Putin mit seinem Militärstuff
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Russlandexperte Kotkin

Großmachtdenken als russisches Dilemma

Die kriegerische Ukraine-Politik von Russlands Staatschef Wladimir Putin wird von Experten auch als Versäumnis des Westens im Umgang mit Russland in den Jahren nach 1991 gesehen. Dem widerspricht einer der profundesten Russland-Kenner, der US-Historiker und Stalin-Biograf Stephen Kotkin. Russland habe historisch immer schon das Problem gehabt, einen Großmachtanspruch zu stellen, ohne ihn, mit Ausnahmen, erfüllen zu können, so Kotkin in einem langen Analyseinterview mit dem „New Yorker“.

Kotkin gilt in den USA als einer der profundesten Kenner und Analysten der russischen Geschichte. Der dritte Teil seiner noch nicht vollendeten Stalin-Biografie wird sich mit dem totalitären Erbe der Stalin-Zeit bis hinein in die Post-Sowjet-Zeit beschäftigen. Ohnedies hat Kotkin dem Übergang von der Sowjetunion zur Russischen Föderation und den Nachfolgestaaten zwei Werke gewidmet, die sich genau mit der Rolle der Sowjet-Eliten in der Umbruchphase beschäftigt. In einem nun veröffentlichen Interview mit dem „New Yorker“ geht Kotkin im Zustand der Mindset-Analyse des gegenwärtigen politischen Russlands aber weiter zurück in die Geschichte.

Kotkin widerspricht in seinen Statements gegenüber dem „New Yorker“ stark den Positionen seiner Kollegen George Kennan und auch dem Doyen für internationale Beziehungen, John Mearsheimer. Beide hatten für die momentane Ukraine-Krise auch die NATO-Osterweiterung bzw. die Rolle der USA im Umgang mit Russland der letzten beiden Jahrzehnte als einen treibenden Faktor hinter der aktuellen Krise benannt. Die Behauptung, hätte sich die NATO mit ihrer Osterweiterung anders verhalten, hätte Russland auch anders reagiert, entbehre für ihn einer historischen Grundlage.

„Ein Russland, das wir genau kennen“

„Das Russland, das wir heute sehen, ist das Russland, das es immer schon gegeben hat“, so Kotkin. Es gäbe ein historisches Muster für die Positionierung Russlands im Verbund mit den anderen Großmächten, und diese Positionierung sei durch die Geschichte immer schon von einem Großmachtanspruch getragen worden, den man aber schon im 19. Jahrhundert etwa nicht habe erfüllen können. „Was wir heute in Russland haben, ist ja keine Überraschung. Es sind historische Muster, die wir immer schon kennen“, so Kotkin: „Russland hatte einen Autokraten, es hatte Militarismus. Und es hatte ein tiefsitzendes Misstrauen gegen Fremde und vor allem gegen den Westen“, so Kotkin mit Verweis auf die russische Kultur des 19. Jahrhunderts.

Historiker Kotkin
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Historiker Kotkin: „Sehen ein Russland, das wir ganz genau kennen.“

Wären die baltischen Staaten nicht in der NATO, würden sie sich im selben Überlebenskampf finden wie die Ukraine, ist sich Kotkin sicher. 2016 hatte Kotkin einen Artikel in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ geschrieben, der die russischen Großmachtambitionen über ein halbes Jahrtausend in den Blick nimmt. Es habe Ausnahmemomente gegeben in der russischen Geschichte, als Peter der Große auf den Thron gekommen sei, Zar Alexander I. Napoleon besiegt habe oder Stalin Hitler – „doch sonst ist Russland eigentlich eine stets schwache Großmacht geblieben“.

Russland mit all seinen großen Leistungen auf den Gebieten der Kunst und Kultur habe immer eine Ostorientierung gehabt. Im Verbund mit der eigenen orthodoxen Tradition habe es stets das Gefühl einer besonderen Mission vor sich her getragen, so Kotkin. Doch alle Ansprüche, die man an sich gestellt habe, habe man realpolitisch nie umsetzen können.

