der Rote Platz in Moskau
AP/Alexander Zemlianichenko
Russland hinter Putin

Propaganda, Trauma und Konformismus

Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Lewada unterstützen zwei Drittel der Russinnen und Russen die aktuelle Politik von Präsident Wladimir Putin und die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine. Nur so darf laut russischer Militärzensur das genannt werden, was in der ganzen Welt als „Krieg“ bezeichnet wird. Doch diese schockierend wirkende Umfrage müsse erklärt und eingeordnet werden, um sie richtig zu verstehen, betont ihr Autor Lew Gudkow im ORF-Interview.

Der 75-jährige Soziologe war bis vor Kurzem langjähriger Leiter des einzigen vom Staat unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland, jetzt arbeitet er als wissenschaftlicher Leiter bei Lewada. Beim Gespräch in seinem Moskauer Büro in unmittelbarer Nähe des Kreml wählt er bedächtig seine Worte: „Die nackten Zahlen, nämlich dass zwei Drittel der Russen Putins Ukraine-Kurs unterstützen, der hier scheinheilig ‚Spezialoperation‘ genannt werden muss, während nur rund ein Viertel diesen vehement ablehnt, sagen für sich allein genommen wenig aus.“

Denn diese Haltung hänge vor allem von den Informationsquellen ab, die die Befragten benützen. Die Gegner des Krieges in der Ukraine würden sich in sozialen Netzwerken und unterschiedlichen, vor allem unabhängigen Nachrichtenquellen im Internet ein Bild von den Ereignissen machen. „Diese Menschen befinden sich in einem Zustand des Schocks, der Scham und der Depression“, sagt Gudkow.

Lew Gudkow
ORF
ORF-Korrespondentin Carola Schneider im Gespräch mit Lew Gudkow

Nur eine Informationsquelle

Ganz anders als jene zwei Drittel der Russen, die den „Militäreinsatz“ in der Ukraine nicht nur befürworten, sondern sogar Stolz auf ihr Land empfinden würden. „Es sind vor allem jene Bevölkerungsschichten, die ihre Informationen aus den staatlich kontrollierten Fernsehkanälen beziehen. Das sind vor allem ältere Menschen, vom Staat abhängige Berufsgruppen und die Bevölkerung der sozialen Peripherie, also in kleinen Städten und Dörfern der russischen Provinz“, sagt der Soziologe. Was sie im Staatsfernsehen zu hören bekommen, nennt Gudkow eine „aggressive Lügenpropaganda“, die seit Langem existiere und durch die jüngsten scharfen Zensurgesetze noch verstärkt werde.

Propaganda mit Tradition

Seit mehr als zehn Jahren manipuliere diese Propaganda die öffentliche Meinung in Russland. So werde die Maidan-Revolution in Kiew im Jahr 2014 als ein von den USA gesteuerter Staatsumsturz dargestellt, der Nazis und Faschisten in die ukrainische Regierung gespült habe, die die russischsprachige Bevölkerung im Osten und im Süden des Landes bedrohen würden. Russland seinerseits werde als Retter dargestellt, der sein Brudervolk vom Joch der Kiewer Nazi-Regierung befreie. Daher werde der russische Militäreinsatz gegen das Nachbarland von viele Russen als Kampf für die „richtige Sache“ angesehen, so Gudkow.

Der Begriff „Nazis“ wurde laut dem Soziologen von der russischen Propaganda nicht zufällig gewählt, denn kaum ein anderes historisches Ereignis hat das kollektive Gedächtnis so schmerzlich geprägt wie der opferreiche Kampf und Sieg der Sowjetunion gegen Hitler-Deutschland. „Die Propaganda in den staatlichen Fernsehkanälen verwendet die Sprache des Kampfes gegen den Faschismus aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. So wird jegliches Mitgefühl und jegliche Sympathie der russischen Gesellschaft für die Ukrainer zerstört“, meint er.

Propaganda zeigt Wirkung

In Russland gilt ein neues Gesetz, das Nachrichten über den Krieg streng zensiert. Es drohen hohe Haftstrafen. Die Kreml-Propaganda zeigt offenbar durchaus Wirkung.

Feindbild „Westen“

Doch nicht nur die angeblichen „Nazis“ in der Ukraine werden von der staatlich kontrollierten Medienpropaganda seit Jahren als Feindbild aufgebaut. Auch der Westen wird als feindselig, hinterhältig und als Gefahr für Russland dargestellt. Diese Manipulation der öffentlichen Meinung dauere schon so viele Jahre, dass das Feindbild „Westen“ im Hinblick auf den aktuellen Konflikt Russlands mit der NATO, den USA und Europa ganz automatisch abgerufen werden könne, sagt Gudkow. Das erkläre auch, warum viele Russen der Konflikt mit der Ukraine mit dem „gerechten“ Widerstand gegen den feindlichen Westen gleichsetzten – einem Westen, der die Großmacht Russland kleinhalten wolle, kränke und demütige.

