Flüchtlinge aus der Ukraine in Gdansk, Polen.
APA/AFP/Jonathan Nackstrand
Exodus in die EU

Was Millionen Ukraine-Flüchtlinge bedeuten

Tag für Tag steigt die Zahl jener Ukrainerinnen und Ukrainer, die aufgrund des Krieges ihre Heimat verlassen müssen und in Europa Zuflucht suchen. Bis zu zehn Millionen Flüchtlinge werden erwartet – um ein Vielfaches mehr als 2015. Die UNO spricht bereits von der größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Doch was bedeuten Millionen Flüchtlinge? Von der Verteilung bis zur Versorgung? ORF.at hat mit Fachleuten über die größten Herausforderungen – und wie sie zu bewältigen sind – gesprochen.

Wie Flucht aussieht, lässt sich derzeit in unzähligen Videos auf TikTok live mitverfolgen. Ein junges Mädchen, das auf dem Boden sitzt und seinen Rucksack packt. Raketen, die vom Himmel fallen. Tränen und Abschied vom Vater am Grenzzaun. Weiterreise in die Fremde. Freiwillige, die Sandwiches und Wasserflaschen ausgeben. Ankommen im Flüchtlingslager. Die Bilder zeigen: Hinter jeder Zahl in der Flüchtlingsstatistik stehen Menschen und ihre Geschichten.

Hanne Beirens, Direktorin des Migration Policy Institute (MPI) in Brüssel, spricht von einer „unfassbaren“ Zahl der Flüchtlinge und „enormen Geschwindigkeit“, mit der diese ankommen. Auch der Politanalyst Alberto Neidhardt vom Brüsseler European Policy Centre (EPC) sagt: „Die Zahlen und das Tempo, in der sich die Notlage entfaltet, sind beispiellos.“ Die schiere Anzahl der Geflüchteten stelle derzeit die größte Herausforderung dar, zeigen sich die Experten überzeugt.

@diana_totok

Thank you to Romania for helping Ukrainians 🇷🇴💪🇺🇦

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„Kein Land auf diese Herausforderung vorbereitet“

Die EU habe extrem schnell, stark und großzügig auf die Flüchtlingsbewegung reagiert, so der Tenor unter Fachleuten. Mit dem Inkraftsetzen der temporären Schutzrichtlinie etwa erhalten alle ukrainischen Geflüchteten von Beginn an einen rechtlichen Aufenthaltsstatus sowie EU-weit einheitliche Rechte in Bezug auf Zugang zu Wohnraum, Arbeitsmarkt und Ausbildung. Ein Prozess, der sonst Jahre dauern kann.

Richtlinie temporärer Schutz

Die „Richtlinie 2001/55/EG“ des EU-Rates vom 20. Juli 2001 setzt Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes fest und ist „im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen“ anzuwenden. Sie beinhaltet "Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen auf die Mitgliedsstaaten. Die Belastungen beziehen sich wiederum auf „die Aufnahme dieser Personen und die Folgen, die mit dieser Aufnahme verbunden sind“.

Doch die Realität sei, „dass das Ausmaß dieser Herausforderung nicht abzusehen ist“. Kein Land sei darauf vorbereitet, in dieser Größenordnung Menschen aufzunehmen und zu versorgen, sagt Beirens. Schließlich sei die Richtlinie noch nie zuvor aktiviert worden und werfe in der Implementierung auf nationaler Ebene eine Reihe von Fragen auf. Von Zuständigkeiten bis zu Kostenübernahme.

Vom Notfallplan zur Strategie

Beirens appelliert an nationale Behörden, einen ersten Krisennotfallplan mit der Ausarbeitung einer konkreten Strategie zu verbinden. Denn derzeit werde die meiste Energie noch dafür verwendet, Unterkünfte für die Geflüchteten zu sichern – „ein Dach über dem Kopf, einen Ort, an dem die Menschen sicher sind und bleiben können“.

Das sei „natürlich extrem wichtig“, mittel- und längerfristig gesehen brauche es jedoch Unterstützung bei der Integration der Menschen in den Arbeitsmarkt und Ausbildungssysteme. Leiter von Bildungseinrichtungen, Arbeitgeberverbände, öffentliche Arbeitsagenturen, sie alle müssten an einem Tisch versammelt werden, um über die Integration der Flüchtlinge zu beraten.

Menschen in einer Flüchtlingsunterkunft in Medyka, Polen.
AP/Petros Giannakouris
Eine Flüchtlingsunterkunft in Medyka, Polen. Rund 1,8 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind bereits in das Nachbarland geflüchtet

Psychosozialen Zustand der Kriegsflüchtlinge beachten

Als Positivbeispiel in Sachen Integration nennt Neidhart Irland, wo ukrainische Lehrkräfte bei ihrer Registrierung ein schnelleres Registrierungsverfahren geboten bekommen, um danach sofort ukrainische Schülerinnen und Schüler unterrichten zu können. Beirens appelliert wiederum, sich ein Beispiel an Polen oder Deutschland zu nehmen – Länder, die bereits eine lange Tradition in der Beschäftigung von Ukrainern haben und von denen es nun zu lernen gelte.

