Gelbe Mauer vom Schwarzenbergplatz
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Neutrale Ukraine?

Ein Balanceakt, den Österreich kennt

Eine neutrale Ukraine nach österreichischem oder schwedischem Vorbild hat die russische Seite als Verhandlungsoption zum Ukraine-Krieg angedeutet. Dass Moskau gerade auf Österreich verweist, liegt auch an jahrzehntelangen Erfahrungen der Signatarmacht UdSSR im Umgang mit Wien. Dass das Unterfangen einer Neutralität prekär ist, selbst für ein kleines Land, zeigt ein Blick auf die 1960er Jahre, als man aus Angst vor dem Atomangriff Ost sogar kurz überlegte, die Hauptstadt aus Wien abzuziehen.

Wenn der Zeithistoriker Oliver Rathkolb an dieser Stelle jüngst meinte, dass wir den „Kalten Krieg noch nicht verstanden haben“, dann lag in dieser Aussage wohl auch die Andeutung, dass wir vieles aus der Zeit des Kalten Krieges aus unserer kollektiven Erinnerung seit 1989 getilgt haben. Und eine jüngere Generation daran gar keine Erinnerung haben kann. Das betrifft auch den realpolitischen Umgang mit Österreichs Neutralitätsstatus zur Zeit des Kalten Krieges, als spätestens in den 1960er Jahren auch eine Nukleardrohung Moskaus, die eine atomare Auslöschung Wiens in der Auseinandersetzung mit dem Westen einschloss, auf dem Tisch lag.

Wenn nun wie von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Mittwoch angedeutet ein Neutralitätsmodell für die Ukraine nach dem Vorbild Österreichs oder Schweden „eine diskutierte Option“ sei, dann darf man nicht nur an die Unterschiede der schwedischen Blockfreiheit erinnern, sondern auch daran, dass Moskau als ehemalige Signatarmacht des Staatsvertrages deutliche Erfahrungen im Umgang mit einem neutralen, militärisch anfänglich fast gar nicht selbstständigen Staat hat.

Abschied von der „NATO-Fantasie“

Die Ukraine hat ja die Überlegungen Moskaus umgehend zurückgewiesen. Gleichzeitig vollzieht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski, wie etwa Thomas Avenarius am Donnerstag in der „Süddeutschen Zeitung“ schreibt, gerade die Wende, „sein Land auf den Abschied von der Fantasie einer NATO-Mitgliedschaft“ vorzubereiten. Selenksi tut das geschickt, wenn er sich etwa von überzeugten Pro-NATO-Politikern besuchen lässt – und zugleich im Hintergrund realpolitische Vorkehrungen treffen lässt. Welchen Status die Ukraine freilich zwischen NATO und Russland – und auf welchem Territorium – haben könnte, scheint in der momentanen Kriegssituation vollkommen offen.

Wehrschütz (ORF) über Situation an der Grenze

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz berichtet über die aktuelle Lage im Grenzgebiet zu Ungarn.

ORF-Kiew-Korrespondent Christian Wehrschütz erinnerte jedenfalls am Mittwoch in einer ersten Analyse zu den russischen Ventilationen daran, dass die Blockfreiheit der Ukraine in der Auseinandersetzung mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin auch nichts geholfen habe.

„Es ist interessant, dass dieses Modell einer Neutralität jetzt wieder hochkommt, aber es gibt von ukrainischer Seite auch gute Gründe zur Vorsicht. Als es in den Jahren 2013 und 2014 zu den Entwicklungen auf dem Maidan und dann zur Annexion der Krim und Quasi-Annexion der Ostukraine kam, hatte die Ukraine den Status einer Art von Blockfreiheit in der Verfassung stehen. Das hat das Land auch nicht davor bewahrt, von Russland angegriffen zu werden“, erinnerte Wehrschütz. Und, so Wehrschütz, als die Ukraine 1994 die Atomwaffen aus den Beständen der UdSSR an Russland zurückgegeben habe, habe es über das Budapester Memorandum Sicherheitsgarantien für die Ukraine gegeben.

Das Memorandum und ein Versprechen

Das Memorandum hatte das Ziel, dass die Verbreitung von Atomwaffen eingeschränkt werde – unterzeichnet wurde es von Russland, den USA und Großbritannien. Wörtlich heißt es in dem Memorandum: „Die Russische Föderation, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland und die Vereinigten Staaten von Amerika bekräftigen ihre Verpflichtung, sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit der Ukraine zu enthalten, und dass sie keine ihrer Waffen gegen die Ukraine einsetzen werden, es sei denn zur Selbstverteidigung.“

Bill Clinton und Boris Jelzin 1994 nach Unterzeichnung des Budapester Memorandums
David Brauchli/ AP / picturedesk.com
Boris Jelzin und Bill Clinton nach Unterzeichnung des Budapester Memorandums

Erfahrungen mit Pufferrolle im Kalten Krieg

Blickt man auf die Geschichte des kleinen, neutralen Österreichs als Puffer zwischen NATO und Warschauer Pakt gerade in der Zeit des nuklearen Aufrüstens, dann wird offenbar, wie sehr eine gelebte Neutralitätspolitik nicht zuletzt das Austarieren politischer Gegensätze bedingte. In Österreich bemühten sich beide Großkoalitionäre in der Phase zwischen 1956 und 1966 um ein aktives Zugehen auf Moskau und Washington, das sich aber immer wieder an entscheidenden Punkten spießte.