Trauma und unerfüllte Wünsche

Doch warum verfängt diese auch von Putin persönlich immer wieder vorwurfsvoll erhobene Kritik am Westen in der russischen Bevölkerung? Trifft die Propaganda auf einen wunden Punkt in der russischen Gesellschaft? Der Soziologe bejaht: „Die Bevölkerung leidet noch immer am Trauma des Zerfalls der Sowjetunion und an einem kollektiven Minderwertigkeitskomplex eines Landes, das es nicht geschafft hat, demokratische Reformen durchzuführen.“

Den Russen sei schmerzlich bewusst, dass ihr Traum, in einem „normalen“ Land zu leben, unerfüllt geblieben ist. Wobei der Begriff „normales Land“ für die Russen nichts anders bedeute als ein Land mit demokratischen Regeln, sozialer Sicherheit und wirtschaftlichem Wohlstand – kurzum mit westlichem Lebensstandard.

„Die Russen träumen weder von China noch von einem anderen asiatischen Land, sondern von Europa oder den USA. Eine andere ideale Vorstellung einer erstrebenswerten gesellschaftlichen Ordnung gibt es im Bewusstsein der russischen Bevölkerung nicht“, betont Gudkow. Dieser bisher unerfüllte Wunsch und die damit verbundenen Komplexgefühle würden in eine stark antiwestliche Haltung umschlagen, die den idealen Boden für die Feindbilder der Staatspropaganda bilde.

„Stimmung könnte umschlagen“

Trotzdem, so schränkt der Soziologe ein, dürfe man die zwei Drittel Russen, die Putins derzeitigen Kurs unterstützen, nicht pauschal als Befürworter der Kämpfe gegen das Nachbarland bezeichnen. Zum einen erfahre das Publikum der Propagandasender nicht die Wahrheit über die Ereignisse. Zum anderen habe das repressive politische Regime in Russland aus vielen Bürgern längst Konformisten gemacht, die einfach keine Probleme mit dem Staat wollten und schon allein deswegen dessen Politik unterstützen.

Bereits in den nächsten Monaten könnte die Stimmung in der russischen Gesellschaft umschlagen, erwartet der Soziologe. Wenn die Kampfhandlungen in der Ukraine noch länger andauern und viele russische Soldaten umkommen würden, würden sogar die loyalsten Anhänger von Präsident Putin umdenken. Dazu kämen die Auswirkungen der Sanktionen des Westens, die in Russland zu einer Wirtschaftskatastrophe führen würden.

Lew Gudkow
ORF
Soziologe Gudkow im Interview

„Wenn Lebensmittel ausgehen, die Preise explodieren und die Arbeitslosigkeit steigt, werden die Menschen nach den Gründen dafür suchen und etwas dagegen unternehmen wollen. Doch dieser Denkprozess wird durch Zensur, Polizeigewalt, Strafen und Verhaftungen gebremst werden“, sagt Gudkow.

„Russland stehen leider dramatische Ereignisse bevor“

Schon heute drohen allen, die sich gegen die „Militäroperation“ in der Ukraine aussprechen oder auch nur zum Frieden aufrufen, laut den neuen Zensurgesetzen bis zu 15 Jahre Haft. Mehr als 14.000 Menschen wurden laut Angaben von Bürgerrechtlern in den vergangenen Wochen bei Protestaktionen festgenommen. Gefahr droht auch dann, wenn solche Friedensappelle nicht bei Demonstrationen geäußert werden, sondern lediglich in einem Posting in sozialen Netzwerken. Wer in den letzten Wochen auf Facebook Petitionen für Frieden unterzeichnet hat, bekommt nun Hausbesuch von der Polizei.

Zum Schluss des Gesprächs wagt Gudkow einen Blick in die Zukunft Russlands. Der Lebensstandard der Menschen werde aufgrund der internationalen Isolation drastisch sinken, und längerfristig würden soziale Unruhen drohen, befürchtet er. Gudkow schließt ein Szenario wie beim Zerfall der Sowjetunion 1991 nicht aus. Wann konkret es so weit sein werde und mit welchen Mitteln die Russen dann das politische System verändern wollten, sei nicht vorhersehbar. In einem nur ist sich Gudkow schon heute sicher: „Russland stehen leider dramatische Ereignisse bevor.“