Nicht vergessen dürfe man zudem, dass es sich bei den Menschen um Kriegsflüchtlinge handle und auch deren „psychosozialer Zustand“ beachtet werden müsse. „Es sind viele Frauen mit Kindern. Sie sind besorgt darüber, was mit ihren Vätern und Ehemännern an der Front passiert. (Es sind Flüchtlinge, Anm.), die gerade erst den Kriegsschauplatz verlassen haben und nicht wissen, was mit ihren zurückgelassenen Familien und Häusern passiert.“

Feuerwehrmänner löschen Feuer
AP/Vadim Ghirda
Auch das Trauma, das die Kriegsflüchtlinge erlebt haben, dürfe bei der Ausarbeitung von Maßnahmen nicht vergessen werden

EU-Koordinator für Flüchtlingskrise?

Um die Krise gut zu managen, sei neben einer schnellen Mobilisierung verschiedenster Ressourcen vor allem eine gut funktionierende gesamteuropäische Koordination entscheidend, sind sich Fachleute einig. So wird auch der Ruf nach einem europäischen Koordinator immer lauter – zuletzt etwa vom österreichischen Migrationsforscher Gerald Knaus. Neidhardt wiederum sieht das als Aufgabe der EU-Kommission und verweist hierbei etwa auf die geplante Solidaritätsplattform, in der Mitgliedsstaaten Informationen über ihre Aufnahmekapazitäten austauschen können.

Migrationsforscher Knaus: „Müssen uns auf Geflüchtete vorbereiten“

Mit einem dramatischen Weckruf wendet sich Migrationsforscher Gerald Knaus an die Regierungen in Europa. Jetzt gelte es, sich auf bis zu zehn Millionen Flüchtlinge vorzubereiten.

Genaue Kalkulationen würden sich derzeit allerdings ohnehin schwierig gestalten, da sowohl unklar sei, wie viele Flüchtlinge noch kommen, als auch, wie lange sie bleiben und wohin sie gehen werden. „Wir befinden uns erst in der Anfangsphase der Krise. Wir müssen abwarten, was in den kommenden Wochen geschieht“, so Neidhart. Beirens meint dazu: „Wir gehen davon aus, dass die Ukrainer in erster Linie in die Länder gehen werden, in denen es bereits eine ukrainische Diaspora gibt – also Polen, Deutschland, die Tschechische Republik, Portugal, Italien und Spanien.“

Unterdessen stehe die Frage der Verteilung, wie sie in der Vergangenheit so oft die EU-Migrationspolitik dominierte, momentan aber noch nicht zur Debatte, meint Beirens. „In einer Situation, in der man nicht weiß, wie viele kommen werden, eine Diskussion darüber zu beginnen, ist nicht sinnvoll und kontraproduktiv.“ Derzeit können sich ukrainische Flüchtlinge frei in der gesamten EU bewegen.

Freiwillige teilt Essen für Flüchtlinge aus
AP/Sergei Grits
Die Hilfe von Freiwilligen, hier in Rumänien, sei überwältigend, so Fachleute. Auf lange Sicht gesehen reiche das aber nicht aus.

Hilfe aus der Bevölkerung kann nur temporär sein

„Mit all dem verbunden ist natürlich die große Herausforderung, wie die lokale Öffentlichkeit und die Gemeinden reagieren werden“, gibt Beirens zu bedenken. Derzeit sehe sie „einen Schwall an Unterstützung und Hilfsbereitschaft“. Menschen würden ihre Türen öffnen und Geflüchteten in privaten Wohnräumen Unterschlupf gewähren. „Es ist wichtig, die enorme Großzügigkeit und den guten Willen, die wir hier erleben, anzuerkennen.“

Gleichzeitig wisse man: „Solidarität ist nicht unendlich.“ Was die Zivilbevölkerung derzeit leiste, brauche viel Kraft und Energie. Und irgendwann sei diese Energie aufgebraucht. In spätestens ein bis zwei Monaten müssten konkrete Lösungsvorschläge auf dem Tisch liegen, so Beirens.

Flüchtlingsankünfte seit dem 24. Februar 2022, Stand 18. März

Mehr Unterstützung durch Institutionen gefordert

Neidhardt sagt dazu: „Es sind ganz normale Bürgerinnen und Bürger, die Hilfe und Unterstützung leisten. Sie haben einen Job, eine Familie. Was wir brauchen, ist mehr Unterstützung durch institutionelle Akteure.“ Doch auch diese scheinen chronisch an fehlenden personellen und finanziellen Ressourcen zu leiden. In Polen beispielsweise sei das Budget für den Grenzzaun (350 Millionen Euro) zehnmal so hoch wie jenes, das der offiziellen Migrationsagentur zustehe, erzählt Neidhart.