Schwierige Verbindung von Staat und Führungsfigur

Als eines der größten Probleme Russlands sieht Kotkin die Verbindung von Staat mit einer Machtfigur. Nie habe es unterhalb eines Autokraten eine selbstständige Entwicklung staatlicher Strukturen gegeben. „Russland wollte eigentlich ein immer komplett personalisiertes Regime“, so Kotkin. Das aufrechtzuerhalten, sei in einer Welt permanenter Modernisierung, Urbanisierung und Bildungsschübe, zunehmend schwierig geworden. Putin greife auf alte russische Machtmechanismen zurück, so kann man Kotkins Analyse lesen – zugleich steht er in gewisser Weise aber auch wie ein Modernitätsverlierer da. Zudem habe Putin das Problem, das jedes autoritäre Regime habe: Man fühle sich smarter und überlegen, höre aber nur auf die Leute, die einem das erzählten, was man eben hören wolle.

„Das ist das Problem des Autoritarismus, dass er auf der einen Seite so mächtig ist, auf der anderen aber so spröde“, so Kotkin. So habe Putin auch gegenüber der Ukraine das erwartet, was er selber dachte: Dass die Ukrainer kein Volk seien und dass man die Russen mit offenen Armen empfangen werde, um von einer fremdbestimmten politischen Elite befreit zu werden.

Einmarsch in die CSSR,.20./21. August 1968 (Truppen des Warschauer Pakts besetzen die CSSR; passiver Widerstand der Bevölkerung) .“Wir werden uns niemals unterjochen” (tschechisches Protestplakat gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes). – 19600101_PD32249 – Rechteinfo: Rights Managed (RM)
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„Wir werden uns niemals unterjochen“ – Protestplakat in der CSSR gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968

Erinnerungen an den Prager Frühling

Kotkin erinnert in diesem Zusammenhang an den Prager Frühling, als Leonid Breschnew seinen Duzfreund Alexander Dubcek gewarnt habe, das Experiment des Kommunismus mit menschlichem Antlitz zu stoppen. „Er sagte zu Dubcek: ‚Stopp das‘ oder wir kommen mit den Panzern rein, und tatsächlich kam man mit den Panzern des Warschauer Paktes, nahm Dubcek und die damalige Führung der CSSR mit nach Moskau, um sie dann zu fragen: ‚So, und was machen wir jetzt?‘“, so Kotkin. Da man keine Marionettenregierung zur Hand gehabt habe, habe man Dubcek wieder nach Prag zurückgeschickt und vorerst im Amt gelassen (die Reformen des Prager Frühlings waren aber obsolet geworden, in der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei setzten radikale Säuberungen ein, Anm. GH).

Putin habe mit der Ukraine einige Überraschungen erlebt, meint Kotkin. Zunächst, dass der Westen doch nicht so dekadent und gelähmt sei, wie er immer dachte. Und dann sei da noch der Faktor der Reaktion der Ukraine unter ihrem Präsidenten Wolodymyr Selenski. Der rasch für sich entschiedene Krieg in den sozialen Netzwerken habe auch den Westen zu einer sehr schnellen und eindeutigen Haltung gezwungen.

Wenn man momentan sagen könne, dass die Ukraine den Krieg auf Twitter und in den sozialen Netzwerken gewinne, so bleibe für ihn festzustellen, dass die Ukraine, diesen Krieg nicht auf dem Boden gewinnen könne. Russland komme im Süden und Osten gut voran – Kiew habe man nicht einnehmen können; doch der Krieg, so Kotkin, habe erst wenige Wochen gedauert. Jetzt stehe man vor einer Phase, wo Nachschub das große Thema sei – und damit sei auch eine leichte Pause im Kampfgeschehen zu erwarten.