Vladimir Putin und Wolodymyr Selenski
AP/Sputnik/Alexei Nikolsk; AP/Ukrainian Presidential Press Office (Montage)
Ukraine-Krieg

Selenski und Putin im Rededuell

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski und der russische Präsident Wladimir Putin haben sich am Mittwoch ein regelrechtes Rededuell geliefert. Während Selenski die USA im US-Kongress um Hilfe bat und an den japanischen Angriff auf Pearl Harbor 1941 erinnerte, stimmte Putin die russische Bevölkerung ob eines „wirtschaftlichen Blitzkrieges“ des Westens auf schwierige Zeiten ein. Die Verhandlungen über ein Kriegsende werden indes konkreter.

Selenski, der seit Kriegsbeginn täglich mit zahlreichen Regierungschefs aus dem Ausland intensiven Kontakt pflegt, richtete sich mit einem dringlichen Appell an die beiden Kammern des US-Kongresses. Es müsse jede Woche neue Sanktionen gegen Russland geben, während die Ukraine dringend mehr Waffen und eine Flugverbotszone brauche, sagte er per Videolink aus Kiew vor US-Senatoren und Abgeordneten des Repräsentantenhauses in Washington. „Jetzt, in der dunkelsten Stunde für unser Land und für ganz Europa, fordere ich Sie auf, mehr zu tun“, sagte er.

„Russland hat den ukrainischen Himmel zur Quelle des Todes für Tausende Menschen gemacht“, so Selenski. Die russischen Streitkräfte hätten bereits etwa 1.000 Raketen auf die Ukraine abgefeuert und „zahllose Bomben“, sagte er. Eine „humanitäre Flugverbotszone“ sei notwendig, damit Russland die ukrainischen Städte nicht mehr „terrorisieren“ könne. „Das ist ein Terror, wie ihn Europa seit 80 Jahren nicht mehr erlebt hat“, sagte er.

„Erinnern Sie sich an Pearl Harbor“

„Das ukrainische Volk verteidigt nicht nur die Ukraine, es kämpft für die Werte Europas und der Welt“, fügte er hinzu. Mit ihrer Hilfe unterstützten Amerikaner nicht nur die Ukraine, „sondern Europa und die Welt“. An die Adresse von US-Präsident Joe Biden sagte Selenski: „Ich wünsche Ihnen, der Anführer der Welt zu sein. Der Anführer der Welt zu sein bedeutet, der Anführer des Friedens zu sein.“

Wolodymyr Selenski vor dem US Kongress
AP/J. Scott Applewhite
Stehender Applaus für Selenski im US-Kongress

Die Abgeordneten und Senatoren reagierten mit stehendem Applaus auf Selenskis Rede. Eine Rede vor beiden Kammern des US-Kongresses zu halten gilt als besondere – und seltene – Ehre. SelenskI erinnerte die Amerikaner bei seinem Hilfsappell auch an ihren eigenen Kampf gegen Angreifer. „Erinnern Sie sich an Pearl Harbor“, sagte er mit Blick auf den japanischen Angriff 1941. „Erinnern Sie sich an den 11. September“, fügte er mit Blick auf die Terroranschläge von New York und Washington hinzu. „Wir brauchen Sie jetzt.“

Hoffnungsloser Ruf nach Flugverbotszone

Eine Flugverbotszone würde es der russischen Luftwaffe erschweren, Ziele in der Ukraine anzugreifen. Die Durchsetzung einer Flugverbotszone durch die USA oder das Verteidigungsbündnis NATO gilt derzeit allerdings als ausgeschlossen. Biden und andere haben wiederholt gewarnt, dass eine solche Maßnahme zu einer direkten Konfrontation zwischen NATO-Kräften und dem russischen Militär führen könnte, was eine Eskalation des Krieges nach sich ziehen könnte. Aus diesem Grund hatte Biden auch die von Polen vorgeschlagene Übergabe von Kampfflugzeugen vom Typ MiG-29 an die Ukraine abgelehnt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hat die USA bei seinem Hilfsappell vor dem US-Kongress an ihren eigenen Kampf gegen Angreifer erinnert. „Erinnern Sie sich an Pearl Harbor“, sagte er mit Blick auf den japanischen Angriff 1941. „Erinnern Sie sich an den 11. September“, fügte er mit Blick auf die Terroranschläge von New York und Washington hinzu. „Wir brauchen Sie jetzt.“