Österreichs vorsichtige Versuche einer EWG-Annäherung wurden nicht nur von Moskau skeptisch beurteilt: Befürchtet wurde eine Aushebelung des Artikels 4 des Staatsvertrages, des Anschlussverbots an Deutschland. Für Moskau kam hinzu, dass Österreich damit zu sehr in die Einflusssphäre des Westens kam. Noch der ÖVP-Alleinregierung unter Josef Klaus richtete man von russischer Seite unmissverständlich aus, dass eine Annäherung an die EWG eine „Penetration“ Deutschlands in den Donau-Raum bis an die Grenzen des Warschauer Paktes brächte.

Wie nah an Moskau? Wie nah an Washington?

Österreichische Charmeoffensiven gegenüber Moskau führten freilich auch nicht immer zu den gewünschten diplomatischen Effekten. Als Nikita Chruschtschow im Sommer 1960 für acht Tage in Österreich unterwegs war, kam es zu einigen nicht geplanten Entgleisungen des KPdSU-Generalsekretärs, etwa, als er beim Besuch des Konzentrationslagers Mauthausen den deutschen Kanzler Konrad Adenauer als „Reinkarnation Hitlers“ bezeichnete und auch über die USA herzog. Österreichs Kanzler Julius Raab habe damals, wie Historiker Manfried Rauchensteiner in seinem Band „Unter Beobachtung“ erinnert, auf die Nutzung einer „ausgiebigen Redefreiheit“ gegenüber Chruschtschow in der Abschlusspressekonferenz verweisen müssen, um die Wogen Richtung Westen zu glätten.

Chrustschow. besucht Mauthausen im Juli 1960
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Nikita Chruschtschow im Juli 1960 in Mauthausen und im Kalten Krieg der Worte: „Adenauer ist die Reinkarnation Hitlers“

In den USA, so erinnert Rauchensteiner, habe sich wiederum Anfang der 1960er Jahre die Erkenntnis durchgesetzt, dass man in der Tonart zu Österreich auf „freundlich“ umschalten sollte, um Österreich aus einer Dauerumarmung durch die Sowjets zu befreien. Eine Schwächung des prowestlichen Kurses Österreichs „würde einen schweren Rückschlag für die Vereinigten Staaten bedeuten“, hieß es damals in einem Statement des Nationalen Sicherheitsrates der USA.

Bei einer militärischen, also nuklearen Eskalation in Europa würde Österreich aber gerade als neutrales Land ohne jeden Beistand dastehen. Was Militärs in Österreich in der Gegenwart zu allen Antiaufrüstungshaltungen im linken wie grünen Lager in Erinnerung rufen, galt auch für die 1960er Jahre. Österreich hatte nicht zuletzt dank Hilfe der USA eine Form der militärischen Grundselbstverteidigung aufbauen können. Tatsächlich musste man sich aber vor allem auf eine aktive Außenpolitik verlassen, die bei Zeithistorikern heute unter dem Begriff der „stillen Diplomatie“ firmiert.

Aufrüstung beim Bundesheer

In Österreich hat der Krieg in der Ukraine Debatten über Neutralität und Sicherheit ausgelöst. Auch wenn sich alle Parlamentsparteien dazu bekennen, mehr Geld ins Bundesheer zu investieren, fehlt es dort an allen Ecken und Enden.

Ein Land, das flachgewalzt worden wäre

Im Falle der Eskalation eines Nuklearkrieges sah der Warschauer Pakt Anfang der 1960er Jahre nicht nur einen Durchmarsch durch Österreich Richtung Deutschland und Italien vor. In Erwägung gezogen worden sei auch, wie Rauchensteiner erinnert, die Zerstörung Wiens unter Verwendung zweier 500-Kilotonnen-Atombomben. In Österreich, so erinnert Rauchensteiner, habe man daraufhin eine Studie erstellen lassen, in der die Verlegung der Bundeshauptstadt nach Westen, möglich war sogar Bregenz, angedacht worden sei.

Eine Verlängerung des Wehrdienstes, ja eine Generalmobilmachung des Bundesheeres sollte Ende der 1960er Jahre mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR als Frage schlagend werden. Österreich kam mit dem Kurs stiller Diplomatie und Bemühungen der Deeskalation unter Außenminister Kurt Waldheim durch die Krise. Die Frage des jugoslawischen Staatschefs Josip Broz Tito, der Österreich für Durchmarschdrohungen der Sowjets eine Generalmobilmachung empfohlen hatte, auf dass sich das kommunistische, blockfreie Jugoslawien in eine Abwehrschlacht begeben könne, beantwortete Waldheim so: „Wir haben ausreichend Vorkehrungen getroffen, aber in einer realistischen Weise.“

Möglich, dass ein österreichischer Wirklichkeitssinn für ein Land mit über 40 Millionen Einwohnern, gerade nach einem verheerenden Überfall, nicht hinreicht.