Nicht zuletzt gelte es, bei den geplanten Maßnahmen auch die Interessen und Bedürfnisse jener Gemeinschaften zu berücksichtigen, in welche man die ukrainischen Geflüchteten integrieren will: „Man sollte keine Maßnahmen ergreifen, die eine Gruppe übermäßig begünstigen. Denn das kann zu Rivalität, aber auch zu Rückschlägen in der Gemeinschaft führen“, meint Beirens, die hier etwa den Zugang zu günstigen Gemeindebauwohnungen nennt. Es sei essenziell, aus den bisherigen Erfahrungen vergangener Flüchtlingskrisen zu lernen.

Ukrainische Flüchtlinge am Hauptbahnhof in Wien.
APA/Tobias Steinmaurer
Es sind hauptsächlich Frauen und Kinder, die in der EU ankommen

Vergleich mit 2015: Kritik an Rassismus

Was den Vergleich mit vergangenen Flüchtlingskrisen betrifft, taucht immer wieder auch die Debatte über die unterschiedliche Behandlung Geflüchteter auf. Polen beispielsweise rief Ende 2021 wegen einiger tausend Geflüchteter an der Grenze zu Belarus den Ausnahmezustand aus. Nun nahm das Land in den vergangenen drei Wochen rund 1,9 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Auch die EU selbst habe 2015 ganz anders auf die Geflüchteten reagiert als jetzt, wo es sich um Flüchtlinge mit „blonden Haaren und blauen Augen“ handle, so der Vorwurf.

Beirens erklärt den Unterschied mit der besonderen geopolitischen und geografischen Situation, die derzeit vorherrsche. Bis vor Kurzem seien Migranten von Drittstaaten oftmals als „politische Waffe“ gegen die EU instrumentalisiert worden. Nun handle es sich um einen Krieg auf europäischem Boden, direkt an der Grenze zu vielen osteuropäischen Ländern: „Wenn man sich ihre Geschichte, ihre geografische Nähe zum Konflikt und die Geschichte ihrer eigenen Unterdrückung durch Russland ansieht, erklärt sich die Solidarität“, meint Beirens.

„Und ja, es ist kein öffentliches Geheimnis, dass Polen und Ungarn in der Vergangenheit erklärt haben, dass sie nicht bereit sind, Bevölkerungsgruppen aufzunehmen, die sie als Bedrohung für ihr kulturelles Erbe, ihre Werte und Normen ansehen“, meint die Migrationsexpertin. Neidhardt kritisiert hier Doppelmoral, die unterschiedliche Behandlung von Geflüchteten sei auf Rassismus und Islamophobie zurückzuführen und daher nicht zu rechtfertigen: „Wenn Europa seinen Werten der Freiheit, der Solidarität, der Menschenrechte und der Nichtdiskriminierung gerecht werden will, dann muss es in Zukunft Asylbewerbern auch aus anderen Regionen Sicherheit und Schutz bieten – ohne Ausnahmen.“

Menschen aus der Ukraine stehen in einer Schlange vor dem Hauptbahnhof in Berlin.
Reuters/Hannibal Hanschke
Eine Zeit der Ungewissheit – nicht nur für die Vertriebenen, sondern auch für die Bevölkerung der EU-Staaten

Bürgerinnen und Bürger auf „schwierige Zeit“ vorbereiten

In der jetzigen Situation ist Beirens zufolge klar: „Es wird einige Zeit dauern, bis die richtigen Dienste mobilisiert, das richtige Personal eingestellt und die richtige Art von Betreuung für diese Menschen bereitgestellt werden kann.“ Man müsse sich bewusst sein: Kein Land und keine Behörde sei entsprechend vorbereitet und könne eine Lösung finden, die ohne Fehler auskomme. Weder in den nächsten Wochen noch in den nächsten Monaten, vielleicht sogar nicht einmal in diesem Jahr. „Daher ist es für die Regierungen fast ebenso wichtig, ihre Bürgerinnen und Bürger auf eine schwierige Zeit vorzubereiten.“

Es werde eine ganze Zeit der Ungewissheit und des Ausprobierens von Dingen geben, von denen einige erfolgreich sein, andere scheitern würden. Hier dürfe man nicht zu schnell zu dem Schluss kommen, dass alles zum Scheitern verurteilt sei und die Regierungen dieser Krise nicht gewachsen seien, so Beirens. „Es wird also wichtig sein, diese Zeit des Ausprobierens durchzustehen, aber eine positive Einstellung zu bewahren.“