Biden kündigt weitere Mittel für Ukraine an

Mehr Erfolg haben aber Selenskis Appelle nach weiteren Waffenlieferungen: US-Präsident Biden dankte Selenski wenig später für seine Rede und kündigte auch weitere Hilfen für die Ukraine an. Dazu gehörten Drohnen sowie 800 Luftabwehrsysteme. Insgesamt belaufe sich die in dieser Woche angekündigte Hilfe der USA für die Ukraine auf eine Milliarde Dollar. Die Aktien des Drohnenherstellers AeroVironment verbuchten nach der Ankündigung an der Wall Street mit einem Plus von gut elf Prozent einen der größten Kurssprünge der Firmengeschichte.

Selenski bat in seiner Rede auch explizit um das S-300 Flugabwehrsystem russischer Bauart. Der NATO-Staat Slowakei verfügt noch über solche Systeme. Die deutsche Bundeswehr begann am Mittwoch mit der Verlegung des Flugabwehrraketensystems Patriot US-amerikanischer Bauart in die Slowakei. Das könnte als Ersatz dienen, falls die Slowakei ihre S-300 Systeme an die Ukraine abgeben sollte.

USA warnt Russland vor Einsatz von Biowaffen

Die US-Regierung warnte Russland unterdessen vor dem Einsatz chemischer oder biologischer Waffen in der Ukraine. Das würde für Moskau „Folgen“ haben, warnte Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan in einem Gespräch mit Russlands Sicherheitsratschef Nikolai Patruschew. Das Weiße Haus erklärte, Sullivan habe deutlich gemacht, dass die USA die Ukraine weiterhin unterstützen würden, zu weiteren Strafmaßnahmen gegen Russland bereit seien und auch die Verteidigung der osteuropäischen NATO-Staaten weiter stärken würden.

Putin wirft Westen wirtschaftlichen „Blitzkrieg“ vor

Dagegen erhob Putin seinerseits schwere Vorwürfe gegen den Westen. Westliche Staaten würden einen „wirtschaftlichen Blitzkrieg“ gegen Russland führen, sagte er in einer Rede. Dieser Krieg werde aber nicht erfolgreich sein, so Putin, der zugleich beteuerte, dass der Ukraine-Krieg „nach Plan“ verlaufe.

Putin signalisierte Gesprächsbereitschaft über einen möglichen neutralen Status der Ukraine und betonte, dass Russland das Nachbarland nicht besetzen wolle. „Die Anwesenheit russischer Kräfte in der Nähe Kiews und anderer Städte in der Ukraine hat nichts damit zu tun, dass wir das Land besetzen wollen. Dieses Ziel haben wir nicht“, sagte der Kreml-Chef in der im Staatsfernsehen übertragenen Rede vor Regierungsmitgliedern. Doch wolle man nicht zulassen, dass die Ukraine „das Sprungbrett für aggressive Handlungen gegenüber Russland“ werde.

Vladimir Putin
AP/Sputnik/Mikhail Klimentyev
Der russische Präsident gibt sich zuversichtlich

„Es wird nicht leicht für uns“

Der Westen würde die Ukraine zu einer Fortsetzung des Blutvergießens drängen, und zwar durch Waffenlieferungen, Informationen und Söldner. Zugleich verteidigte der Kreml-Chef den Militäreinsatz im Nachbarland: „Alle diplomatischen Möglichkeiten waren ausgeschöpft.“ Und er verbreitete auch neuerlich die Mär, wonach sein Land nur einem ukrainischen Angriff zuvorgekommen sei. „Die Ukraine hat mit Unterstützung westlicher Mächte eine Aggression gegen Russland geplant“, so Putin. In absehbarer Zeit hätte das Land auch Atomwaffen haben können.

