzählt, die der Mensch in sein Inneres geschlagen hat.

Das Bild des steinernen Massivs, das Opfer und Täter zugleich ist, das sich am Menschen rächt, gleitet hier bisweilen ins Esoterische ab. Auf jeden Fall aber bleibt der Berg immer derselbe, wie auch Aloisia und Rudolf, die in all den Jahren – das Stück erzählt vom Zeitraum zwischen 1953 und 1972 – nichts verändern, während der Fortschritt selbst vor den Tiroler Bergwelten keinen Halt macht.

Trotz Farbfernseher und Coca-Cola, Ferien am Wörthersee und Glockenhosen, die Aloisias selbstmitleidige Schwester Hertha (Andrea Wenzl) als neue Mode ins Dorf bringt, halten die beiden stur an ihren Werten fest. Nicht das Schlechteste, so klingt es bei Wentz an. Denn „sture Leut haben’s oft leichter“, so auch Aloisias Worte.