Der russische Präsident sprach erstmals offen über die verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen der westlichen Sanktionen gegen sein Land. Die EU und die USA hätten Russland praktisch für zahlungsunfähig erklärt, so Putin. „Es wird nicht leicht für uns in Russland.“ Es werde steigende Arbeitslosenzahlen und steigende Inflation geben, doch man werde diese Probleme angehen, versprach der Präsident. Die „neue Realität“ werde tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen.

Putin bemüht erneut NS-Vergleiche

Die meisten Staaten würden die Sanktionen aber nicht unterstützen, und die globale Dominanz des Westens neige sich dem Ende zu, versicherte der 69-Jährige. Hinter dem „scheinheiligen Gerede“ des Westens würden geopolitische Gründe stecken. „Sie wollen einfach kein starkes und souveränes Russland.“ Der Westen wolle Russland „zerstückeln“ und „Unruhen“ hervorrufen. Damit werde er aber nicht erfolgreich sein. „Der Westen wird Russland mit seinen feindseligen Handlungen nur stärken“, sagte der frühere kommunistische Geheimdienstler, der neuerlich NS-Vergleiche bemühte. Die Handlungen des Westens ähnelten den antisemitischen Pogromen in Deutschland der 1930er Jahre.

An die Bürger westlicher Länder gerichtet sagte Putin: „Wenn man Sie jetzt mit Nachruck überzeugen will, dass ihre Schwierigkeiten das Ergebnis feindlicher Handlungen Russlands sind, dass aus ihrer Tasche der Kampf gegen eine erdachte russische Bedrohung bezahlt werden muss – dann ist das eine Lüge.“ Russland hatte das kleinere Nachbarland Ukraine am 24. Februar angegriffen.

Selenski-Berater kommentiert Vertragsentwurf

Unterdessen werden die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über ein Kriegsende offensichtlich konkreter. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak bestätigte die Existenz eines Entwurfs für eine Einigung mit Russland, dämpfte allerdings Erwartungen. Ein 15-Punkte-Plan, über den die „Financial Times“ berichtete, gebe nur die russischen Forderungen wieder, „mehr nicht“, schrieb Podoljak auf Telegram. Die ukrainische Seite habe ihre eigene Position.

Das Einzige, was er zurzeit als Diskussionsgrundlage bestätigen könne, seien eine Waffenruhe, ein Rückzug der russischen Truppen und Sicherheitsgarantien einer Reihe von Staaten, schrieb der Berater von Selenski. Dem Bericht der Londoner Zeitung zufolge wird über einen neutralen Status für die Ukraine verhandelt, sie soll eine eigene Armee behalten. Staaten wie die USA, Großbritannien und die Türkei sollen zusätzlich die ukrainische Sicherheit garantieren. Das fragliche Papier soll bereits einige Tage alt sein.

Zuvor hieß es, es würden Dokumente für mögliche direkte Gespräche zwischen Selenski und Putin ausgearbeitet, zitierte die russische Staatsagentur Ria Nowosti den ukrainischen Präsidentenberater Podoljak aus einem Interview mit dem US-Sender PBS. „Der einzige Weg, diesen Krieg zu beenden, sind direkte Gespräche der beiden Präsidenten. Daran arbeiten wir bei diesen Verhandlungen“, sagte Podoljak demnach. Derzeit würden diese Dokumente ausgearbeitet, welche die Staatschefs dann vereinbaren und unterzeichnen könnten. „Das könnte schon bald passieren.“ Selenski hatte wiederholt ein Treffen mit Putin angeboten, Moskau reagierte darauf aber stets äußerst zurückhaltend.